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ABHANDLUNGEN
ERD- UND VÖLKERKUNDE.
NEUE FOLGE.
ABHANDLUNGEN
ERD- UND VÖLKERKUNDE
OSCAR PESCHEL.
HERAUSGEGEBEN
r VON
j!:' Löwenberg.
NEUE FOLGE.
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54G518 ■
LEIPZIG,
VERLAG VON DUNCKER & HUMBLOT
1878.
Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen, wie alle anderen Rechte vorbehalten.
^0.
Vorwort.
Die vor noch nicht voller Jahresfrist erschienenen „Ab-
handlungen zur Erd- und Völkerkunde von Oscar Peschel"
haben eine so günstige Kritik und Aufnahme gefunden, dass
es zweckmässig schien, eine Fortsetzung derselben in einem
zweiten Bande zu geben. Wir weichen daher von dem ur-
sprünglichen Plane zur Herausgabe der anderweitigen Abhand-
lungen Peschels etwas ab, und geben auch in diesem Bande
lediglich Abhandlungen erd- und völkerkundlichen In-
halts. Derselbe ist indess nichts desto weniger ein selbst-
ständiges Ganzes, wenn er sich auch seinem Vorgänger
nach Form und Inhalt vollkommen anschliesst. Die Gruppi-
rung des Einzelnen ist wie früher nach Zusammengehörigkeit
möglichst chronologisch geordnet, und mit Pietät jede sach-
liche Emendation von Nachträgen, Berichtigungen aus späterer
Zeit als nicht hergehörig fern geblieben , weil es auch hier
wesentlich darauf ankam , Alles nur so wiederzugeben , wie
Peschel es zu einer bestimmten Zeit niedergeschrieben hatte.
Daher ist auch bei jeder Abhandlung das Datum ihres Er-
scheinens sorgfältig angegeben.
Leipzig im April 1878.
J. Loew^enberg.
Inhalt.
Seite
I. Zur Geschichte der Geographie.
1. Ibn Batuta 3
2. Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben 18
3. Der arabische Geograph Ibn-Chordadbeh 43
4. Christian Lassen über die Geschichte des indischen Handels im Mit-
telalter 49
5. Friedrich Kunstmann über die frühesten directen Handelsverbindungen
der Deutschen mit Indien 60
6. Die früheren Christenverfolgungen in Japan 65
7. Die 57. Ausgabe des Marco Polo 75
8. Die mittelalterl. Handelsniederlassungen der Italiener in d. Levante 85
9. Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter 90
10. Reisen des Johannes Schiltberger 105
11. Pflege der Erdkunde in Italien III
12. Lebensbeschreibung und Würdigung Gerh. Mercators 119
13. Zur Geschichte der holländischen Colonien und überseeischen Ent-
deckungen 127
14. Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856 137
II. Zur mathematischen und physischen Geographie.
1. lieber die Pluralität der Welten 187
2. Was ist eine Sonne 203
3. Ueber die Gestalt der Erde 210
4. Ueber die Aufgaben der heutigen Erdmessungen 223
5. Zur Geschichte des Pflanzenreiches 234
6. Die Rolle der Gewürze im Welthandel und auf der Londoner Aus-
stellung 252
7. Die narcotischen und einige exotische Genussmittel im Welthandel
und auf der Londoner Ausstellung 261
8. Ueber die Veränderungen in der Ernährung der europäischen Völker
seit dem sechzehnten Jahrhundert 271
9. Ueber das gegenwärtige Wissen von den Erdbeben 281
10. Thäler und Seen in den Schweizer Alpen 293
1 1 . Die Naturgesetze der Verbreitung des Goldes auf der Erde . . . 305
12. Die Alpenreisen als geistiges Bildungsmittel 314
III. Zur Länder- und Völkerkunde.
1. Ueber den Mann im Monde 327
2. Ueber den Baum- und Schlangendienst 338
3. Die australischen Goldfelder 344
4. Der Werth Indiens für England 360
5. Süd und Nord in Deutschland 366
6. Wanderziele der Deutschen 375
7. Ferienreisen 418
1855. ^'"^ Rigifahrt. — Das Reussthal. — Ueber den Oberalp-
pass nach Graubünden. S. 418. — 1858, Ein Ausflug in die Salzburger
und Tiroler Alpen S. 430. — 1865. Eine Ferienreise nach dem
Mittelmeer: I. Von Lyon nach Nizza. — II. Die Riviera di Po-
nente. — III. Genua. — IV. Der Corner See. S. 449 — 1869.
Eine Ferienreise über den Apennin. S. 489.
Nachtrag 544
I.
Zur Geschichte der Geographie.
Pescliel, AbhandUuigen II.
1. Ibn Batuta.
(Ausland 1855. Nr. 19. 11. Mai.)
Wenige Dinge gewähren eine höhere geistige Erfrischung als
die Leetüre mittelalterlicher Reisebeschreibungen. In höherem
Grade noch als die reinhistorischen Quellen vermögen sie uns',, in
den Geist der Zeiten zu versetzen", denn das zeitlich Ferne wird
zur unmittelbaren Gegenwart. Wir verkehren mit Völkern und
mit Zuständen, die längst der Geschichte verfallen sind, aber alles
ist noch neu, alles ist noch voller Ansprüche, alles hofft noch auf
die Zukunft. Diese Zukunft ist den Menschen, mit denen wir
Bekanntschaft machen, verschleiert, uns aber ist sie bekannt.
Was damals Zukunft war, ist die letzte Vergangenheit eines hal-
ben Jahrtausends. Unser historisches Wissen gleicht daher einem
prophetischen Blick über Zeitdistanzen hinweg, die für uns be-
schränkten Geschöpfe einer Unendlichkeit gleichen. Auf diese
Art wird es uns vergönnt die Empfindungen göttlicher Vorsehung
zu ahnen. Wir schauen gegenwärtigen Dingen über die Schulter
hinweg, wir sehen sie beschäftigt ihrem Untergang zueilen , wäh-
rend rings herum das Gefühl herrscht, als wolle die Welt sich
niemals ändern.
Die arabische Ausgabe mit französischer Uebersetzung des
zweiten Bandes von Ibn Batuta ist eben erschienen ^), und wir
i) Voyages d'Ibn Bathouta, texte araue, accompagne d'une traduction par
C. Defremery et le Dr. B. R, Sanguinetti. Tome II. [Die Besprechung des
I. Bandes, Ausland 1853, war nicht von Peschel , dagegen besprach er ausser
dem II. auch den III. und IV. Band: Ausland 1856 Nr. 19, 1858 Nr. 46.
47 ; von der Aufnahme dieser Artikel konnte hier bei beschränktem Räume
um so mehr Abstand genommen werden, weil der obenstehehde Artikel schon
allein ein Gesammtbild von I. B. giebt. A. d. H.l
A Zur Geschichte der Geographie.
durchwandern darin mit dem Reisenden das jetzt so gewaltig
belebte Gebiet der „orientalischen Frage". Man hat Ibn Batuta
den arabischen Herodot und den Vater des geographischen Wis-
sens genannt. Man hatte grosses Unrecht. Er ward am Beginn
des 14. Jahrhunderts geboren, und ist daher nicht der Vater,
sondern einer der spät gebornen Enkel arabischer Geographen.
Er ist und bleibt aber nach Ritters Ausspruch der grösste Con-
tinentalreisende, den je ein Volk aufzuweisen gehabt hat. In Tanger
geboren, von Herkunft ein Berber, aber islamitisch erzogen, geht
er zuerst nach Aegypten bis zu den Katarakten hinauf. Dann
besucht er die heiligen Wallfahrtsorte in Syrien und Arabien.
Wir sehen ihn ferner im südlichen Persien, in Ormuz, von wo er
sich einschifft nach Zanguebar, der Ostküste Afrika's, die er bis
Quiloa besucht. Er kehrt darauf um, reist durch Kleinasien, durch
die Reiche des damals erwachenden osmanischen Staates, nach
Sinope und nach der Krim, die damals unter genuesischer Herr-
schaft die höchste Blüthe erreicht. Wir finden ihn dann in Süd-
russland am Hofe der Tataren-Chane des Kiptschak, wir begleiten
ihn nach Astrachan und nach der grossen Tatarenstadt Sarai,
die so völlig vom Erdboden verschwunden, dass sie nicht mehr
mit Sicherheit geographisch sich fixiren lässt. EndUch geht er in
Begleitung einer griechischen Prinzessin in die Stadt der Ungläu-
bigen, nach Konstantinopel. So weit reicht der zweite Band,
allein die Reisen des berühmten Arabers reichen viel weiter. Er
besucht die Bucharei, Indien, die Maldiven, Ceylon, Sumatra,
China.
Er kehrt zurück in sein afrikanisches Heimathland, von da
nach dem arabischen Spanien, und begleitet die Gesandtschaft
eines marokkanischen Königs bis nach Timbuktu, dem westafrika-
nischen Babylon, über dessen Breite und Länge die Europäer des
19. Jahrhunderts selbst nach Dr. Barths Vermessungen sich noch
immer streiten. Vielleicht staunt mancher Leser, dass im Beginn
des 14. Jahrhunderts Reisen von dieser Ausdehnung überhaupt
unternommen werden konnten , die mehr als das Doppelte von
dem betragen, was die FamiUe der Poli ein halbes Jahrhundert
früher unter grossen Gefahren zurückgelegt. Es war aber damals
für Lateiner viel schwieriger zu reisen, als für Bekenner des Islam,
Im 12. Jahrhundert sehen wir den spanischen Juden Benjamin
durch Aegypten, Syrien, Mesopotamien bis nach Persien vordringen.
Ibn Batuta. e
Diess war ihm nur möglich, weil die Judenschaft des Abendlandes
und des Morgenlandes in einem geheimen Verkehr stand. Ueber-
all wo er hinkommt, findet er befreundete Gemeinden, die ihn
aufnehmen und mit Reisegeldern ausstatten, und zwar an den
Grenzen von Tübet, in Samarkand so gut wie in Palermo, und
in den Judenstädten am Rhein, in Coblenz, x\ndernach, Kaub,
Kreuznach, Bingen, Germersheim, wo überall Synagogen standen.
Was ein Jude im 12. Jahrhundert leistete, musste einem Araber
im 14. Jahrhundert viel leichter werden.
Die Pilger fanden an allen morgenländischen Höfen gastliche
Aufnahme, und sie wurden mit den reichsten Geschenken ent-
lassen ; es bestanden sogar zu ihrer Aufnahme Institute und milde
Stiftungen. Von Aegypten aus erhielt Ibn Batuta nach den grössten
indischen Städten Empfehlungsbriefe. Der Islam aber reichte da-
mals noch über Indien hinaus. In den chinesischen Küstenplätzen
gab es arabische Quartiere mit Tausenden von Einwohnern, die
ihren eigenen Gemeindeverband besassen. Ibn Batuta traf in
China einen Jugendfreund aus Ceuta, der am Hofe von Delhi ein
hohes Amt bekleidet und in China später ein grosses Vermögen
sich erworben hatte. Dem Bruder dieses Freundes begegnete er
später im Innern Afrika, und er selbst kann das Staunen nicht
unterdrücken. „Welche Entfernung", ruft er aus, „trennt nicht
diese Brüder!" Und Ibn Batuta wusste was Entfernung war, da-
mals, wo man zu Fuss oder im Sattel, selten zu Schiff, und auf
welchen Schiffen, reisen musste.
Es war in den dreissiger Jahren des 14. Jahrhunderts, als
Ibn Batuta Kleinasien der Kreuz und der Quere durchstrich.
Damals befanden sich jene Länder auch in einer ,,orientaUschen
Krisis", und gerade dieser Zustand ist es, der Ibn Batuta's Schil-
derungen einen populären Reiz für unsere Gegenwart giebt. Die
Herrschaft der Christen in Syrien war im Jahr 1291 vöUig er-
loschen. Die Kreuzzüge, auch ein Stück ,, orientalischer Frage",
waren geschlossen, die Handelscolonien der Mittelmeerstädte waren
verloren, der indische Handelsweg führte über Alexandria, und
Europa seufzte unter den Tarifen der ägyptischen Sultane, welche
ihr Monopol unbarmherzig ausbeuteten. Es gab damals nur drei
Seemächte im Mittelmeer; die genuesische, die venetianische und
die catalanische. Pisa's Macht hatte das erste Jahrhundert der
Kreuzzüge nicht überdauert, und der griechischen Marine wurde
(f Zur Geschichte der Geographie.
mehrmals von den Genuesen der Handel nach dem schwarzen
Meere untersagt.
Es hatte also jenes Jahrhundert begonnen, wo sich Venedig
und Genua um die Herrschaft der damaligen maritimen Welt
streiten sollten. Die Genueser waren augenblicklich im VortheiL
Sie hatten das lateinische Kaiserreich gestürzt, sie waren factisch
die Herren von Konstantinopel, und sie durften eine Zeit lang
das schwarze Meer den Venetianern schliessen. Richteten die
Genueser ihr Hauptaugenmerk auf Pera, Trapezunt und Kaffa auf
der Krim, so legten die Venetianer den höheren Werth auf ihre
alexandrinischen A'erbindungen. Die einen nährte der Pontus, die
andern der Nil. Inzwischen waren beide Seemächte bedacht sich
gegenseitig zu beschädigen und zu verkürzen, und das 14, Jahr-
hundert ist der Zeitraum, wo sich der Verfall des mächtigen Ge-
nua vorbereitete, welches sich zweier Feinde, der Venetianer und
der ihnen alliirten Catalanen, zugleich nicht erwehren konnte.
Um die nämliche Zeit als die letzte Festung der Lateiner in
Syrien verloren ging, war auch das grosse seldschukische Reich
in Trümmer gefallen. Im 13. Jahrhundert schien es, als bereite
dieser Verfall eine ungeheure Continentalherrschaft vor, und als wür-
den die Enkel Dschingis Chans von Peking bis nach Cairo ihre
Herrschaft ausdehnen. Die Macht des Mongolenreiches aber ward
schon am Ausgange des Jahrhunderts gebrochen, und sie war in
Kleinasien nicht mehr dem Einfluss einer andern orientalischen
Grossmacht gewachsen. Die Mamelukkensultane in Aegypten
waren offenbar die stärksten politischen Säulen des Islam, und
seitdem die Mongolenherrschaft aufgehört, schienen sie zur Erb-
schaft der Seldschukenherrscher von Ikonium berufen. Ibn Batuta
zählt einmal die Grossmächte seiner Zeit auf. Er nennt deren
sieben, nämlich als guter Unterthan zuerst den Sultan von Fez,
2) den Sultan von Aegypten und Syrien, 3) den Sultan der beiden
Irak, 4) den Sultan Usbek (Tataren - Chan von Kiptschak), 5) den
Sultan von Turkistan und Transoxanien, 6) den ,, Sultan von In-
dien" und y) den Kaiser von China. Was ist aus diesen Gross-
mächten geworden gegenüber dem damals durch seine Feudalver-
fassungen kraftlosen Europa? Und man bemerke wohl, dass Ibn
Batuta ganz schweigt von einer bereits gebornen [Macht, von der
jungen osmanischen Dynastie.
Wer ahnte damals, dass eine neue Grossmacht in den Win-
Ibn Batuta. n
dein lag, welche die seldschukische Erbschaft, das griechische
Reich, die Tataren von Kiptschak und das ägyptische Sultanat
verschlingen würde? Durch Ibn Batuta lernen wir die unzähligen
,, Sultane" kennen, die in jeder grössern Stadt zwischen dem
schwarzen Meer und dem persischen Meerbusen ihren Hofstaat
hielten. Die politische Karte von Kleinasien gUch damals der
Karte des deutschen Reiches im i6. Jahrhundert.
Hören wir jetzt unsern Reisenden.
Er kommt nach Brussa und findet dort eine grosse Stadt mit
geräumigem Marktplatze und breiten Strassen, umgeben von
Gärten und ernährt von lebendigem Gewässer, Er beschreibt uns
die warmen Quellen und die Bäder für Männer und Frauen, er
vergisst auch nicht, dass sich dort ein Kloster und eine Pilger-
herberge befindet, die von einem turkmanischen Fürsten gestiftet
worden, und wo man drei Tage frei verpflegt wird. Von dem
,, Sultan von Brussa", dem Sohne Osmans des Kleinen, von Ur-
chan Bech, erzählt er: „Dieser Sultan ist der mächtigste unter
den Türkenkönigen, der reichste an Schätzen, an Städten, an
Soldaten. Er besitzt mehr als hundert feste Burgen, die er der
Runde nach besucht, um sie zu beaufsichtigen und ausbessern zu
lassen. Man behauptet, er wohne nie länger als einen Monat in
einer Stadt. Er kämpft gegen die Ungläubigen und belagert sie.
Sein Vater hat den Griechen Brussa abgenommen, und das Grab
dieses Fürsten wird in der Moschee der Stadt, einer ehemaligen
christlichen Kirche, gezeigt. Man erzählt, dieser Fürst habe
zwanzig Jahre lang. Isnik (Nicäa) belagert und sei darüber gestor-
ben. Sein Sohn setzte die Belagerung noch zwölf Jahre fort und
bemeisterte sich endlich der Stadt. Dort war es auch, wo ich ihn
traf und er mich reichlich mit Geld beschenkte." Das Reisetage-
buch wendet sich nun andern Dingen zu, und Ibn Batuta ahnet
nicht, dass 120 und 190 Jahre später die Enkel dieser „Sultane
von Brussa" siegreich einziehen würden in die grössten Städte der
mittelalterlichen Welt, in Konstantinopel und in Cairo.
Der Reisende begiebt sich nach Sinope, welches damals dem
Sultan Soliman von Kastamunija gehörte. Die peninsular gele-
gene Stadt selbst war damals noch sehr volkreich, sie vereine
Stärke mit Schönheit, das Meer umspüle sie von allen Seiten, mit
Ausnahme gegen Osten. Ausserhalb der Stadt lag ein Berges-
vorsprung hart am Meer, der den Araber an den Hafen von
^ Zur Geschichte der Geographie.
Ceuta erinnert. Oben findet er Weingärten, Feldbau und Wasser-
reichthum. Die Anhöhe sei so steil, dass sie einen Angriff mit
Sturmleitern aushalten könnte. Oben fänden sich eilf Ortschaf-
ten ungläubiger Griechen, die unter muselmännischer Schutzherr-
schaft lebten. Ibn Batuta rühmt uns dann die marmorne Pracht
der Hauptmoschee, die von einem Fürsten der früheren Dynastie
erbaut ward, ehe sich Soliman auf den Thron schwang. Der
A^'orgänger dieses Fürsten hiess Ghazi Tschelebi, und wir erfahren
hier das Geheimniss der Existenz dieser kleinen Staaten. Sie
lebten nämlich von Seeräuberei, und zwar auf Kosten der Grie-
chen. ,, Tschelebi bestieg oft seine Kriegsschiffe, um die Griechen
zu bekämpfen. Wenn die beiden Flotten das Gefecht eröffnet,
sprang er ins Meer, tauchte unter und bohrte mit einem spitzigen
Eisen die feindlichen Schiffe an , die Kämpfenden merkten erst
ihre Gefahr, als das Schiff bereits sank." Soliman hatte seinen
Sohn Ibrahim als Emir nach Sinope gesetzt, und Ibn Batuta be-
hauptet von ihm, er sei ein Hadschischesser. Der Hadschisch,
der den Assassinen bekanntlich den Namen gegeben, scheint da-
mals in Kleinasien so verbreitet gewesen zu sein, als das Opium
im heutigen China. Ibn Batuta sah in Sinope auf den Stufen zur
grossen Pforte der Moschee öffentlich mehrere höhere Officiere
der Landestruppen sitzen, die sich von ihren Bedienten in Säcken
oder Schachteln ein Pulver reichen Hessen, das wie gelbes Henna
aussah, und welches sie mit Löffeln genossen. Er erfuhr dann,
dass es Hadschisch sei, jenes berauschende Mittel, welches in den
Erzählungen des ,, Alten vom Berge" eine so wichtige Rolle spielt,
Von Sinope schifft sich der Reisende auf einem griechischen
Schiff nach der Krim ein. Drei Tage bereits auf dem schwarzen
Meer wird das Fahrzeug durch einen Sturm in die Nähe von
Sinope zurückgeworfen, und erst nach einem zweiten Versuche
nähern sich die Reisenden Kertsch, wagen aber nicht einzulaufen,
sondern landen an dem Decht Kiptschak, an der Ebene von Kip-
tschak , von wo sie in drei Tagen Kaffa erreichen und in der
muselmännischen Moschee absteigen. Kaffa gehörte damals den
Genuesen, und alle seine Bewohner sind in den Augen unsers
Arabers Ketzer. Der fromme Reisende befahl seinen Begleitern
auf das Minaret zu steigen und den Ruf zum Gebet erschallen
zu lassen. Da stellte sich ihm ein Muselmann vor , der sich als
Kadi der gläubigen Gemeinde in Kaffa zu erkennen gab und sich
Ibn Batuta. n
sehr ängstlich über die Folgen von Ibn Batuta's Kühnheit äusserte.
Es geschah indessen nichts, und die Lateiner beunruhigten die
Araber nicht durch Intoleranz. Kaflfa besitze herrliche Marktplätze.
Der Hafen, den sie besuchten, sei wunderbar. Sie trafen etwa
200 Segel an, Kriegsschiffe und Kaufifahrer, grosse und kleine-
„Dieser Hafen, ruft der Araber aus, welcher drei Viertel der da-
mals bekannten Länder durchwandert, ist einer der berühmtesten
der Welt." Was ist aus Kaffa geworden, seit es die Türken 1475
zerstörten ? Und welcher Hafen hat den leeren Platz eingenommen ?
Ueber Solghat begiebt sich nun Ibn Batuta nach der Haupt-
stadt des Tatarenreiches von Kiptschak, nämlich nach Sarai im
Norden des kaspischen Meeres, durch das heutige Land der doni-
schen Kosaken. Er hat schon früher erwähnt, dass sich dort kein
Strauch und kein Baum findet, und dass die Einwohner nur den
Mist der Thiere als Brennstoff benutzen können. Ibn Batuta
durchreist die Wüste auf tatarische Art. Er verschafft sich näm-
lich eine Araba oder einen Karren, auf dem eine Art Pavillon
errichtet ist. In diesem Häuschen kann er lesen und schreiben.
Es ist mit Gitterfenstern geschlossen, durch die man wohl hinaus,
nicht aber von aussen herein sehen kann. Die Türken') beob-
achten bei ihren Reisen durch jene Ebenen die Methode der Pil-
ger im Hedschas. Sie brechen mit der Morgenröthe auf und la-
gern um neun Uhr, bis sie dann wieder von Nachmittag bis
Abend sich in Bewegung setzen. Sie spannen ihre Pferde aus
und lassen sie frei grasen, denn die Pferde werden nicht gefüttert,
sondern finden ihre Nahrung in dem Graswuchs der Steppe. Die
Lastthiere sind daher ausserordentlich zahlreich. Niemand hütet
sie, denn die Türken bestrafen den Dieb mit neunfachem Ersatz
des Gestohlenen, oder mit der Sklaverei, wenn er Ersatz nicht
leisten kann. Natürlich vergisst der Reisende nicht, uns mit dem
Nationalgetränk der Söhne Dschingis Chans, mit der gegohrnen
Stutenmilch, bekannt zu machen. Er hat sie gekostet, versichert
aber, dass sie ihm nicht gemundet habe. Die Reise geht weiter
über Azak (Azof), wo -die Genuesen und andere Lateiner damals
noch Comptoire besassen.
i) So nennt Ibn Batuta die mongolischen Tataren und mit Recht , denn
im Mittelalter verstand man unter Türken, was das Alterthum unter Skythen
und wir jetzt etwa unter Tataren verstehen, nämlich Nomadenvölker.
jo Zur Geschichte der Geographie.
Als Ibn Batuta die mongolischen Tataren besuchte, hatte sich
der Schrecken dieses Namens im westhchen Europa längst gemil-
dert. Die römische Kirche hatte ihre Missionäre bereits an die
ambulanten Höfe der Steppe gesendet, und es bestand damals
gerade noch ein römisches Erzbisthum in Peking. Später waren
die Mongolen die AUiirten lateinischer Fürsten gegen die Sultane
von Aegypten geworden, wie denn eine beständige politische Ge-
vatterschaft zwischen den christlichen armenischen Königen und
den kleinasiatischen Statthaltern der Mongolen im 13. Jahrhundert
gepflegt wurde. Die ,, Tataren des Kiptschak" oder Südrusslands,
deren letzten Trümmern die AUiirten in der Krim noch begegnen,
hatten zu Ibn Batuta's Zeit ihre alten Gewohnheiten noch mit
Treue bewahrt. Sie waren , Nomaden geblieben , sie hatten nur
aufgehört Eroberer zu sein. Ihren Hauptreichthum erwarben sie
durch Pferdezucht, und wir hören durch Ibn Batuta hier zum
ersten Male, dass die mongoHschen Pferdehändler oft in Kara-
wanen mit sechstausend Stücken bis nach Indien hineinwanderten,
wo sie in Multan und im Sind hohe Preise erzielten, denn Indien
hat nie Pferde gezogen, und der Pferdehandel nach Indien, den
schon Plinius kennt, dauert noch bis zum heutigen Tag, wie wir
aus Layards Schilderung des arabischen Pferdehandels wissen.
Ibn Batuta fügt hinzu, die meisten mongolischen Pferde seien in
Indien gestorben, weil sie, an die Steppennahrung gewöhnt, das
indische Körnerfutter nicht vertragen hätten.
Der Reisende erreicht nun eine der berühmtesten Tataren-
städte ,,an einem grossen Fluss" (Kuma), die er Madschar nennt,
(das Matriga des Rubruquis), und von der sich heute keine Spur
mehr findet. Dort überraschte ihn, den Araber und Zögling des
Koran, zuerst die hohe Stellung der Frauen innerhalb der tatari-
schen Familie. Er traf dort die Frau eines tatarischen „Emirs",
die unverschleiert neben ihrem Mann Platz nahm und von drei
Kammerjungfern begleitet wurde, welche ihr Kleid an Knöpfen
aufhoben, so dass die Frau mit diesen Schleppenträgerinnen majestä-
tisch einherschritt. Man findet ähnliches selbst bei den Frauen gerin-
ger Kaufleute. Auch sie hielten sich Schleppen trägerinnen und der
kostbarste Theil ihrer Kleidung bestand in einer kegelförmigen
Mütze, mit Edelsteinen besetzt und mit einem Busch Pfauenfedern
an der Spitze geziert. ,,Oft, setzt der Araber hinzu, wird die
Frau von ihrem Manne begleitet, den jedermann geneigt wäre für
ihren Bedienten anzusehen. Er trägt nämHch nur einen Schafpelz
und eine Mütze, die zu diesem Kleide passt."
Bei Bichdagh — oder den „fünf Bergen" — stösst Ibn
Batuta auf das kaiserliche Lager Mohammed Usbek Chans. Die
Horde hielt dort, weil es warme Quellen in der Umgegend gab.
,,Wir bekamen dort eine grosse Stadt zu Gesicht, die sich mit
ihren Bewohnern bewegt, die ihre Marktplätze und Moscheen hat,
und wo der Rauch der Küchen in die Luft wirbelt , denn die
Türken (Tataren) bereiten ihre Speise auf der Reise. Auf Wagen,
mit Pferden bespannt, rücken diese Völker von Ort zu Ort ; so-
bald sie den Lagerplatz erreicht, schlagen sie die Zelte auf, die
sich auf ihren Fahrzeugen befinden, und die sehr leicht sind.
Das gleiche geschieht mit ihren Moscheen und Waarenbuden."
Da unsere Civilisation auf Ackerbau und Gewerbe beruht, so wird
es einem Europäer schwer daran zu glauben, dass auch das No-
madenleben seinen Luxus und seine Bequemlichkeit besitzen
könnte. Ibn Batuta giebt uns indessen einen guten Begriff von
der Pracht dieser ambulanten Residenzen. Das goldene Trink-
und Essgeschirr, womit die Nomaden prunkten, war vielleicht der
Raub aus einer christHchen Kirche des Abendlandes, welches diese
furchtbaren, durch Taktik und Disciplin den lateinischen Heeres
mächten weit überlegenen Cavalleriemassen heimsuchten und
plünderten. Europäische Handwerker, die man bei Städteerobe-
rungen geraubt und in die Sklaverei geführt hatte, wurden die
,, Hofhandwerker" der centralasiatischen Höfe. Perlen und Edel-
steine kamen aus Indien. Alles, was der Orient an Luxus damals
producirte, die Leinengewänder Aegyptens, der Brocat aus Da-
mascus , persische Seidenstoffe und die feinen Waaren , welche
chinesische Kaufleute nach Samarkand, nach Balkh oder Buchara
brachten, fanden ihren Weg zum Hoflager der Tataren, während
andererseits europäische Kaufleute von der Krim und von der
Donaumündung aus die beweglichen Residenzen der mongohschen
Fürsten mit flandrischen Tuchen, mit englischem Stahl und Kupfer
und mit italienischen Seidenzeugen versahen. Die Chatuns oder
die Gemahlinnen des Chans wohnten in grossen Wagen, die uns
der Reisende als kuppeiförmige Behausungen aus vergoldetem
Silber, oder aus Holz mit eingelegter Goldarbeit beschreibt. Ein
genaues Ceremoniell herrschte am Hofe, und jede der Königinnen
hatte ihre Hofmeisterin, ihre Kammerfrauen und ihre Pagen. Der
12 Zur Geschichte der Geographie.
Chan selbst, wenn die erste Frau nahte, ging ihr bis zur Zelt-
pforte entgegen, reichte ihr die Hand, führte sie zum Thronsessel,
und nahm erst nach und neben ihr Platz. Die Königin selbst ist
bedeckt mit Geschmeide, sie trägt einen Stirnschmuck aus Edel-
steinen mit Pfauenfedern. Ihre Hofmeisterin starrt in Brocat und
lässt einen Schleier mit Goldsaum und Perlenstickereien wehen.
Die männliche und weibliche Hofdienerschaft ist nicht minder
kostbar ausstaffirt. Nach Ibn Batuta's Beschreibung schienen die
vier Frauen im Rang selbst den Prinzen vorauszugehen, die
Frauen selbst rangirten nach der Nummer, das heisst die erste
ging der zweiten, die dritte der vierten voran. Ibn Batuta be-
schreibt diese vier Frauen nach der Reihe. Die höchste Rolle
spielte jedoch die erste Frau, die Gross-Chatun des Chan. Am
Hofe erzählte man sich, der Fürst wisse an ihr die seltene Eigen-
schaft einer unverwüstlichen Virginität zu schätzen. Man ver-
sicherte ihm, zur ,, Erklärung" dieses Phänomens, die Frau sei ein
Nachkomme jenes Weibes, welches einst den Ring von Salomo
besessen. Als aber Salomo dieses Weib wiedergefunden, befahl
er sie in eine Einöde auszusetzen und zwar gerade in das Kip-
tschak (Südrussland). Jene Eigenschaft aber habe sich dann auf
die Descendenten weiblichen Geschlechtes vererbt. In China
hört der Reisende dasselbe Märchen, fügt aber mit naiver Gewis-
senhaftigkeit hinzu: ,,Eine solche Frau ist nie in meine Hände
gefallen, also vermag ich auch die Richtigkeit der Thatsache nicht
zu verbürgen."
Da der Hof Usbek Chans damals bereits zum Islam über-
getreten war, so fehlte es dem gelehrten Araber nicht an einer
guten Aufnahme. Er durfte den Königinnen seine Aufwartung
machen und wurde von ihnen mit der höchsten Auszeichnung
empfangen. Die dritte Chatun, welche Ibn Batuta zuerst „bei
Hofe eingeführt", war eine Tochter des „Sultans von Konstanti-
nopel", also eine griechische Prinzessin. Sie erbat sich bald
darauf von ihrem Gemahl die Erlaubniss zu einer „Ferienreise
nach Stambul um ihren Vater wiederzusehen", und in ihrem Ge-
folge betritt Ibn Batuta später die grösste Stadt der Christenheit.
Vorher aber besuchte er noch Sarai, die Hauptstadt des
westlichen Tatarenreiches, die er von Hadsch-Terchan (Astrachan),
unterscheidet, und die oberhalb der Wolgamündungen gesucht
werden muss. Von dem Hoflager des Chans machte er eine
Ibn Batuta. j-7
Reise nach der Stadt Bolgar in zehn Tagereisen, um sich zti un-
terrichten, ob im Sommer dort wirklich die Nächte so kurz seien,
als man ihm gesagt. Da er sich davon überzeugt, so muss jene
Stadt sehr nördlich gelegen haben. Von Bolgar aus wollte er das
,,Land der Dämmerung" besuchen, von dem auch Marco Polo
spricht. Die Entfernung aber — vierzig Tagereisen — ist ihm
doch zu gross. Aus diesem Lande kommen die kostbarsten Pelz-
werke, Zobel und Hermelin, Man verstand also offenbar Sibi-
rien unter jenem Lande der Dämmerung. Die dortige Einöde sei
mit Eis bedeckt, so dass kein Pferd mehr fortkommen könnte,
wohl aber die Hunde, deren scharfe Klauen das Ausgleiten auf
der glatten Fläche verhinderten. Niemand besucht diese Wildniss
als die reichen Pelzhändler. Sie nehmen auf ihren Schlitten Mund-
vorrath und Brennholz mit, denn nirgends finden sich Bäume oder
Behausungen. Der Führer dieser Reisenden ist der Hund, der
schon unendliche Male den Weg zurückgelegt hat. Der Preis eines
solchen kundigen Thieres steigt oft über looo Dinar. Er wird
den andern Hunden vorangespannt , als deren Häuptling er sich
betrachtet, und die ihm folgen. Wenn er still hält, halten die an-
dern auch. Der Reisende hütet sich wohl, ihn zu misshandeln
oder zu schelten. Wenn man die Mundvorräthe öffnet, erhalten
die Hunde ihr Futter zuerst, und vor den Menschen. Wollte man
es anders machen, so würde sich der ,,Chef" der Hunde beleidigt
fühlen, entlaufen, und seinen Herrn dem Verderben überlassen.
Im Lande der Dämmerung angekommen beginnt dann mit den
Eingeborenen ein stummer Tauschhandel um Pelzwerk.
Das Gemälde, welches Ibn Batuta von einer sibirischen
Schlittenfahrt vor 500 Jahren entwirft, ist ausserordentlich treu,
und gleicht Zug für Zug den heutigen Beschreibungen der kam-
tschatkischen Schhtten, wo auch der Häuptling der Hunde das
Fahrzeug leitet, und ebenso sorgfältig von seinem Herrn behandelt
und theuer bezahlt wird. Wie weit östlich und nördlich man
sich Ibn Batuta's ,, Reich der Dämmerung" zu denken hat, und
ob seine vierzig Tagesdistanzen genau sind, wagen wir lieber nicht
zu entscheiden, die Thatsache einer sehr weit reichenden Ver-
bindung mit' dem nordwestlichen Asien im 14. Jahrhundert ist
indessen an und für sich von grossem historischen Werthe.
Bei seinem Besuch in Sarai lernte Ibn Batuta auch die
Russen kennen, die damals bekanntlich unter dem tatarischen
JA Zur Geschichte der Geographie.
Joch standen. „Die Russen, sagt er, sind Christen, sie haben
rothe Haare, blaue Augen, sind hässHch von Angesicht, und sehr
verschlagene Leute. Sie besitzen Silberbergwerke, und man bringt
aus ihrem Gebirge die Saum, das heisst Silberbarren, die als
Münze in jenen Gegenden umlaufen. Jeder Barren wiegt fünf
Unzen." Was der Araber Saum nennt, und als Plural von Sauma
erklärt, nannte man in den italienischen Factoreien am Don
Somma , und wir kennen genau den Werth einer Somma durch
Balducci. Für die Handelsgeschichte aber ist es von höchstem
Interesse, dass Ibn Batuta die damalige Existenz von Bergbau im
Ural mit obigen Worten bezeugt.
Unser Autor tritt nun im Gefolge der griechischen Prinzessin
seine Reise nach Konstantinopel an, und zwar über Sudak in der
Krim, das Soldaja der Italiener. Die Stadt befand sich damals
unter tatarischer Hoheit, und man hatte ihre griechische Bevölke-
rung bis auf einen kleinen Theil vertrieben. Noch war die Stadt
immerhin blühend , und gefeiert im Orient ; — was ist sie
heute? Die Türken haben alle blühenden Colonien der Krim am
Ende des 15. Jahrhunderts vernichtet, und was die Türken ver-
nichtet, Vermochten die Russen nicht wieder zu beleben, denn der
Handel, den einst das azofische Meer und der Pontus getragen,
ist wohl für immer in andere Bahnen gelenkt worden, weil die
Civilisation jetzt flieht, was sie ehemals suchte, nämlich die Bin-
nenmeere, seit der Ocean der grosse Vermittler der Menschen-
geschlechter geworden ist.
Es ist acht tatarisch, dass die Prinzessin und ihr fürstliches
Gefolge statt den kurzen Weg über das Wasser, den Landweg
am nördlichen Ufer des schwarzen Meeres nach Konstantinopel
einschlägt.
Damals scheinen Cherson und Bessarabien , jetzt so reiche
Provinzen, völlig verödet gewesen zu sein. Achtzehn Tage geht
die Reise durch die ,, Wüste", bis die Karawane die erste grie-
chische Festung erreicht. Ibn Batuta beschreibt uns nun, dass
der Zug über drei „Canäle" setzen musste, wobei man immer die
Zeit der Ebbe abwartete. Diese drei „Canäle" sind wahrschein-
lich die Donauarme. Die Zahl der griechischen Festungen , die
man passirt, nimmt jetzt zu. In einer grossen Stadt, deren Na-
men der Araber vergessen , wahrscheinlich Varna oder Burgas,
wurde die Gemahlin des Chans von ihrem Bruder , dem Thron-
Ibn Batuta. ic
erben des griechischen Reiches, mit einer Armee von 10,000 ge-
panzerten Soldaten eingeholt. Da das Jahr von Ibn Batuta's
Besuch in Konstantinopel bis jetzt nicht genau ermittelt werden
konnte, so lassen sich auch die Persönlichkeiten nicht benennen,
mit denen er am griechischen Hofe in Berührimg kam. Ibn Ba-
tuta, als Araber und Bekenner des Propheten, hatte vielleicht
nicht mit Unrecht Furcht vor der Intoleranz des griechischen
Städtepöbels, und hielt sich nach seiner Ankunft drei Tage lang
still auf seinem Zimmer in Konstantinopel. Hundertundzwanzig
Jahre später hatten die christlichen Bewohner, die Kaufleute in
Pera und Galata, umgekehrt Ursache als „Christenhunde" die
Strassen von Konstantinopel zu meiden, während wir es jetzt er-
leben, dass französische Gensdarmen in Konstantinopel comman-
diren, und die Türken vor Pariser Zuaven sich verkriechen. Ibn
Batuta ward endlich bei Hofe vorgestellt. Hatte der Araber
schon auf der Reise Gelegenheit gehabt byzantinische Pracht zu
bewundern, welche allen Nomadenluxus unter den Filzdächern in
der Steppe überstrahlte, so steigert sich seine Bewunderung mit
jedem Schritt. Er betritt den grossen Audienzsaal, dessen Wände
in Mosaik ihm Landschaften und Thiere zeigen. Ein fliessendes
Wasser geht durch die Halle mit künstlichen Baumgruppen besetzt.
Ueberall steht die Hofdienerschaft in ehrfurchtsvollem Schweigen.
Der Reisende wird nun vor den Kaiser geführt, der ihn mit
Hülfe eines jüdischen Dolmetschers über seine Reisen in Aegyp-
ten, Syrien, Persien etc. befragt und ihn mit einem Ehrenkleide
und einem Sonnenschirm beschenkt entlässt. Diese Geschenke
waren sehr wichtig, denn von nun an konnte der Araber die Stadt
sicher durchstreifen. Es ward ihm ein Begleiter beigegeben; er
bestieg ein Ross aus dem kaiserlichen Marstall, und mit Trom-
petenklang wurden in der Stadt die ihm ertheilten hohen Ehren
verkündigt.
Die Stadt, sagt Ibn Batuta, wird durch einen „Fluss" ge-
trennt, der von Ebbe und Fluth bewegt wird. Der eine Theil
am östUchen Ufer, wo der kaiserliche Hof wohne, heisse Istambul,
der andere Galata, das Quartier der fränkischen Nationen. ,, Diese
Leute gehören verschiedenen Völkern an. Es sind Genueser, Ve-
netianer, Römer und andere Franken. Die Oberhoheit über sie
gehört dem Kaiser von Konstantinopel. Er stellt an ihre Spitze
einen Alcomes (Graf), den sie sich selbst erwählen. Sie zahlen
l5 Zur Geschichte der Geographie.
dem Kaiser eine jährliche Abgabe, sie empören sich aber oft ge-
gen ihn, und er bekriegt sie dann, bis sich der Papst dazwischen
legt und den Friec^ Yi'tet. Alle treiben Handel, und ihr Hafen
gehört zu den gros,- ,, die es giebt. Ich sah dort hundert Schiffe
liegen, Galeeren und andere grosse Fahrzeuge. Die kleinen kön-
nen nicht gezählt werden, so gross ist ihre Anzahl. Die Markt-
plätze in diesem Stadttheile sind geräumig, aber bedeckt mit Un-
rath. Ein sehr schmutziges Gewässer führt durch die Stadt. Die
Kirchen dieses Volkes sind ekelhaft schmutzig und enthalten nichts
sehenswerthes." Man kann nicht naiver schreiben, denn Ibn Ba-
tuta hört nur was ihm sein griechischer Cicerone wissen lässt.
Die Kaufleute von Galata und ihre selbst gewählten Consuln
waren die Herren von Konstantinopel; wenn sie sich ,, empörten"
stürzten sie die Dynastien um und setzten neue ein, denn schon'
damals stand das morsche Reich unter der Vormundschaft west-
licher Seemächte und spielten die Repräsentanten der ,, Krämer-
völker" die Protectoren der heutigen Türkei.
Der nächste Gang des Reisenden führt ihn nach der Hagia
Sophia, die, wie er uns versichert, von einem ,, Vetter des Königs
Salomon" erbaut worden sei. Um die Kirche herum lief ein ge-
schlossener Raum mit Alleen und Gärten, mit einer Reihe Buden
und einem Forum, wo Recht gesprochen wurde. An der Kirche
selbst standen Portiers mit Besen bewehrt, um das HeiHgthum rein zu
halten. Sie Hessen niemand eintreten, bevor er nicht der kost-
baren Kreuzesreliquie seine religöse Ehrfurcht bewiesen. Das
Kreuz selbst befand sich über der grossen Pforte in einem gol-
denen Gefäss eingeschlossen. ,,Der Papst, versichert uns der
Reisende, begiebt sich jährlich einmal zu dieser Reliquie. Der
Kaiser zieht ihm dann vier Tagereisen entgegen und steigt vom
Pferde. Beim Einzug in die Stadt geht der Kaiser zu Fuss vor
dem Pontifex einher, und stattet ihm, so lange er in der Stadt
weilt, des Morgens und des Abends einen Besuch ab." Ueber
das Innere der Kirche kann Ibn Batuta nichts berichten, denn die
Griechen wollten ihn nicht eher einlassen, als bis er sich vor dem
Kreuz niedergeworfen. Der Reisende war aber ein zu guter
Muselmann , um nicht seine Neugierde zu bekämpfen. Er be-
schreibt uns dafür das Innere mehrerer Mönchs- und Nonnen-
klöster. Die letzteren namentlich waren für ihn eine Neuigkeit,
während sich für die andern ein Aequivalent in der mohamme-
Ibn Batuta.
17
danischen Welt vorfand. Ueberall wurde der Araber ehrerbietig
von den ,, Spitzen der Behörde" behandelt, und die Griechen
scheinen ihn mit einer Art religiöser El it betrachtet zu ha-
ben, denn sie wussten sämmthch, dass e. aisalem und die hei-
ligen Stätten besucht hatte, worüber sie selbst sein afrikanisches
Blut und sein Bekenntniss zum Propheten vergassen.
Nach 36 Tagen Aufenthalt kehrt Ibn Batuta auf dem Weg,
den er gekommen, in das Kiptschak zurück, wo er einen sehr hef-
tigen Winter erlebt. Er war in Wolfspelze so eingehüllt, dass er
kein GHed rühren konnte und auf das Pferd sich heben lassen
musste. Sein Bart füllt sich mit Eisstücken, worüber er die grösste
Verwunderung äussert. Endlich kommt er nach Astrachan, hört
aber, dass der Chan seine Residenz in Sarai aufgeschlagen. Er
bricht also auf und erreicht diese Stadt nach einer dreitägigen
Reise längs dem Ufer des gefrornen Itil (Wolga). Diese Stadt
schildert er so gross, dass er einen vollen Tag, freilich einen
kurzen Wintertag gebraucht habe, um von dem einen Ende zum
andern und wieder zurückzugelangen. Er setzt ausdrücklich hinzu,
die Häuser stiessen dicht aneinander und es gäbe weder Gärten
noch Ruinen dazwischen. Man zweifle desshalb noch nicht an
Ibn Batuta's Glaubwürdigkeit. Es giebt noch heute in Russland
kolossale Dörfer, und die Tatarenresidenz war nur ein solches
Dorf, vielleicht von der Grösse des heutigen Paris. Die Stadt
selbst wurde bewohnt von Mongolen, von den Ass (Osseten), von
Leuten des I^iptschak, von Tscherkessen und von Russen. Die
Kaufleute aus Aegypten, Syrien und den beiden Irak bewohnten
ihr eigenes Viertel, das sie mit einer Mauer geschlossen hielten,
aus Besorgniss für ihre Reichthümer und aus Furcht vor der Lü-
sternheit des Pöbels. Auch diese Stadt wie so viele andere ist
vom Erdboden so rasch verschwunden wie die Luftbilder in der
Steppe zerrinnen.
Pcschel, Abhandlungen. II.
2. Massudi's goldne Wiesen und
Edelsteingruben.
I.
(Ausland 1862. Nr. 20. 14. Mai)
Wenn ein arabisches Werk in vergleichsweise kurzer Zeit
zweimal herausgegeben wird '), während so viele andere Schätze
noch lange auf Veröffentlichung warten dürfen, so muss sein Inhalt
jedenfalls von hohem Werth sein. Massudi behauptet es wenigstens
selbst: „Genannt habe ich dieses Buch , goldene Wiesen und
Edelsteingruben' wegen der grossen Wichtigkeit der Stoffe, die es
enthält, denn man findet darin alle leuchtenden und merkwür-
digsten Stellen aus meinen früheren Werken wieder." Man sieht
daraus , dass der Araber ohne grosse Schüchternheit vor seine
Leser tritt, und nicht gesonnen ist, sein Licht unter den Scheffel
zu stellen. Dieses Selbstbewusstsein ist aber ein erworbenes, kein
angemasstes , denn wohl ist derjenige zu einer hohen Sprache be-
rechtigt, der von sich sagen kann: „Begierig durch eigenes An-
schauen das Merkwürdigste bei allen Völkern zu erkennen und
die Eigenthümlichkeiten jedes Landes zu erforschen, habe ich mit
diesem Vorsatze Sind , Zanguebar (Ostafrika) , Sinf^), China und
i) Zuerst von Aloys Sprenger ; El-Massudis Meadovvs of Gold and Mines
of Gems. London 1841. Diess war nur eine Uebersetzung im Auszug. Jetzt
dagegen haben die HH. C. Barbier de Meynard und Pavet de Courtreille den
arabischen Text mit der französischen Uebersetzung herauszugeben angefangen.
Der erste Band (Magoudi, les Prairies d'or. 8, Paris. Impr. imp.), der voriges
Jahr erschien , enthält die meisten Länderbeschreibungen Massudi's, während
der zweite sich vorzugsweise mit der Geschichte der Chalifen beschäftigen wird.
2) Die Herausgeber verstehen darunter Süd-Cochinchina , ob mit Recht,
wird sich später zeigen.
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. iq
Sabedsch (Java) besucht; in der Reihenfolge von Ost nach West
habe ich durchwandert die äussersten Grenzen Chorassans im Innern
Armeniens (sie), Adscherbaidschan, Erran (Arriana) und Beilak, so
wie auch Irak, (Mesopotamien) und Syrien erforscht." Wenn man
seinen Nachfolger Ibn Batuta, der um vier Jahrhunderte älter ist,
den Marco Polo der Araber genannt hat, so ist Massudi unstreitig
ihr Herodot. Massudi lautet übrigens sein eigener Name nicht,
wie ja durchgängig die Araber nach Namen heissen, die sie ur-
sprünglich nicht besassen. Der Name des Verfassers der goldenen
Wiesen und Edelsteingruben ist vielmehr AbuM-Hassan Ali,
Sohn des el-Hugein, Sohn des AH, mit dem Beinamen el-Massudi,
nach Massud , einem Ahnen der Familie, die aus dem Heäschas
stammt. Er selbst wurde zu Bagdad in den letzten Jahren des
dritten islamitischen Jahrhunderts geboren, und begann seine Reisen
um 300 (912 nach Chr.), wo er bereits in Multan auftrat, und
setzte sie fort bis zu seinem Tode 345 (956) zu Fostat, uA.lt-Kairo)
in Aegypten.
Wir haben schon oben gesehen , dass er seine ,, goldenen
Wiesen" nicht unterschätzt. An einer anderen Stelle finden sich
die classischen Worte: ,, Dieses Werk ist ein Auszug meiner
früheren Schriften und der Kenntnisse, welche ein Mann -son
Bildung sich jedenfalls aneignen muss ; in der That giebt es keinen
Zweig des Wissens, Erkennens oder der Ueberlieferung, der nicht
ausführlich oder abgekürzt, oder andeutungsweise wenigstens, von
mir in diese Schrift hereingezogen worden wäre." Hin und wieder
denkt wohl einer oder der andere moderne Autor ebenso von
seinen Werken, und beneidet die Araber im Stillen um ihre Nai-
vetät in Büchervorreden , aber so etwas drucken zu lassen wagt
niemand im wohlerzogenen Europa. Statt dass man jetzt auf
den Titelblättern unserer Bücher Androhungen gegen Nachdruck
— reproduction interdite — oder so etwas liest, führt der Araber
eine andere Sprache gegen Missbrauch seines geistigen Eigenthums.
,,Wer sich den Sinn dieses Buches zu entstellen unterfängt, ruft
IMassudi aus, oder die Grundlagen, auf denen es ruht, zu erschüttern,
die Klarheit des Textes zu verdunkeln , oder Zweifel über eine
Stelle zu verursachen wagt durch Aenderungen , durch Auszüge
oder Uebersichten, den möge der göttliche Zorn und rasche Strafe
ereilen , den mögen Trübsale befallen, die ihn zur Verzweiflung
treiben, und deren Vorstellungen schon ihm Schauder einjagen
2 0 Zur Geschichte der Geographie.
soll u. s. \v." Der Araber — so liebenswürdig sind morgen-
ländische Autoren — setzt seine Verfluchung noch eine Seite lang
fort, die natürUch auch auf uns sich erstrecken wird, da wir durch
unsere nachfolgenden Auszüge allerdings wohl manche Zweifel
gegen den Besitzer der ,, Edelsteingruben" werden hervorrufen
müssen.
Da nun Massudi, wie er selbst sagt, in diesem Buch ,,von
allen Dingen und etlichen mehr", sprechen will , so ist nur seine
Gründlichkeit zu loben, wenn er bei Erschaffung der Welt beginnt,
die eines Sonntages und eines Montages vor sich ging. Mit der
Welt .erschaffen wurden auch die sprüchwörtlichen , .sieben Himmel",
wovon der erste aus grünem Smaragd, der zweite aus Silber, der
dritte aus rothen Rubinen , der vierte aus Perlen , der fünfte aus
gediegenem Golde, der sechste aus Topas, der siebente aus Feuer
gebildet wurde, auf welchein letzteren die Engel stehen mit einem
Bein in der Luft, Psalmen zum Preise des Herrn singend. Die
Erde selbst wurde auf deni Rücken eines Fisches befestigt, das
Wasser, in welchem dieser Fisch schwamm, befand sich auf Fels-
blöcken, die Felsblöcke wieder auf dem Rücken eines Engels, der
Engel auf einem Felsen und der Felsen stand auf dem Winde.
Die Weltschöpfung, wie sie Massudi beschreibt, ist der mosaischen
Kosmogonie nachgebildet. Der Araber bezeichnet sie als diejenige,
„welche er aus dem Munde der Alten gehört oder in ihren
Büchern gefunden habe", jedoch wolle er auch nicht verschweigen,
dass sehr viele Secten ein anderes System der Schöpfung oder
vielmehr die Ewigkeit der Körperwelt annähmen. Nach der An-
sicht der Juden hätte das Schöpfungswerk am Freitag geendigt,
und desshalb wurde bei ihnen der Samstag als Sabbath gefeiert,
die ,, Nachfolger des Evangeliums" (Christen) hätten wiederum den
Sonntag geheiligt, weil ihr Messias an diesem Tage auferstanden
sei, die Gläubigen dagegen feierten den Freitag, weil an einem
Freitag und zwar an einem 6, April die ersten Menschen Adam
und Hawa (Eva) geschaffen worden. An jenem Tage um die
dritte Stunde (9 Uhr) gingen sie ins Paradies ein, blieben aber in
Folge des Sündenfalles nur drei Stunden oder das Viertel eines
Welttages oder 225 irdische Jahre darin. Nach seinem Falle
wurde Adam nach Serendib (Ceylon)'), Eva nach Dschedda
l) Bekanntlich gehört die in den Felsen eingedrückte angebliche Fussspur
in dem Allerheiligen auf dem Adamspic nur nach arabischen Ansichten dem
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. 2 l
(Hafenplatz vor Mekka) verbannt. Als Adam aus dem Paradies
stürzte, hatte er sich eine Schürze aus Blättern verfertigt. Letztere
raubte ihm der Wind und verbreitete sie über Indien, so dass von
ihnen die Aloe, der Nelkenbaum, die Gewürze, der Moschus (sie)
und alle Wohlgerüche stammen. Adam rettete aus dem Paradies
mit vieler Auswahl und Behendigkeit noch dreissig Fruchtreiser,
die Früchte von zehn derselben haben eine Rinde, "nämlich: die
Nuss, die Mandel, die Pistazie, der Mohn, die Castanie, die Gra-
nate , die Cocos , die Haselnuss , die Banane und der Gallapfel ;
ferner zehn Steinfrüchte : der Pfirsich, die Aprikose , die Pflaume,
die Dattel, die Vogelbeere, der Lotuskern, die Mispel, die Jujube,
die Frucht der Dum- oder saidischen Fächerpalme und die
Kirsche i dann zehn Schalenfrüchte: die Orange, die Feige, die
Birne, die Traube, der Apfel, die Quitte, die Maulbeere, die
Gurke, der Kürbis und die Melone. Der Stammvater des Menschen-
geschlechtes starb übrigens, wie Massudi versichert, an einem
Freitag, am 6. April und im Jahre 930 nach Adams Geburt, an
seinem eigenen Geburtstage.
Die Geschichte der Erzväter, der Könige Saul, David und
Absalon wird von den Arabern mit einigen Ausschmückungen nach
der Bibel erzählt. Die Araber halten bekanntlich die Patriarchen
in hohem Ansehen , in höherem vielleicht als die Christen selbst
(mit Ausnahme der Mormonen). Ebenso steht die Familie des
christlichen Messias in höchstem Ansehen bei ihnen. Man höre
was Massudi wörtlich sagt: „Zacharias, Adaks Sohn, vom Samen
Davids aus dem Stamme Juda heirathete Ischba (Elisabeth),
Tochter des Amram und Schwester Miriams (Maria's) , Tochter
des Amram und Mutter des Messias. Dieser Amram, Sohn des
Maran, Sohn des Joachim, war ebenfalls vom Geschlechte David.
Die Mutter von Elisabeth und Maria hiess Hannah. EHsabeth
gebar Zacharias einen Sohn , Namens Jahia (Johannes) , welcher
also der Sohn war von der Mutterschwester des Messias. Zacha-
rias war ein Zimmermann. Die Juden nun verbreiteten das Ge-
Adam an. Die Buddhisten, die gegenwärtigen Eigenthümer dieses Mirakels,
verehren darin vielmehr die Fussspur ihres Religionsstifters, welche übrigens
gerade so viel Aehnlichkeit mit einem menschlichen Fusstapfen besitzt wie der
,, einzig ächte" Buddazahn, der früher den Kiefern eines Krokodils angehört
hat, mit einem Menschenzahn.
2 2 Zur Geschichte der Geographie.
rücht, dass er sträflichen Umgang gepflogen mit Marien und be-
schlossen ihn zu tödten. Unterrichtet von ihrem Vorhahen flüchtete
sich Zacharias in einen hohlen Baum, aber auf den Verrath des
Ibhs (Teufels), des Feindes Gottes, schlugen sie den Baum um
und spalteten mit demselben Schlage den Leib des Zacharias."
Ferner : „Als Maria , die Tochter des Amram , 1 7 Jahre zählte,
sendete ihr Gott Gabriel, welcher den Geist in sie hauchte, davon
sie schwanger wurde mit dem Messias Issa (Jesus), dem Sohn der
Maria. Jesus wurde geboren in einem Dorf Beit-laham, wenige
Meilen von Jerusalem, am 24. Decbr., einem Mittwoch. Seine
Geschichte wurde von Gott offenbart und erzählt durch Ver-
mitdung seines Propheten im Koran (Sure III.) u. s. w."
Der Verfasser beginnt erst im 7. und 8. Capitel zu seiner
Hauptaufgabe, nämlich zur Erdbeschreibung, überzugehen. Was
die mathematischen Ansichten der Araber betrifft, so hielten sie
sich an die Griechen, und vorzüglich an die „Dschografia" d. h.
an die acht Bücher des Ptolemäus, die bekanntlirh unter dem
Chalifen Almamun ins Arabische übersetzt worden waren.
Der alexandrinische Geograph hatte die Grösse eines Grades
am Aequator auf 500 Stadien angegeben, diess war um Yö ^^
wenig, da 600 alte Stadien auf einen Grad des grössten Kreises
gerechnet werden müssen. Der Irrthum wird jedoch geringer,
wenn man annimmt, dass zu Ptolemäus' Zeiten nur 7^2 Sta,dien
auf die römische Meile gerechnet wurden. Das Ptolemäische Mass
würde daher 66 2/3 römische Meilen enthalten haben, oder 6^/3
mehr als die wahre Grösse. Die Araber beruhigen sich aber
nicht bei der griechi.schen Ueberlieferung, sondern der Chalif Al-
mamun liess selbst das Stück eines Erdbogens in der Ebene von
Sindschar in Mesopotamien messen, und man fand, dass der Grad
eines grössten Kreises 56 Meilen betrage'). Die Araber selbst
misstrauten ihrer eigenen Erfahrung so sehr, dass Abulfeda, nach-
dem er die verschiedenen Vermessungen kritisirt hat, damit
schliesst: ,,In Praxis halte man sich an die Angabe der Alten,
dass ein Grad 66% Meilen enthalte." Wie es überhaupt zu
1) Später p. 190 spricht Massudi von einer andern Messung zwischen
Rakkah und Tadmor (Pahnyra), die 67 Meilen für einen Bogengrad ergeben
habe. Diese Stelle ist aber, was die Herausgeber nicht angezeigt haben, in
den Handschriften völlig verderbt.
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben.
23
Massudis Zeit mit der messenden Astronomie stand, das kann
man aus seiner Angabe schliessen, dass Mars für 63 mal grösser als
die Erde gehalten wurde. Ziemlich nahe der Wahrheit kommt
Massudi's Angabe, dass der Mond V37 der Erde sei. Da er aber
nur V49 ^'om Rauminhalt der Erde besitzt, so hielten sie ihn also
für grösser und ausserdem (was den Fehler noch steigert) der
Erde viel näher, denn seinen grössten Erdabstand berechnet Mas-
sudi auf 124,000 arabische Meilen, während er doch das Doppelte
beträgt. Den Abstand des Saturn von der Erde gaben sie auf
77 Mill. arabische Meilen an, in Wahrheit aber beläuft er sich
mindestens auf das Zehnfache, „und ebenso weit sind auch die
Fixsterne entfernt", setzt Massudi hinzu. Der uns nächste Fix-
stern (61 des Schwans) ist jedoch nicht weniger als 657,000 Halb-
messer der Erdbahn ä ao^'g M^iH- geograph. Meilen noch von uns
entfernt. Man sieht also , dass der Kosmos der Araber beängsti-
gende Dimensionen hatte, und wie viel tiefer unser Blick jetzt in
den Weltraum hineinzudringen vermag.
Seinen Bericht über Indien beginnt der Araber mit der
erfreulichen, wenn auch ungenauen Bemerkung, die Gelehrten
seiner Zeit seien einig darüber, dass dieses Land die älteste Ge-
sittung besessen habe. Er spricht dann von der Herrschaft eines
Mythenkönigs Brahma des Grossen, der das schöne astronomische
Alter von 366 Jahren erreichte, und unter dessen Regierung
indische Weise das Sindhind (Siddhanta) verfasst hätten'). ,,Sie
erfanden auch", setzt er hinzu , „die neun Ziffern, welche das
numerische System der Hindu bilden."
Diess ist eine berühmte Stelle, weil sie den ehemaligen Irrthum
beseitigt hat, als verdankten wir die sogenannten „arabischen"
Ziffern den Arabern selbst, durch deren Vermittlung wir sie aus
Indien erhalten haben. Das grosse Verdienst der Inder besteht
natürlich nicht in den Zahlzeichen selbst, die ganz gleichgültig
sind, sondern dass nach ihrem System der Werth der Zahlen durch
l) Die Herausgeber haben ihren Text ohne Noten gegeben. Unsere Er-
klärungen stützen sich daher -meist auf Reinaud's berühmte Vorrede zum
Abulfeda, sowie auf seine kritischen Bemerkungen zu den arabischen Reisenden
des neunten Jahrhunderts. Das Siddhanta, eine Anleitung zu astronomischen
Berechnungen , Hess Almamun aus dem Indischen ins Arabische übersetzen, es
war jedoch kein indisches Originalwerk, sondern stammt von einem griechischen
Colonisten Indiens aus dem ersten christlichen Jahrhundert her.
2.A Zur Geschichte der Geographie.
ihre Stellung von der Rechten zur Linken bedingt wird (Positions-
werth). Brahma der Grosse soll auch zuerst gezeigt haben, ,,dass
die Sonne 3000 Jahre in jedem Zeichen des Thierkreises verweile
und in 36,000 Jahren den ganzen Kreis durchlaufe!
Die Erscheinung, von welcher hier Massudi spricht, und die
wir das Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen nennen, wurde
nicht von den Indern, sondern von Hipparch entdeckt ; die Sonne
vollendet auch ihren Kreislauf durch die Zodiakalzeichen nicht in
36,000, sondern in 25,868 Jahren (nach Sir J. Herschels Outlines
§ 312). „Gegenwärtig (332 der Flucht), fährt Massudi fort, be-
findet sich die Apoge') im Zeichen der Zwilhnge, wenn aber die
Sonne in die Zeichen der südlichen Halbkugel vorgerückt sein
wird, dann muss sich die Gestalt der Erde verändern, der be-
wohnte Theil wird veröden und umgekehrt." Diese Ansicht ist
merkwürdig, weil sie mit der höchst geistreichen, aber höchst
paradoxen Hypothese eines modernen Astronomen, des Hrn.
Adhemar übereinstimmt, der ebenfalls in Folge des Vorrückens
der Nachtgleichen aller 13,000 Jahre eine grosse Sündfluth an-
nimmt, die abwechselnd die südliche Erdhälfte überschwemmen
und die nördliche trocken legen, und umgekehrt wieder die süd-
liche trocken legen und die nördliche überschwemmen soll.
Von Brahma dem Grossen stammen die heutigen Brahminen,
von denen Massudi richtig bemerkt, dass sie sich jeder animaUschen
Kost enthielten und als Kastenabzeichen — Frauen wie Männer —
,, gelbe Seidenfäden um den Hals wie Degengehänge" (die bekannte
Schnur) trügen. Nach Brahma' s Tod regierte ein zweiter Fabel-
könig, el-Bahbad, 100 Jahre. Unter seiner Regierung soll das
Nerd (Triktrak) erfunden worden sein. Der vierte dieser Dynasten
ist eine historische Persönlichkeit, nämlich Por (Porus), mit dem
Alexander im Fünfstromlande focht. Unter seinem zweiten Nach-
folger soll das Schachspiel erfunden worden sein. Wenn auch die
Chronologie Massudi's ganz werthlos ist, so bezeichnet er doch
ganz richtig das Schach- oder richtiger Schahspiel, so geheissen
nach den zwei Hauptfiguren =) , als eine indische Erfindung, und
i) Natüriich in der Sprache der damaligen geocentrischen Vorstellungen
vom Planetensystem.
2) Wenn wir im Deutschen sagen Schach dem König, so ist diess eine
sehr sinnlose Tautologie. Schah heisst : der König (ist bedroht) ! Schach dem
Könige! ist also etwas ganz widersinniges.
Massudi's ffoldne Wiesen und Edelsteinffruben.
25
höchst merkwürdig ist es, dass es zu seinen Zeiten bereits übei
dieses Spiel eine theoretische Literatur gab. „Die Griechen und
Römer , so wie andere Völker", bemerkt der Reisende , „haben
über dieses Spiel Theorien und Methoden erdacht, welche man in
den Schriften der Schachspieler von den allerältesten bis auf
es-Suli und el Adh, den Meistern der Jetztzeit, nachlesen kann."
Unter dem siebenten Nachfolger Brahma's lebte Sindbad, der
Verfasser des Buches der sieben Wesire, dessen indischer Ursprung
also von Massudi klar bestätigt wird.
Unser Araber unterscheidet sehr deutlich das Sind vom
eigentlichen Indien. Zu Sind rechnet er das Industhal und einen
Theil von Afghanistan. Indien dagegen ist ihm alles vom Indus
östhch gelegene Land bis zur Gränze China's. Zwischen beiden
Gebieten liegt das Reich des Maharadscha der Sabedsch Qavanen),
der über alle Inseln des Meeres Sanf (d. h. das Meer der Sunda-
Inseln) herrscht. Das rascheste Schiff könnte, sagt der Araber,
nicht in zwei Jahren alle die Inseln dieses Meeres umkreisen,
welche die Gewürze hervorbringen (p. 34i)0- Aus diesem Reiche
wird der Kampher , die Aloe , die Gewürznelke , das Sandelholz,
die Kardamome, die Kubebe ausgeführt. Auf diesen Inseln finden
sich Berge, welche beständig, Tag und Nacht, Flammen und Rauch
ausstossen und zu den grossen Vulkanen der Erde gehören. Aus
diesen Angaben wird jeder gebildete Leser hinlänglich unterrichtet,
dass damit nichts anderes gemeint werden kann, als die malayische
Inselwelt, Dass die Sabedsch Bewohner Java^s bedeuten , können
wir ausserdem daraus schliessen, dass Java bei Ptolemäus schon
die Gersteninsel {^aßadlov) genannt wird. Ein Reich, wie es die
Araber auf der Sundawelt um jene Zeit beschreiben , kennt man
aber sonst bis jetzt aus keinen andern Geschichtsquellen. Die
älteste Geschichte der Sundawelt beginnt für uns mit der Stiftung
des Reiches Madschapahit (1160 n. Chr.), welches die grössten
l) Wir bemerken die Seitenzahlen, weil sich Massudi's Angaben durch das
ganze Buch zerstreut finden. In der That ermüdet der Araber seine Leser ohne
Schonung. Wenn wir ihn mit China beschäftigt sehen, springt er plötzlich
über zu der Eroberung Spaniens durch die Araber, bald beschreibt er uns die
Moschusziege , und dann beschäftigt er sich ernstlich mit Verdauungserschei-
nungen im menschlichen Körper , oder mit hydrographischen Hypothesen , um
dann schliesslich zu einem längst vergessenen Stoff noch einmal zurückzu-
kehren.
2 0 Zur Geschichte der Geographie.
Sunda-Inseln umfasste. Für etwas älter noch wird das Reich
Menangkabao auf Sumatra gehalten, aber doch nicht so alt, dass
wir dorthin den Sitz des Maharadscha der Sabedsch verlegen
könnten. Dass aber ganz sicherlich schon in den ersten Jahr-
hunderten unserer Zeitrechnung auf den Sunda-Inseln eine höhere
Cultur und grössere politische Organismen bestanden haben müssen,
können wir mit Sicherheit aus einem kleinen Umstand schliessen.
In den Pandekten wird der Name der Gewürznägel erwähnt , die
Gewürznägel aber fanden sich vor der Eroberung Indiens durch
die Holländer nur auf der kleinen vulkanischen Gruppe der Mo-
lukken. Ein alexandrinischer Kaufmann des sechsten Jahrhunderts,
Kosmas , beschreibt uns bereits den Nelkenbaum. Bis zu den
Molukken reichte also in der römischen Kaiserzeit jedenfalls der
Handel, und aus nautischen Gründen musste der Markt der Sunda-
Gewürze an oder in der Nähe der Sunda-Strassen Hegen. Die
malayische Inselwelt wurde also damals von Handelsschiffen durch-
kreuzt, und wo ein solcher Handel besteht, da setzt er geordnete
Staaten und grössere Hafenplätze voraus , ganz abgesehen davon,
dass Java und Sumatra an den Strassen lagen, wo sich indischer
und chinesischer Verkehr begegnete. Massudi's Nachrichten über
das Reich der Sabedsch, welche von dem ihm gleichzeitigen
Kaufmann Soleiman und Abu Zeyd in den ,, arabischen Berichten"
ergänzt werden , besitzen also unbedingt ein hohes Interesse für
Geschichte, Geographie und Handel.
Massudi berichtet ein anderes geschichtliches Ereigniss, wor-
über wir anderwärts keine Kunde besitzen. Der Maharadscha
der Sabedsch nämlich, beleidigt durch den Fürsten von Komar,
rüstete eine Flotte, fuhr nach dessen Lande, welches lo — 20 Tage
von seinem Reich entfernt liegt (p. 171), überfiel seinen Gegner
völlig unvorbereitet, nahm ihn gefangen, liess ihn enthaupten, und
setzte auf den erledigten Thron den Wesir des Hmgerichteten, der,
wie es scheint, den Sabedsch geneigt gewesen war, vielleicht
seinen Herrn sogar verrathen hatte. Der Maharadscha liess zwar
im Kirchengebet seinen Namen sprechen , nahm also die Souve-
ränetät von Komar in Anspruch, hielt aber die entlegene Er-
oberung nicht weiter fest, sondern kehrte in sein Reich zurück,
doch betrachtete sich zu Massudi's Zeiten der Nachfolger auf dem
Throne von Komar als einen Vasall der Sabedsch. Das Reich
Komar kennen wir aber ganz genau. Es ist die von Tamulen
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingniben. 2 7
dicht bevölkerte Südspitze Indiens , und sein Name dem Vor-
gebirge Komorin, welches Ptolemäus schon kannte, geblieben.
Dass ein solcher Wickingerzug von den seetüchtigen Sabedsch
.unternommen werden konnte, ist gar nicht auffallend. Schwieriger
jedoch ist es zu erklären, dass Massudi zu den Inseln des „Ma-
haradscha" auch Ceylon (Serendib) zählt. Vielleicht hatten die
Javanen auf der Insel einige befestigte Factoreien wie später die
Portugiesen ; die Annalen von Ceylon wissen jedoch nichts davon,
sondern die Insel war im 9. christlichen Jahrhundert ein Schau-
platz der Anarchie, und die einheimische Bevölkerung den Raub-
zügen der sogenannten „Malabaren" ausgesetzt. (Sir Emerson
Tennent, Ceylon, vol. I, p. 401.)
Um nach Indien zurückzukehren, so findet sich auch bei
Massudi die Eintheilung der süd- und ostasiatischen Gewässer in
sieben Becken oder sieben Meere, die so schwierig zu erklären
waren und neuerdings den grossen Indianisten Hrn. Lassen be-
schäftigt haben ^). Das erste Meer, das Meer von Fars, kennen
wir sogleich am Namen , denn es ist der persische Meerbusen.
Ebenso fest begränzt ist das zweite Meer von Larewi, denn es
beginnt beim Cap Dschomdschomah oder bei der Meerenge
(Hormus-Strasse), welche das arabische Oman mit der persischen
Südküste bildet. Bei günstigem Wetter, d. h. während der pas-
senden Mosun-Zeit, kann man in einem Monat das Larewi-Meer
durchkreuzen, sonst braucht man deren zwei oder drei. Massudi
fügt noch hinzu, dass es auch das Meer von Habesch, Abessinien
genannt werde und die Küsten derSendsch^) bespüle, also wurde
damit ein Theil des indischen Oceans bezeichnet, den wir jetzt
das arabische Meer nennen. Die südliche Gränze des Larewi-
Meeres bezeichnet Massudi (S. 335) mit der grössten Deutlichkeit.
Das zweite und dritte Meer werden nämlich geschieden von einer
grossen Reihe Inseln, 1900 an der Zahl, auf denen die Cocos-,
aber nicht die Dattelpalme wächst. Als Geld cursiren auf diesen
Inseln die Cauris (Otterköpfchen, Cypraea Moneta), und wenn die
Königin dieser Insel in ihrem Schatze Ebbe spürt, lässt sie von
i) S. Art. 4: Chr. Lassen, über Gesch. d. ind. Handels im Mittelalter.
2) Sendsch sind die Somali. Der Name hat sich erhalten in Sansibar.
Azania hiess die ostafrikanische Küste bekanntlich bei den alten griechischen
Seefahrern, Azan aber nennt man noch heutigen Tages das Gestade südlich
vom Cap Dschardhafun.
28 Zur Geschichte der Geographie.
ihren Leuten Cocoszweige ins Meer werfen, an denen sich die
Cauris ansiedeln. Man nimmt die gefüllten Zweige heraus, tödtet
die Muscheln dadurch, dass man sie der Sonne aussetzt, und liefert
die leeren Schalen in die Schatzkammer. Wir brauchen unsere
Leser nach dieser Beschreibung gar nicht mehr zu orientiren, denn
die Otterköpfchen werden noch heutigen Tages Tonnenweise von
den Malediven und Lakkediven auf britischem Kiel ausgeführt,
und wenn sie jetzt auch nicht mehr in Indien als Münze dienen,
wie früher, so haben sie dafür Curs bei den Negern der Gold-,
Zahn- und Sklavenküste und in Westindien gewonnen '). Zu der
Male- und Lakkedivengruppe oder den Inseln Dabihat (das ist
eine Verstümmlung von Dwipa, oder Diwa) zählt Massudi auch
Serendib (Ceylon), was man dem Araber schon nachsehen muss.
Dort endete also das Meer Larewi, und begann das dritte Meer
oder das Meer von Herkend, worunter, wie man unbestritten an-
nimmt, die Araber denjenigen Theil des indischen Oceans verstanden,
der südlich von Ceylon und östlich von der Maledivenkette liegt.
Leider giebt Massudi nur die westliche Gränze des Meeres Herkend
an, und zählt dann die anderen Meere der Reihe nach auf, so
dass es schwierig ist, den Sinn dieser geographischen Eintheilung
zu erfassen.
Wir müssen also von dem anderen Ende der Meere anfangen.
Das siebente heisst bei ihm Sandschi oder Meer von China. Es
ist ein stürmisches Meer, wo sich häufig die Erscheinung einstellt,
dass bei Unwetter ein Vogel von solcher strahlenden Klarheit auf
die Mastspitzen sich niederlässt, dass die Schiffer, geblendet von
dem Glänze, seine Gestalt nicht zu unterscheiden vermögen. Nach
seinem Erscheinen pflege sich das Meer zu beruhigen (St. Elms-
feuer). Ueber China hinaus liegen die Inseln Es-Sila. Die Luft
ist dort so gesund, das Wasser so rein, der Boden so fruchtbar,
dass von allen Leuten, die jemals aus dem Irak (Mesopotamien)
dorthin ausgewandert sind, keiner in die Heimath zurückkehren
wollte. Die Bewohner dieser Insel leben mit China in freund-
lichem Verkehr, und gehören auch derselben Menschenrace an
wie diese (S. 346). Hier bedarf es wohl keiner weiteren Nach-
hülfe, dass der Leser unter dem Räthselnamen Sila den japanischen
l) Siehe deutsche Vierteljahrsschrift 1858, Nr. 83. Ueber den Ursprung
und die Natur des Geldes. S. 234.
Mas5udi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. 29
Archipel erkennt. Die Stelle ist aber höchst merkwürdig, denn sie
ist die erste Erwähnung Japans bei einem Volke des westlichen
Morgenlandes, und beweist wiederum, dass die Araber 300 Jahre
früher schon diesen Archipel kannten, ehe er den Europäern durch
Marco Polo beschrieben wurde. Das siebente Meer ist also ein
Meer, welches die Küsten China's bespült und den japanischen
Archipel umfasst. Es reicht aber auch vielleicht herab in den
Golf, den wir jetzt das chinesische Meer nennen, und der zwischen
Annam, Südchina, den Philippinen und Borneo liegt. Das sechste
Meer dagegen oder das Meer von Sanf war, wie wir oben gesehen
haben, das Meer, welches das Inselreich des Maharadscha der
Sabedsch, die Sunda-Inseln einschliesst, und es gehört zu ihm
wahrscheinlich der Golf von Siam, der südliche Theil des chine-
sischen Meeres und die heutige Java-See. So kennen wir demnach
das erste, zweite, dritte, das siebente und das sechste Meer, nur
das vierte und fünfte bleibt räthselhaft.
Massudi sagt an einer andern Stelle: von Serendib (Ceylon)
in einem Abstand von 1000 Parasangen ^) liegen die Inseln Er-
Ramin, nicht weit entfernt von dem Lande Kansur, wo der be-
rühmte Kampher herkommt. Mit diesen Worten ist ganz bestimmt
der District Baros an der Ostküste Sumatra's, der Heimat*h des
Kansur- oder Fanfur-Kamphers bezeichnet. Unsere Leser erkennen
also ganz sicher nach dieser Beschreibung unter dem Ramin-
Archipel die Inselkette an der Ostküste Sumatra's, also Pulo Babi,
Pulo Nias und die Mandavigruppe. In der Nähe dieser Inseln
kennt Massudi einen andern Archipel, Elendschmalus^), bewohnt
von gänzlich nackten Völkern mit seltsamen Gesichtern, die mit
ihren Canoes zum Tauschbetrieb an die Schiffe fahren. Dass man
hier die Nikobaren erkennen sollte, die sich ihr Gesicht durch
Betelkauen grauenhaft zu entstellen pflegen, würde bei der Mager-
keit der geographischen Merkmale gewagt erscheinen, wenn Mas-
sudi nicht fortführe: in ihrer Nähe liegen die Inseln Andaman,
bewohnt von schwarzen, kraushaarigen und anthropophagen Men-
schen. Massudi beschreibt uns hierauf die Wasserhosen, die sich
auf dem Meere Herkend zu bilden pflegen, und fährt dann fort:
i) Massudi rechnet cap. VIII, p. 185 ff. 18V5 Parasangen auf einen Grad
des Aequators, also il Parasangen = 9 deutsche geogr. Meilen.
2) Lendschbalus heisst er bei den andern Arab3rn.
L
3°
Zur Geschichte der Geographie.
„das vierte Meer ist das von Kalah." Es scheint also , dass er
die Inseln Er-Ramin , Elendschmalus und Andaman zum dritten
Meere Merkend rechnete, welches, wie wir schon oben sahen, den
indischen Ocean südlich und östUch von Ceylon bedeuten musste.
Das Meer von Kalah-bar beschreibt er als seicht und inselreich,
aber seine Angaben sind so unbestimmt, dass man durchaus nicht
zu erkennen vermag, von welchem Raum des indischen Oceans
er sprechen will. Nicht besser steht es mit dem fünften Meere
oder dem Meere Kerdendsch. Es enthält Inseln , auf denen
Kampher wächst, und wo es Gruben von weissem Blei giebt, worin
eine Andeutung auf die Zinninsel Banka gefunden werden könnte').
Massudi scheint seine Nachrichten über China in Basrah
(Bassorah) gesammelt zu haben , welcher Handelsplatz früher un-
mittelbaren Verkehr mit China besass. Der Araber traf dort zu-
sammen mit Abu-Zeid Muhammet aus Siraf, der seit dem Jahre
S'^S (915 — 16 n. Chr.) sich in Basrah angesiedelt und dort einen
Koraischiten Ibn Habbar (Ibn Wahab?), welcher letztere in China
gereist war, über dieses Land ausgeforscht hatte. Abu Ze'id ist
der Verfasser ,,der arabischen Berichte über Indien und China"'
die von Renaudot und später von Reinaud herausgegeben worden
sind,- Als Massudi schrieb (332 n. d. Fl. oder 943—4 n. Chr.),
hatte der directe Verkehr mit China bereits aufgehört. Die muham-
medanischen Kaufleute von Siraf und Oman, den beiden grossen
Seestapelplätzen im persischen Golfe, fuhren nur noch bis Killah^),
halben Wegs von China, wo sie mit den chinesischen Dschunken
zusammentrafen. Früher war es anders gewesen. ,,Die chine-
sischen Kauffahrer", sagt Massudi, „fuhren bis zur Küste Omans,
nach Siraf an der persischen Küste, nach den Bahrein-Inseln, nach
Obollah 3) und nach Basrah, wie umgekehrt die Fahrzeuge dieser
Länder nach China gingen." Ein muhammedanischer Kaufmann
aus Samarkand hatte sich nach Oman begeben, auf einem China-
i) Ueber die Schwierigkeiten das vierte und fünfte Meer zu bestimmen,
vgl. Art. 4: Chr. Lassen, über Gesch. d. ind. Handels im Mittelalter.
2) Man hat Killah für synonym mit Kalah oder Kalahbar halten wollen.
Wo dieser Platz gesucht werden müsse, ist noch nicht ermittelt worden, sondern
es herrscht noch gegenwärrig darüber völlige Uneinigkeit bei den Orientalisten
sowohl wie bei den Geographen.
3) Das alte Apologos an der Euphratmündung.
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. -^ j
fahrer eingeschifift, und war in dem Grosshafen China's Khanfu')
gelandet. Dort war ein grosses Zollamt , und der Samarkandier
wurde von dem dortigen Steuerbeamten, einem Eunuchen, geprellt
und misshandelt. So gross war aber das Vertrauen in die Justiz
der Chinesen, dass der Muhammedaner nach An-mu, der da-
maligen Hauptstadt, sich begab und seine Beschwerden vor dem
Kaiser selbst anbrachte. Wirklich gelang es ihm auch, dass der
Monarch eine Untersuchung anordnete ; Berichte aus der Pro-
vinz wurden eingeholt, der Samarkandier erhielt Recht, und der
Eunuch wurde abgesetzt. Die Araber sind überhaupt grosse Be-
wunderer der Chinesen und der chinesischen Cultur, wie sie auch
umgekehrt damals in China grosse commercielle und religiöse
Freiheiten genossen. So reiste der obenerwähnte Ibn Habbar
von Khanfu nach Hamdan, wo sich damals die Residenz des
Kaisers befand, und begehrte dem Himmelssohn vorgestellt zu
werden, indem er sich auf seinen Rang als Abkömmling vom
Propheten berief. Der chinesische Hof liess zuerst Erkundigungen
bei den in Khanfu ansässigen Arabern einziehen und als sich die
hohe Abkunft des Koreischiten bestätigte, erhielt er wirklich eine
Audienz , in welcher sich der Kaiser huldvoll mit ihm über die
Propheten der semitischen Völker unterhielt und dabei auch auf
die Sündfluth ' zu sprechen kam. Eine solche Ueberfluthung, meinte
der himmlische Sohn, könne nur partiell gewesen sein, denn weder
die Bewohner China's, noch die Indiens oder des Sind besässen
eine solche Ueberlieferung. Als der Araber das Alter der Welt
auf 6000 Jahre angab, brach der chinesische Hof in ein Gelächter
aus , besonders als der Fremdling eingestehen musste , diese Zeit
sei im Koran angegeben. Die Chinesen, die ihre freilich mythische
Zeitrechnung viel höher hinauf führen, mochten natürlich sehr ge-
ringschätzend über die bescheidene Chronologie der Araber und
ihres Propheten denken.
Die damalige Hauptstadt Hamdan zerfiel, wie das heutige
Peking, in zwei Städte, nämlich in die eigentliche Residenz, wo
auch die Paläste aller höheren Beamten standen, und in die bür-
gerUche Stadt. Beide trennte ein breites Glacis. Es gab auch
(wie in den jetzigen Städten) keine Marktplätze, sondern nur breite
i) Das Gampu des Marco Polo, in der Nähe des heutigen Tschafu (Tsche-
kiang) nach Klaproth. Andere halten es für Canton.
3 2 Zur Geschichte der Geographie.
Strassen, von Canälen durchzogen und von Alleen beschattet.
„China", fährt Massud! fort, ,,ist ein reizendes Land, voll üppigen
Pflanzenwuchs , durchschnitten von unzähligen Canälen , dennoch
findet sich dort die Dattelpalme nicht." Diese Wendung ist cha-
rakteristisch. Als die Araber Spanien eroberten, war das erste,
was sie thaten: Palmen zu pflanzen, und ein Land ohne Datteln
bleibt in ihren Augen immer ein Land der Armuth. Ibn Habbar
rühmt die Leistungen der chinesischen Maler und die öffentlichen
Ermunterungen der Künstler. Sie stellten ihre Bilder ein ganzes
Jahr lang öffentlich aus , und erhielten , wenn die Kritik günstig
war, eine Belohnung vom Kaiser. So hatte einer dieser Meister
einen Sperling gemalt, der auf einer Kornähre sass. Das chine-
sische Publicum war entzückt und fand die Darstellung der Natur
täuschend ähnhch, so dass dem Künstler sein Preis gesichert schien.
Da trat aber ein buckliger Kunstrichter auf und kritisirte das
Bild sehr ungünstig. ,, Jedermann weiss", sagte er, ,,dass, wenn
sich ein Sperling auf eine Aehre setzt, der Halm sich umbiege,
der Maler hat ihn aber ganz gerade gelassen." Als der Kaiser von
dieser Kritik hörte und sie billigte, musste der Spatzenmaler mit
seinem Bilde ohne einen Preis abziehen. — Diess war der Zustand
der materiellen Civilisation in China um die Zeit, wo die Karo-
linger den Vertrag von Verdun schlössen!
Der ausserordentlich günstige und fruchtbare Culturaustausch
zwischen China und dem Reiche der Chalifen wurde aber plötzlich
unterbrochen durch eine Begebenheit, die sich heutigen Tages fast
buchstäblich wiederholt. Im Jahre 264 (877 — 78 n. Chr.), erzählt
Massudi, erhob sich in China ein Prätendent Namens Yan-schu,
der unter dem verlornen Gesindel grossen Anhang fand. Man
legte anfangs dem Aufstand keine Wichtigkeit bei, aber der Rebell
sah sehr bald seine Macht anschwellen, und verwegen gemacht,
marschirte er gegen Khanku ') , eine wichtige Stadt , 6 — 7 Tage-
reisen oberhalb der Mündung eines Flusses von der Grösse des
Tigris gelegen, der sich in das Meer von China ergiesst, und
welchen die arabischen Kauffahrer aus Basrah, Siraf, Oman,
Indien, den Sabedsch-Inseln, Sinf und andern Königreichen hinauf-
gingen. Die Stadt Khanku, deren Bevölkerung aus Muhamme-
i) In den ,, arabischen Berichten" heisst sie Khanfu, darf aber nach
Reinaud nicht mit dem Seehafen bleichen Namens verwechselt werden.
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. 23
danem, Juden, Magiern (Parsis) und Chinesen bestand, fiel, nach-
dem die Rebellen die kaiserlichen Truppen in die Flucht ge-
schlagen, ihnen in die Hände, und bei dem Blutbad, welches die
Sieger anrichteten, erlagen durchs Schwert, oder ertranken im
Flusse 200,000 Muhammedaner , Juden, Christen und Parsen.
„Diese Ziffemangabe", setzt Massudi hinzu, „ist wahrscheinlich
sehr genau, denn die Könige von China lassen Bevölkerungslisten
nicht bloss über ihre eigenen Unterthanen, sondern auch über die
fremden Ansiedler von eigenen statistischen Beamten aufnehmen."
So bevölkert waren also damals die Fremdenviertel in den chine-
sischen Stapelplätzen und so eifrig der Handel ! Dass auch Christen
genannt werden, darf uns gar nicht befremden, denn schon in den
ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung gab es Colonien von
Griechen, die bekannten Thomas-Christen in Süd-Indien, und Juden
kamen ebenfalls wahrscheinlich von Kotschin aus nach China. Die
Rebellen hieben alle Maulbeerbäume um Khanku nieder und setzten
ihre Verheerungen voo Stadt zu Stadt fort. Aus Hang zum Raub
oder aus Furcht vor den Räubern schlössen sich ihnen viele
Völkerschaften an, und zuletzt stand Yanschu vor Anmu, der
Hauptstadt selbst. Der Kaiser zog ihm mit 100,000 Mann ent-
gegen und lieferte ihm eine Schlacht, welche das Schicksal des
Reiches besiegelte ; der Monarch wurde geschlagen und der Rebell
zog in die Hauptstadt ein. Der Kaiser war indessen nach Med')
an der Gränze von Tibet geflohen, und hatte an den Irchan, den
Türkenhäuptling, um Hülfe geschrieben. Wirkhch erschienen auch
die Tatarengeschwader im himmlischen Reich, vernichteten die
Rebellion und brachten den „Sohn des Himmels", wie Massudi
seinen Titel richtig bezeichnet, nach China zurück, aber seine
Macht war gebrochen. Was der Araber uns so treffend schildert,
war der Untergang der fremdenfreundlichen Thang-Dynastie. Der
Kaiser, unter dem Ibn Habbab in China reiste, hiess Y-tsung
(f 874 n. Chr.), und der Herd der Rebellion, die nach seinem
Tode ausbrach, lag im PetschiH und Schantung^). Die Zustände,
die nach der Herbeirufung der verhängnissvollen Tatarenhülfe
nachfolgten, kann man nicht besser schildern, als wie es Massudi
1) In den Relations des Voyages I p. 65 heisst der Name Madu oder
Amdu und ist identisch mit der heutigen gleichnamigen Stadt in Tibet.
2) Reinaud, Discours prelim. zu den Relations des voyages p. CXXXV.
Pesckel, Abhandlungen, ü. -,
24 Zur Geschichte der Geographie.
durch zwei historische Parallelen thut. ,, Während dieses (Rebellen-)
Krieges hatten sich alle Statthalter in ihren Provinzen unabhängig
gemacht, gerade so wie die Häupter der Satrapien, als Alexander,
Sohn Philipps von Macedonien, den Dara (Darius), Sohn des Da-
rius, König von Persien, getödtet hatte, und wie es sich heutigen
Tages im Jahre 332 (943 — 44 n. Chr.) bei uns") zuträgt. Der
König von China musste sich mit dem Scheingehorsam seiner
Statthalter und mit dem Königstitel in ihren Sendschreiben be-
gnügen. Ihm selbst aber blieben seine Provinzen unzugäwglich,
und die Usurpatoren niederzuschlagen , dazu fehlte es ihm an
Macht. Er begnügte sich daher mit ihren Huldigungen und liess
sie in Ruhe, ja er musste sogar zuschauen, wie diese neuen Fürsten
untereinander sich befehdeten. So hörte Ordnung und Eintracht
auf, wie sie unter den alten Königen geherrscht hatte." Abu
Zeyd fügte noch hinzu, dass in Folge dieser Rebellion aller directe
Verkehr der Araber in Persien mit China aufhörte und auch keine
Seidenwaaren mehr gen Westen gelangten.
Diess ist der wichtigste Inhalt aus dem jetzt ^-orliegenden
ersten Band eines arabischen Geographen der ersten Hälfte des
IG. Jahrhunderts
II.
(Ausland 1863. Nr. 36. 2. September.)
Der zweite Band der goldnen Wiesen ^j steht, wie
die Herausgeber selbst bekennen, an Werth tief unter dem ersten,
denn er ist gefüllt mit einer läppischen Geschichte der alten Per-
serkönige, sowie der römischen und der b)^zantinischen Kaiserreiche,
sonst aber giebt der vielgereiste Araber uns nur einige gute Auf-
schlüsse über die damaligen Zustände im Kaukasus und in Russ-
land, sowie eine Schilderung Aegyptens.
Treffend bemerkt er über das kaukasische Sprachengewirr:
„Der allmächtige Schöpfer allein vermöge alle Völkerstämme dieses
Gebirgslandes zu nennen". Schon zu Massudi's Zeit unterschied
man nicht weniger als 72 Völkerschaften, die in Unabhängigkeit
lebten und eine gesonderte Sprache (oder wenigstens eine besondere
1) Das heisst im Reiche der Chalifen aus dem Hause Abbas.
2) Ma^oudi les Prairies d'Or, par Barbier de Meynard et Pavet de Cour-
treille. Paris 186^.
Massudi's goldne ^Yiesen und Edelsteingruben. ^e
Mundart) redeten. Der Araber nennt uns unter andern im Schirwan
die Laks (Lesghi) , die Gumik , ihre Nachbarn die Serikeran (die
heutigen Kubetschi), deren persischer Name Verfertiger von Panzer-
hemden bedeute, die Alanen, welche erst im Jahr 320 (932 — ;^^ n.
Chr.) ihre christlichen Bischöfe verjagten und zum Islam übertraten,
damals noch immer eine sehr mächtige -Nation , denn ihr König
konnte 30,000 Reisige ins Feld stellen. Zwischen dem Kaukasus
und dem Meer von Rum (Pontus) sassen die Kaschaken, ihrem
religiösen Bekenntnisse nach Magier, d. h. Feueranbeter, nach
Massudi's Versicherung der schönste Menschenschlag von reinster
Hautfarbe, schlankem Wuchs und gut ausgebildeten Formen. Sie
lebten unter sich zerfallen und waren der Unterwerfung durch die
Alanen nur durch die Festigkeit ihrer am Meer gelegenen Burgen
entgangen, von denen aus sie einen Handelsverkehr mit Trebisonde
unterhielten. Wären alle Stämme, mit denen sie durch Sprach-
gemeinschaft verbunden waren, politisch geeinigt , so würde , ver-
sichert der Araber, selbst die Macht der Alanen vor ihnen weichen
müssen. Als Nachbarn der Alanen im Kaukasus nennt Massudi
die Abchasen, die damals noch Christen waren, und als ihre Nach-
barn die ebenfalls noch christlichen Chasranen. Zwischen dem
Kaukasus und der Donau in den südrussischen Steppen sassen
damals vier Stämme : die Yadschni, Bedschgarden, Newkerdeh und
die streitbaren Bedschnaken (Petschenegen , oder Patzinaken der
alten Byzantiner) , welche beständig und gerade kurz vorher im
Jahre 320 (932 n. Chr.) mit den Völkern von Rum, also mit dem
oströmischen oder byzantinischen Reiche in Krieg lagen.
Wichtiger als diese flüchtigen Mittheilungen sind seine Nach-
richten über das damalige Chasarenreich. Die Chasaren werden
nach Klaproth zuerst im Jahre 626 von byzantinischen Schrift-
stellern erwähnt. Allein Vivien de St. Martin (Geogr. Ancienne,
tom. II, p. 40) glaubt die Katiaroi des Herodot und die Aga-
thyrsen oder Agatzir der alten Geographen in ihnen zu erkennen.
Nach Attila's Tode im Jahre 462 zogen sie von der Wolga in die
Steppen zwischen Don und Kaukasus , breiteten sich dann im
7 . Jahrhundert über die Krim aus , die im Mittelalter nach ihnen
Gazaria genannt wurde, mussten aber vor den Petschenegen und
im 10. Jahrhundert vor den W^irägern weiter östlich zurückweichen.
Da der arabische Geograph Isstachry behauptet, sie hätten dieselbe
Sprache geredet wie die Bulgaren oder Wolgaren (von ihrem Sitz
^5 Zur Geschichte der Geographie.
an der Wolga so geheissen), so müssen die Chasaren ein finnischer,
oder Avie man auch sagt, ein uraUscher Stamm gewesen sein.
Massudi nun berichtet uns, dass der ehemahge Sitz der Cha-
sarenkönige in Semender gewesen sei, acht Tagereisen von Bab
el abwab (eisernes Thor) oder Derbend. Dieses Semender ist das
heutige Tarku am kaspischen Meere , nördlich von Derbend. Zu
seiner Zeit aber war die Hauptstadt nach Amol verlegt worden.
Dieses Amol ist nicht etwa die Stadt Mazenderans, sondern ein
anderes Amol, welches wir nördlich vom Kaukasus suchen müssen.
Der König und sein Hof, erzählt Massudi, bekennen sich zur
jüdischen Religion. In der Hauptstadt gab es vier Gerichtshöfe,
nämlich zwei Richter für die Muhammedaner, zwei für die Chasaren,
die nach der Tora, zwei für die Christen, die nach den Evange-
lien, und einen für die heidnischen Slaven und Russen, der nach
Recht und Billigkeit ohne geschriebene Satzungen entschied, nur in
schwierigen Fällen gingen die Rechtssachen der Heiden an einen
der Kadi. Die Chasaren lebten damals unter einer eigenthümlichen
Verfassung. Als nominelles Oberhaupt regierte ein Chachan, der
aber nie sich öffentlich zeigen durfte, sondern in seinem Harem
wie in einem Käfig eingesperrt gehalten wurde. In seinem
Namen regierte einer der Häuptlinge, welcher aber alle Verant-
wortlichkeit auf den Chan übertrug. Der König wurde daher für
seinen Major domus zur Rechenschaft gezogen. Wenn nämhch
das Reich in Noth gerieth , versammelte sich das Volk , ging zu
dem Regenten und sprach: „Von unserm jetzigen Chachan ist
nicht viel zu erwarten als Unheil, tödte ihn daher oder liefere ihn
aus." Der Regent, je nach seiner Stimmung, lieferte dann die
königliche Puppe aus oder suchte den Unwillen des souveränen
Volkes zu beschwichtigen.
Zwischen den Chasaren und Bulgaren, also zwischen Kaukasus
und Wolga , sassen die Barta , ein Jägerstamm , der zu den Cha-
saren mitgerechnet wurde. Vielleicht sind die Barta unsere jetzigen
Kabarden im Norden des Kaukasus. Es würde dadurch Vivien
de St. Martins Behauptung bestätigt, welcher die heutigen Kabarden
als die Reste der Chasaren erklärt.
Nördlich von den Chasaren an der Wolga sassen die Wol-
garen oder Bulgaren. Ihr Land, welches im Mittelalter die grosse
Bulgarei hiess, lag zwischen Wolga und Kama. Dort befand sich
die Heimath oder die älteren Wohnsitze der Bulgaren. Ein Theil
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. 27
dieser Bulgaren war aber früher schon über die Donau gegangen
und hatte dort ein neues Bulgarenreich gegründet, von dem unsere
heutige Bulgarei ihren Namen herleitet. Die jetzigen Bulgaren
haben freilich wenig gemein mit dem Volke, welches sie einst
unterwarf und ihnen seinen Namen hinterliess, denn die modernen
Bulgaren sind serbische Slaven, die alten und wahren Bulgaren da-
gegen gehören unter die finnischen Stämme. Massudi sagt: ,,Die
Stadt der Bulgaren ist an der Küste des Meeres Mayotis gelegen,
und diese Völker türkischen Ursprungs bewohnen, wenn ich nicht
irre, das siebente Klima." Die See Mayotis ist natürlich das
asowsche Meer, dass aber jemals die Bulgaren dort eine Stadt
gegründet hätten, ist nicht bekannt, richtig dagegen bemerkt er,
dass sie das „siebente Klima", das heisst den höchsten bekannten
Norden, bewohnten. Die ehemals berühmte Bulgarenhauptstadt
lag nämlich an der Wolga, etwas südlich von der Einmündung
der Kama. Dass der Araber die Bulgaren zu den türkischen
Völkern zählt, darf uns nicht irre machen, denn der Ausdruck
Türken war im Munde der Araber so allgemein, wie der Name
Skythen im Alterthum, und lange Zeit bei uns der Ausdruck Ta-
taren. Erst seit 310 (922 — 923 n. Chr.) waren die Könige der
Bulgaren zum Islam übergetreten.
Massudi berichtet nun weiter folgenden Vorfall. Ungefähr
im Jahre 300 (913 n. Chr.) gingen 500 Schiffe der Russen, jedes
bemannt mit 100 Streitern, den Canal hinauf, welcher das Meer
Nitas (Pontus) mit dem Meer der Chasaren (Kaspi-See) verbindet.
Als sie an die Stelle kamen, wo der Canal sich mit dem „Fluss
der Chasaren" vereinigt, erbaten sie beim Chasarenkönig die Er-
laubniss zur Durchfahrt. Sie wurde ihnen ertheilt, und die russi-
schen Kähne fuhren nun den Strom der Chasaren hinab, an dem
die Stadt Amol liegt, und hinaus in das Meer der Chasaren
(Kaspi-See). Dort plünderten sie alle dichter bewohnten Gestade :
Dschilan , Täbristan , Adserbaidschan und das Land Baku. Mit
Beute beladen kehrten sie wieder heim und wollten den Fluss der
Chasaren hinauf gehen. Inzwischen aber waren die Muhammedaner
im Chasarenreich , aufgebracht über die Räubereien, welche an
ihren kaspischen Glaubensgenossen begangen worden waren, zum
Chachan der Chasaren gegangen und hatten sich die Erlaubniss
erbeten, Rache an den Russen üben zu dürfen. Der Chachan
wollte es mit beiden Theilen nicht verderben , er gab also die
-jg Zur Geschichte der Geographie.
Russen preis, benachrichtigte sie aber heimlich von der drohenden
Gefahr. So kam es denn zur Schlacht, in welcher die Muhamme-
daner siegten und die Russen aufgerieben wurden bis auf 5000
Mann, die später den Barta in die Hände fielen.
Diese Begebenheit ist historisch und Massudi, der jene Länder
bereiste, konnte sie noch im frischen Gedächtniss bei den Ein-
wohnern finden. Auch die Zeitangabe stimmt ziemlich gut mit
andern arabischen Berichten zusammen. Schwieriger wird es
schon , zu errathen , wen man sich unter den Russen zu denken
habe. Massudi selbst gesteht uns, der Name Russ werde einer
Pluralität von Völkerstämmen ertheilt, unter denen der zahlreichste
die Lutaaneh (Letten, Litthauer) seien. Wir haben also die Wahl,
hinter den Russen entweder Petschenegen oder Waräger oder
ächte russische Slaven zu suchen. Allein noch schwieriger ist zu
enträthseln , wie die russischen Schiffe vom schwarzen ins kas-
pische Meer gelangen konnten. Zu Massudi's Zeit herrschte bei
den Arabern , wie eine Zeitlang auch im Alterthum , die Ansicht,,
das kaspische und das schwarze Meer ständen mit einander in
Verbindung. „Ich habe jene Begebenheit erzählt", bemerkt Mas-
sudi, ,,um diesen Irrthum zu widerlegen, denn wenn eine Verbin-
dung des Chasaren-Meeres mit der Mayotis (asowsches Meer) und
durch die Mayotis mit dem Meere Nitas (Pontus) sowie mit dem
Canal von Konstantinopel bestände, so würden die Russen, welche
dieses Meer (den Pontus) beherrschen , gewiss jene Verbindung
benutzt haben (um in das kaspische Meer zu segeln)."
Reinaud, der grösste Kenner der arabischen Geographie, erklärt
in seiner Vorrede zum Abulfeda diese Erzählung folgendermassen^).
Die Araber hielten den Don für einen Gabelarm der Wolga und
glaubten, dieser letztere Strom theile sich, um in das kaspische und
in das asow'sche Meer zu fliessen. Die Russen seien daher den
Don hinaufgegangen bis zu der Landenge, die er mit der Wolga bei
Tzaritzyn bilde , und dort hätten sie ausgeführt, was die cana-
dischen Pelzhändler eine Portage nennen , sie hätten nämlich ihre
Kähne aus dem Don in die Wolga getragen. In der That kann
sich auch die Sache so verhalten haben , und demnach wäre
also der ,, Strom der Chasaren", von dem Massudi spricht,
l) Die Herausgeber des Massudi haben sich nur auf eine Uebersetzung
eschränkt, ohne den, Text zu erklären.
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. ■jg
die Wolga, und die Chasarenhauptstadt, die er Amol nennt, hätte
an der Wolga gelegen, vielleicht an der Stelle, wo jetzt Astrachan
liegt oder Sarai, die Hauptstadt der Usbekenchane vom Kiptschak,
im 13. und 14. Jahrhundert lag.
Allein die Wolga kann nicht der ,, Strom der Chasaren"
heissen. Sie führt bei den Arabern ihren älteren Namen Itl, den
die Byzantiner unter der Form Attila kennen , während sie früher
bei den alten Griechen bekanntlich Rha hiess. Zu Massudi's Zeit
sassen an der Wolga auch nicht Chasaren, sondern Bulgaren;
wenn man also den Strom nach seinen Anwohnern hätte benennen
wollen, so würde man ihn den Wolgarenfluss genannt haben. Es
ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die Russen den Don nur
bis zur Mündung des Manytsch hinaufgingen und vom Manytsch
durch die Kumaniederung in die kaspische See gelangten. Dass
eine solche Verbindung früher bestanden haben kann, ist durch die
Arbeiten des Dr. Bergsträsser (Petermann's geogr. Mitth. 1859,
Blatt III) erst ganz neuerdings bewiesen worden. Dadurch erspart
man sich die Hypothese einer Portage über den Isthmus von
Tzaritzyn, die etwas schwierig gewesen wäre, da die Russen Fahr-
zeuge tragen mussten, die 100 Mann fassen konnten. Das cha-
sarische Amol aber muss man in der Kuma-Manytschniederung an
dem Manytsch oder der Kuma suchen.
Die „heiligen Feuer" von Baku werden von Massudi ver-
dientermassen erwähnt. Auf dem Gebiet der Naphthaquellen, be-
merkt der Araber, läge auch ein Vulkan, der beständig Feuer
auswerfe. Die Flammen erhöben sich bisweilen so hoch, dass man
sie vom (kaspischen) Meer aus auf 100 Parasangen Entfernung
sehe. Da 22 Parasangen auf einen Grad des grössten Kreises
gerechnet werden und 100 daher etwa 70 deutsche Meilen be-
tragen, so ist die obige Angabe eine morgenländische Uebertrei-
bung. Auch das ist ungenau, dass er den Vulkan von Baku mit
dem Djebel el Borkan auf Sicilien (Aetna) vergleicht, denn die
Vulkane von Apscheron werfen jetzt nur noch Schlamm aus, be-
gleitet von Flammenausbrüchen (Kosmos IV, p. 255). Von allen
Feuerbergen der Erde , fährt der Araber fort , sei durch die Fre-
quenz und die Heftigkeit seiner Ausbrüche der Vulkan im ,, König-
reich des Maharadscha" der berüchtigtste. Der Maharadscha, von
dem er spricht, ist bekanntlich der König der Sabedsch oder
Javanen; da sich aber die Herrschaft der Sabedsch über Sumatra
^O Zur Geschichte der Geographie.
SO gut wie über Java erstreckte, so haben wir die Wahl, entweder
an einen javanischen oder sumatranischen Vulkan zu denken. Den
zweiten Rang nehme der Vulkan von Esch-Schihr zwischen dem
jemenischen Arabien und Oman an der Küste von Hadramaut
ein. Er werfe glühende Kohlen aus, welche, setzt Massudi richtig
hinzu, nichts sind als flüssig geschmolzene Steine ').
Den Schluss des Werkes bildet eine Schilderung Aegyptens.
,,Ein Gelehrter", sagt Massudi, ,, beschreibt uns das Land Aegypten
folgendermassen. Während drei Monaten ist es eine weisse Perle,
während anderer drei Monate schwarzer Moschus, im dritten Quartal
ein Smaragd, und im letzten ein Goldbarren." Das soll heissen,
dass vom Juni bis September während der Nilüberschwemmungen
das Land einer weissen Wasserfläche gleiche, aus welcher, sagt
Massudi vortreffHch, die einzelnen hoch liegenden Gehöfte wie
Inseln auftauchen, so dass sie nur auf Barken miteinander ver-
kehren können. Vom October bis December kommt der schwarze
Nilschlamm zum Vorschein, der einen angenehmen Geruch wie
Moschus verbreitet. Vom Januar bis März schimmern die Saaten
smaragdgrün und verwandeln sich in Goldbarren gegen die Zeit
der Ernte hin. Von allen Flüssen der Erde, bemerkt Massudi,
heisst der Nil allein Bahr (Meer) im Arabischen 2). Sobald die
Ueberschwemmungen 16 arabische Ellen am Nilmesser in Fostat
(Alt-Cairo) erreichen, sind die Einkünfte des Sultans und die Er-
nährung des Volkes gesichert, das heisst eine gute Mittelernte zu
erwarten. Siebzehn Ellen -sind das Aeusserste einer guten Ernte.
Wenn der^ Strom auf achtzehn steigt , schadet er nicht bloss der
Ernte, sondern jedesmal nach dem Fallen des Wassers stellen sich
auch Seuchen ein. Achtzehn Ellen hält man für das Aeusserste,
doch sei im Jahre 97 (717) ein Wasserstand von ig Ellen beob-
achtet worden. Steigt der Strom aber nur auf 13, 14 oder 14^2
Ellen, so steht dem Lande Hungersnoth bevor, und es werden in
den Moscheen Gebete gelesen. Aber sobald der Nil 15 Ellen er-
reicht hat, werden die Gebete eingestellt. Dann bedeckt das
Wasser zwar nicht alle Felder, und der Sultan darf nicht alle
Zehnten erheben, aber der Unterhalt des Volkes ist doch ge-
1) Hier folgen Proben von Massudi's werthlosen Angaben aus der Ge-
schichte der Perser, Griechen, Römer und des ersten Christenthums. A. d. H.
2) Daher sagen wir Bahr el Abiad, weisser Fluss oder weisser Nil, Bahr
cl Azrak, blauer Fluss oder blauer Nil.
Massudi's goldne Wiesen und Edelsteingruben. 41
sichert. Massudi kennt drei Nilmesser : den von ISIemphis , den
auf der Insel Es-Sanaah (Rudah) und den Nilmesser, welchen Su-
leiman, der Sohn des Abd-el-MeHk, bei Fostat (Alt-Cairo) erbauen
Hess. Die Ellen an diesem Nilmesser, behauptet Massudi, hätten
vom Nullpunkt bis zur 12. Elle 28 Zoll, von der zwölften Elle
aufwärts 24 Zoll. Ob diess wirklich bei dem Nilmesser von Fostat
der Fall war, wissen wir nicht. Die arabische Elle am Nilmesser
von Rudah dagegen ist die schwarze Elle des Chalifen el Mamum
und 540,7 Millimeter oder 239,69 Par. Linien lang. (Böckh,
Metrologie S. 247.)
Manchem Leser des Massudi wird es auffallen, dass der
Araber als Erbauer der Pyramiden Joseph, den Sohn des Jacob,
bezeichnet. Doch weiss der Araber recht gut, dass die Pyramiden
Begräbnissplätze der Pharaonen gewesen sind. Der Glaube, dass
die Pyramiden von Joseph erbaut worden seien, war schon früher
weit im Abendland verbreitet, denn Dicuil, ein irischer Mönch des
neunten christlichen Jahrhunderts, beschreibt uns eine Nilfahrt von
Pilgern, die nach Jerusalem gingen und welche die Pyramiden ,,die
Kornspeicher des Joseph" nennen.
Ueber die Frage der Nilquellen beruft sich Massudi auf die
Aussage eines koptischen Gelehrten. Der Nil fliesse aus einem
See, dessen Länge und Breite unbekannt seien und der dort liege,
wo die Tage und Nächte das ganze Jahr über gleich seien. Die
Araber waren sehr erfinderisch mit ihren Niltheilungen. Bald sollte
der Nil sich spalten und einen Arm nach Westafrika bis zum
atlantischen Meer senden (Nil von Ganah, Niger), bald einen
Arm nach Osten. Diesen letztern kennt auch Massudi. Er fliesse,
sagt er, nach dem Lande der Zendsch und ergiesse sich in das
Meer der Zendsch. Die Zendsch-Neger sind bekanntlich die Neger
von Sansibar, denn Sansibar heisst die Küste der Sandsch (Azania
bei Ptolemäus und dem anonymen Verfasser des erythräischen
Periplus). Massudi will also sagen, dass einer der Flüsse Ost-
afrika's, entweder unser Dschub oder der Webi gamana, ein Seiten-
arm, des Nil sei. Wir haben nicht das Recht, uns über diesen
hydrographischen Irrthum zu verwundern, denn bis vor zwei
Jahren noch wurde der Godscheb für einen Zufluss des Nil ge-
halten, während wir jetzt wissen, dass Godscheb der Quellenname
des Dschub ist.
Wir beschliessen unsere Ueberschau mit zwei Notizen. Die
42
Zur Geschichte der Geographie. Massudi's goldne Wiesen etc.
eine ist ein arabisches Sprüchwort über die Unzuverlässigkeit der
Bewohner des steinigen Arabiens: „Misstraut den Freigelassenen,
der Begeisterung der Jugend, einer Armee von Sklaven und den
Nabatäern, die Araber geworden sind." Die andere Angabe ist
wichtig für die Geschichte der Verbreitung unsrer Citrusarten,
Massudi behauptet sehr bestimmt, dass nach dem Jahre 300
(912 n. Chr.) die Orangen und die runden Citronen aus Indien
zunächst nach dem Oman, dann nach Basrah am persischen Meer-
busen, später nach dem Irak und nach Syrien gebracht, hierauf
aber sehr rasch gemein wurden nicht bloss in Syrien und Palä-
stina, sondern auch in Aegypten. Massudi, der um die damalige
Zeit reiste, ist ein guter Gewährsmann, Gewöhnlich nimmt man
an, dass die Orangen erst durch die Portugiesen ins Abendland
gelangten.
3. Der arabische Geograph
Ibn-Chordadbeh.
(Ausland l866. Nr. 14. 3. Apr.)
Im frühen Mittelalter haben die Araber eine nicht unrühm-
liche Stellung als Geographen eingenommen. Sie verdankten diesi:
hauptsächlich ihrer Bekanntschaft mit den Meisterwerken der
griechischen Astronomen und Geographen. Das scholastische
Mittelalter empfing erst durch die Araber aus zweiter Hand die
Ergebnisse der alexandrinischen Gelehrten wieder, und die Ueber-
legenheit der deutschen Geographen am Ende des 15. und am
Beginn des 16. Jahrhunderts gründete sich darauf, dass sie von
neuem aus dem Urquell, aus den griechischen Texten, zu schöpfen
begannen und die mathematischen Methoden des Ptolemäus ein-
führten, welche noch bis auf den heutigen Tag gelten. Aber auch
als Topographen und als Länderbeschreiber haben die Araber
vortreffHches geleistet. Der erste arabische Geograph, dessen An-
gaben in die Länderkunde europäischer Gelehrten und zwar schon
im 16. Jahrhundert Eingang fanden, war Abulfeda, dann folgten
Jaqut und Edrisi. Der erste und der letzte galten lange als
die besten Vertreter des arabischen Wissens , bis man sich in
neuerer Zeit überzeugte, dass sie nichts weiter gewesen sind als
Compilatoren , die ihre Stoffe aus älteren Originalnachrichten zu-
sammentrugen und zusammenmischten. In neuerer Zeit ist man
mehr und mehr auf die Urberichte zurückgegangen, auf die Nach-
richten arabischer Chinafahrer, die in Syraf gesammelt wurden,
aufMassudi, Ib n Fosslan undandere. Zu den ältesten Original-
schriftstellern gehören aber drei: Qodama, Moqaddasi und
Ibn-Chordadbeh. Die beiden ersten hat bisher Sprenger durch
AA Zur Geschichte der Geographie.
Auszüge bekannt gemacht, der letztere ist jetzt im Text und
durch Uebersetzung von Barbier de Meynard zugänglich gemacht
geworden 0-
Leider hatte der Herausgeber nur den verstümmelten und
vielfach beinahe unleserlichen Oxforder Text vor sich, von dem
er unter andern bemerkt, dass er die Eigennamen entweder ohne
diakritische Zeichen oder nur willkürlich punktirt enthalte. Bei
diesen Worten überläuft wohl jeden Kundigen ein kalter Schauder.
Selbst mit den diakritischen Punkten werden arabische Eigennamen
gewöhnlich verschieden gelesen; ohne sie oder bei nachlässiger
Punktirung hört im Grunde alles Lesen auf, es bleibt vielmehr
gar nichts übrig als die arabischen Buchstaben in den Text zu
setzen. Wie unser Freund Sprenger in den Post- und Reiserouten
schon bemerkt hat, sind solche unleserliche arabische Ortsnamen
Hieroglyphen, die geschrieben aber nicht ausgesprochen, und deren
Synonyme vorläufig gar nicht gefunden werden können. Man
muss sie so lange in der Wissenschaft herumschleppen, bis einmal
ein besserer Text die richtige Schreibart enthält und der syno-
nyme Name bezeichnet werden kann. Glücklicherweise giebt es
noch eine zweite Handschrift des Chordadbeh in Konstantinopel;
allein da sie Moscheeneigenthum ist, durfte sie nicht nach Paris
gesendet werden, wohl aber verglich der frühere türkische Bot-
schafter in Paris, der gelehrte Ahmed Vefyk-Efendi , Barbiers ab-
schriftlichen Text mit dem Moscheen-Exemplar und trug an Ort
und Stelle die Varianten hinein.
Ueber Chordadbeh ist wenig bekannt geworden. Wäre er
ein noch so kleiner Dichter oder gar ein Philolog gewesen, be-
merkt der französische Herausgeber bitter, so hätten die Araber
für eine Biographie gesorgt. Um einen Geographen, der kein
Sprachenkünstler war, kümmerten sie sich blutwenig. Doch wissen
wir immerhin so viel, dass er aus einer persischen Familie stammte
und sein Grossvater vom Parsismus zum Islam übertrat. Er
selbst wurde am Beginn des dritten Jahrhunderts nach der Flucht
geboren und war Generalpostmeister im Dschebal oder dem alten
Medien unter dem Chalifen Mutamid (256—272). Das Postwesen
bezeichnen die Araber mit dem Wort berid, welches nach Reinauds
Vermuthung, der Barbier beitritt, von dem lateinischen Worte
l) Le livre des routes et des provinces par Ibn-Khordadbeh.
Der arabische Geograph Ibn-Chordadbeh. ^c
V e r e d u s abzuleiten ist, das ein Courirpferd bedeutet, und aus welchem
Wort bekanntlich unser deutsches Pferd abstammt. Die Posten
waren in der Chalifenzeit vortrefiflich organisirt, denn die Erhal-
tung des Reiches hing von der Pünktlichkeit des Dienstes ab.-
Zu Generalpostmeistern, durch deren Hände die Depeschen gingen,
wurden daher nur sehr vertrauenswürdige Personen auserwählt ;
denn in Folge von saumseliger Beförderung einer Nachricht konnte
eine ganze Provinz verloren werden.
Ibn-Chordadbeh's Strassenbuch gehört zu der Classe von
Werken, die wir auch in Deutschland im i6. Jahrhundert unter
den Titeln „Postreiter" oder „Reisebücher" antreffen, und die wir
veredelt, weiter ausgeführt und für eine besondere Reise-Absicht
eingerichtet, jetzt selbst im Gebrauch haben, und nach ihrem
Verfasser als „Bädeker", „Berlepsch" u. a. bezeichnen. Indessen
ergiebt sich aus den Citaten dritter Schriftsteller, dass der jetzt
vorhegende Text des Chordadbeh nur als eine Abkürzung aus dem
viel reichhaltigeren Post- und Reisebuch des Arabers zu be-
trachten ist.
Das Buch beschreibt nämlich die verschiedenen Poststrassen
mit Angabe der Orte, ihrer gegenseitigen Entfernung mit gelegent-
Hchen Bemerkungen über ihre Bedeutung und die Producte der
Umgegend, ausserdem enthält es aber eine äusserst specialisirte
Statistik über den Ertrag der Abgaben in den östlichen Provinzen
zur Zeit des Verfassers.
Der eigentlichen Strassenbeschreibung geht eine allgemeine
kosmographische Einleitung voraus , wo die Kugelgestalt der Erde
und die Inselnatur der alten Welt behauptet wird, von welcher
nur der nördHche Quadrant (die oly.ovf.i8vr] der Griechen , das
bewohnte Kugelviertel), als bewohnbar angenommen, die austra-
lische Hälfte der östlichen Hemisphäre aber als Wüste, als „ver-
sengtes" Land angesehen wurde. Den Aequatorialumfang der
Erde giebt der Postmeister auf gooo Parasangen oder persische
Meilen an, von denen er 25 auf einen Grad der grössten Kreise
rechnet. Jede Parasange schätzt er zu 12,000 Ellen, die Elle zu
24 Zoll. Die Meile der arabischen Astronomen galt 4000 schwarze
Ellen zu 27 Zoll. Das Verhältniss der astronomischen Meilen
(ä 108,000 Zoll) zu den persischen Parasangen (ä 288,000 Zoll)
wäre also nach Chordadbehs Angabe 3 : 8 gewesen und der Werth
eines Erdgrades würde nach seiner Rechnung auf 6 6 2/3 arabische
«6 Zur Geschichte der Geographie.
astronomische Meilen sich belaufen, während die arabischen Aslrc-
nomen unter Mamun nur 56^/3 fanden, und selbst dann sich von
der wahren Grösse, die 51V3 Meilen beträgt, noch ziemlich weit
entfernten. In allen diesen Angaben der Araber herrscht die
grösste metrologische Nachlässigkeit, und es ist höchst wahr-
scheinlich, dass sie zufrieden waren, wenn sie sich der Wahrheit
nur einigermassen näherten. Auf 10, ja 20 Procent ab und zu
ist es ihnen nicht angekommen.
Ein Reihe ausgezeichneter Gelehrten haben sich der Illusion
hingegeben, dass sowohl die Griechen wie die Araber die Grösse
der Erde genauer gekannt haben müssten; allein man übersieht,
dass es beiden völlig an den Instrumenten fehlte, um genau einen
Erdbogen zu messen. Der einfachste Fall, und auf ihn lassen
sich alle verwickeiteren zurückführen, wie man die Erde messen
kann, besteht darin, dass man sich von Nord nach Süden bewegt
und der Erde entlang die zurückgelegte Entfernung mit Stäben
oder Ketten misst. So thaten es Norwood (1635), Mason und
Dixon in Penn^ylvanien (1764). Oder man begnügt- sich die
Schritte von Thieren oder Menschen zu zählen, wie es vermuthlich
von den Arabern geschah, oder man addirt die Entfernungen von
einem Ort zum andern, nach den populären Stundengaben, wie
es von Eratosthenes (starb 194 v. Chr.) und von Orontius Fin-
näus (1550) versucht wurde. Auf diesen Wegen gelangt man zu
mehr oder minder genauen Entfernungen der beiden Endpunkte
des Erdbogens. Die Irrthümer, welche beim Schrittzählen unter-
laufen, sind viel kleiner als man sich denkt. Der Schritt eines
Kamels z. B. lässt sich viel genauer bestimmen als die Geschwin-
digkeit eines Schiffes mit dem Log, und gute Logrechnungen
(Gissungen) weichen in der Regel nicht um 2—3 Proc. von der
Wahrheit ab. Also hätten immerhin die Araber, auch wenn sie
nicht nivellirten und triangulirten, bei gehöriger Vorsicht den nord-
südHchen Abstand zweier Orte, also die Länge eines Erdbogen-
stückes, bestimmen können. Allein die Schwierigkeit lag weit
mehr darin, dass man die geographischen Breiten oder die Pol-
höhen der Endpunkte des gemessenen Erdbogens nicht mit gehöriger
Genauigkeit zu bestimmen vermochte. Wenn ihr gemessener Erd-
bogen einen Meridiangrad lang war oder 60 Bogenminuten, und
sie irrten sich nur um 5 Minuten, so gab das einen Fehler von
Vi 2 in der Erdbogengrösse. Die Breite eines Ortes zu finden ist
Der arabische Geograph Ibn-Chordadbeh. aj
eine mühsame Arbeit. Der genaueste Beobachter des i6. Jahr-
hunderts , Tycho de Brahe , täuschte sich noch um einen halben
Grad in der Bestimmung seiner Sternwarte bei Uranienburg,
obgleich er vielleicht zehn Jahre und länger daran arbeitete ;
Snellius, der grosse niederländische Mathematiker, welcher zuerst
einen Erdbogen trigonometrisch gemessen hat, irrte sich noch
1617 um 2 Bogenminuten bei der Bestimmung seiner Polhöhen.
Als Bouguer und Lacondamine den peruanischen Erdbogen massen
mit den besten optischen Instrumenten ihrer Zeit, also mit ver-
grössemden Fernrohren, welche die Messungen ausserordentlich
verschärft hatten, wurde nach zweijähriger Arbeit ein Fehler
entdeckt, der noch eine halbe ]\Iinute betrug 1 Bouguers und
Lacondamine's Instrumente standen aber, was die Genauigkeit
betrifft, zu den Instrumenten, deren sich die Araber bedienten, im
Verhältniss wie etwa ein jetziges gezogenes Geschütz zu den
Kanonen, die Muhammed II. bei der Belagerung Konstantinopels
verwendete. Auch übersieht man ferner, wenn man den Arabern
eine unmögliche Genauigkeit zutraut, dass sie noch gar nicht die
Fehlerquelle der gnomonischen Breitenbestimmung entdeckt hatten.
Ein Gnomon, der aufrechtstehende Zeiger einer Sonnenuhr, hefert
am Mittag zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen einen Winkel,
gemessen von der Spitze des Schattens nach der Spitze des Gno-
mons, welcher die Höhe der Sonne annähernd ausdrückt. Die
Höhe der Sonne, abgezogen von 90 Grad, ist in diesem Falle die
Polhöhe oder geographische Breite des Ortes. Alle astronomischen
Breitenbestimmungen des Alterthums sind auf diese Art gefunden
worden, und sie würden genau sein, wenn die gerade Linie, vom
Endpunkte des Schattens nach der Spitze des Gnomons gezogen,
in ihrer Verlängerung den Mittelpunkt der Sonnenscheibe treffen
würde. Sie führt aber nicht nach dem Mittelpunkte, sondern nach
dem obern Rande der Sonne, so dass also der gefundene Winkel
nicht die gesuchte Höhe des Sonnencentrums , sondern die Höhe
des obern Sonnenrandes über dem Horizont angab. Er war also
stets um einen halben Sonnendurchmesser — beiläufig um sechzehn
Bogenminuten — zu steil und die daraus abgeleiteten Polhöhen
um sechzehn Bogenminuten oder etwas mehr als ein Viertelbogen-
grad zu niedrig. Die Astronomen des Alterthums sind diesen
Fehler nie inne geworden , und daher sind alle ihre Breiten-
bestimmungen um etwa einen Viertelgrad zu niedrig ausgefallen.
48 Zur Geschichte der Geographie. Der arab. Geograph Ibn-Chordadbeh,
Man findet aber die Polhöhe eines Ortes viel rascher und in jeder
klaren Nacht, wenn man die Höhen eines und desselben Gestirns
bei seinem obern und bei seinem untern Durchgang durch die
Mittagslinie misst. Die halbe Summe beider Höhen ist die ge-
suchte Polhöhe. Sowie man die Ergebnisse der Breitenbestim-
mungen aus Sternenhöhen mit den Breitenbestimmungen aus den
gnomonischen Sonnenhöhen verglich, musste, sobald die Winkel-
messung die Schärfe von 7* Grad überschritt, sogleich entdeckt
werden, dass der obere Rand der Sonne die Schattenlänge des
Gnomon bestimmte. Als die Araber unter dem Chalifen el Mamun
ihre beiden Erdbogen massen, war jene Fehlerquelle nicht entdeckt.
Erst 200 Jahre später fand sie Ibn Junis (f 1008 n. Chr.); diess
lässt vermuthen, dass die Messinstrumente zur Zeit der arabischen
Erdbogenmessung noch keine unbedingte Sicherheit bei den höhern
Bruchtheilen eines Bogengrades gewährten. War diess aber der
Fall, dann war überhaupt der Versuch, die Erdbogengrösse zu
bestimmen, ein verfrühter, oder er konnte nur zu ganz rohen
Gränzzahlen führen. Hätte er sich aber der Wahrheit wider Er-
warten sehr angenähert, so gebührt das Verdienst nur dem Zufall,
der die eingetretenen Fehler glücklich compensirte.
4. Christian Lassen über die Geschichte
des indischen Handels im Mittelalter.
(Ausland 1862. Nr. 8. 19. Februar.)
Der vierte Band von Chr. Lassens grossem Geschichtswerke ^),
welcher bis zum Auftreten der Portugiesen reicht, enthält im
culturgeschichtlichen Theil auch eine Darstellung des älteren Handels
mit Indien und eine Erklärung der wichtigsten geographischen
Quellen, der „arabischen Berichte" aus dem neunten Jahrhundert,
sowie der spätem arabischen Geographen, der Reisen des Vene-
tianers Marco Polo und des grössten geographischen Wanderers
aller Zeiten, des Ibn Batuta. Lassen bringt auch in diesem Bande
noch einmal einen vielgeschmähten und vernachlässigten Geo-
graphen des spätesten, Alterthums , den Markianos aus Heraklea,
zu Ehren, ,,der eine genauere Bekanntschaft mit den indischen
Archipeln beweise, als der grösste Geograph des Alterthums"
(Ptolemäus). Dann weist er nach, dass die Inder selbst sich damals
noch am SeehandeF betheiligten, obgleich nach indischer Vor-
stellung der Kastenverlust als Strafe auf die Entfernung ausserhalb
Indiens steht. Die Reise des Jambulos (in dem ersten Jahrhundert
V. Chr.), deren Ziel nach Lassen nicht Java, sondern Bali gewesen
ist, belehrt uns vom Gegentheil. Ferner hatten sich indische
Priester in der Stadt Bramma südHch vom ptolemäischen Kattigara
(nach Lassen Canton) am Flusse Ngannan-kiang angesiedelt, den
sie Ambastos nannten, oder vielmehr sie nannten den Fluss nach
den Chinesen in der Nähe des Flusses , die sie mit der unreinen
Kaste der indischen Ambastha vergHchen. Der chinesische Pilger
i) Indische Alterthumskunde. Leipzig 1861.
Pcschfl, Abhandlungen. II.
CQ Zur Geschichte der Geograplüe.
Fahien, der bekanntlich nach Ceylon zog um dort buddhistische
Bücher einzukaufen, ging zu Schiff im Jahre 411 von Tamralipta
nach Java.
Im Jahr 420 var in China die Songdynastie erstanden, und
mit dieser erschloss sich ein unmittelbarer Verkehr zwischen China
und Indien, der seitdem bis in das späte 14. Jahrhundert fort-
dauerte, denn selbst zwischen 900 und 1147 will Lassen keine
Unterbrechung annehmen. Die mongolische Dynastie der Nach-
folger Dschingiskhans war diejenige, welche den Verkehr mit 'Uem
Abendlande am meisten förderte, nicht nur beweist diess die Ge-
schichte der beiden venetianischen Poli, sondern noch weit mehi
der Franziscaner- Missionen, insofern damals das Christenthum eine
grössere Verbreitung in China besass als heutigen Tages. Leider hat
Lassen auf diese Missionen und auf die geographischen Berichte der
Missionäre nirgends Rücksicht genommen. Zur Erklärung Marco
Polo's benutzt Lassen den vorzügUchen Commentar des Engländers
Marsden, und seltsamerweise auch den sehr mittelmässigen deutschen
von Bürk , während er den neuen italienischen nicht zu kennen
scheint. Auch Lassen nimmt an , dass Maabar in der Sprache
des Marco Polo den südHchsten Theil Indiens bezeichne, über das
vielgesuchte Koil oder KoeV des Venetianers beschränkt er sich
aber auf die schon bekannte Thatsache, dass im Tamilischen
dieses Wort Tempel bedeute. Zur Erklärung des Ibn Batuta,
der 1346 nach Bengalen kam, bemerkt er, dass bei ihm die Insel
Sumatra den befremdlichen Namen Dschaona führt, und dass unter
dem Lande Tuäligeh nur Tonkin, unter dem ersten chinesischen
Hafenplatz Sin-ossin oder Sin-kilän, den der Araber erreicht, aber
Canton zu verstehen sei ; in Sin-kilän sieht er eine arabische Ver-
stümmelung des Namens Tsching-kuang, an welchem Flusse Canton
liegt. Die Malaju oder Malayen treten erst spät in den indisch-
chinesischen Handel ein, denn erst seit 1283 gründen sie Singapur,
und, was man nie ausser Acht lassen darf, erst um 1415 die
Stadt Malaka.
Für den abendländischen Handel war es sehr wichtig, dass
die Könige von Aethiopien, d. h. die abessinischen Herrscher
(den mittelalterlichen Geschichtschreibern unter dem seltsamen
Titel Erzpriester Johannes bekannt, deren Reich die Portugiesen
von der Zeit Heinrichs des Schiffers bis auf Vasco de Gama auf-
zusuchen getrachtet haben) 71 oder 72 Jahre lang, bis 601 nach
Lassen über die Geschichte des indischen Handels im Mittelalter
51
Chr. G. das arabische Jemen besassen und mit den byzantinischen
Kaisern in Allianz standen. Welchen Einfluss diess auf den
alexandrinisch-indischen Handel haben musste, braucht nur ange-
deutet zu werden. Um 601 eroberten aber die persischen Sasa-
niden Jemen, und Hessen es von ihrep Vicekönigen verwalten,
von denen man acht kennt. Immer und zu allen Zeiten bis fast
auf unsere Tage haben einzelne Völker das Monopol des Zwischen-
handels zwischen Indien und dem Abendlande festzuhalten gesucht.
So trachteten auch die Perser den Strom der kostbarsten Handels-
güter: der Seide aus China, der Gewürze Südasiens, und der
Edelsteine aus Ceylon in den persischen Meerbusen hineinzulenken.
Zu den Zeiten der Sasaniden waren die Ausschiffungspunkte der
Indienfahrer Charax an der Tigrismündung, nach Markianos von
Heraklea, und Teredon am westlichen Ufer des Passitigris (Amm.
Marcelhnus), in deren Nähe die Hauptstädte der Sasaniden Ktesiphon
und Dastagerd lagen. Auch Apologoi (Obollah) und Omana an
der karamanischen Küste wurden von den Indienfahrern besucht.
Endlich blühte das arabische Hira auf, ein wichtiger Vermittlungs-
platz im Südwesten der Euphratmündung und durch einen Kanal
mit dem jSIeer verbunden.
Aus der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts stammen
bekanntlich die Berichte des Indienfahrers Kosmas, eines alexan-
drinischen Kaufmanns , dessen „christliche Geographie" diese
letztere Wissenschaft von der ptolemäischen Höhe hinabstürzt auf
die ersten Anfänge des Anaximander. Die indischen Häfen, die
er kennt, sind Sindu, d. h. eine Stadt an der Indusmündung wie
das heutige plötzlich aus dem Nichts zum ersten mercantilen Rang
aufgestiegene Karradschi. Und an der Stelle dieses Platzes sucht
Lassen das Sindu des Kosmas, welches er wieder identisch hält
mit dem Nausthatmos bei Ptolemäus und Markianos. Der zweite
Seehafen an der indischen Westküste wird von Kosmas Oriatha
genannt, ist aber leicht zu erkennen als Soratha (Surate). Kaliana
ist das geschichtUch so berühmte Kaljani, Sibor oder richtiger
Suppara, das Sürpäraka der Inder. Das Male in der Sprache
des Kosmas erklärt auch Lassen alsMalabar; von den fünf Häfen,
die der Alexandriner an dieser Küste kennt, vermag aber der
gelehrte Indianist nur die muthmassliche Lage anzugeben, denn
entweder sind diese Hafenplätze aufgegeben oder ihre Xamen ver-
ändert worden. Der äusserste Punkt (und die äussersten Pimkte
4*
e2 Zur Geschichte der Geographie.
sind ja das wichtigste in der Handeisgeschichte) den die Perser
auf der Koromandelseite erreichten, hiess Kahir, und lag an der
Mündung des Kaveri (Kaberis bei Ptolemäus).
Der mächtigste der Sasaniden, der Khosru (Cäsar, Kaiser)
Anushirvan (531 — 578) rückte durch die Eroberung Beludschistans
die Grenzen seines Reiches bis nach Indien vor. Unter ihm
brachte Barzujeh eine berühmte Fabelsammlung, das Pantscha-
tantra, aus Indien nach Persien, wo es in die Huzvareschsprache
übersetzt wurde. Ebenso streitet Lassen für den indischen Ursprung
der ,, Geschichte der sieben Wesire" von Sindbad oder vielmehr
Siddhipati. So entstand durch persische und arabische Zusätze
bereichert die Märchensammlung von Tausend und Einer Nacht,
deren werthvollsten Bestandtheilen aber Indien als Heimath an-
gewiesen werden muss. Unter Nushirwans wurden vermuthlich die
Perser auch mit dem Schachspiel bekannt, welches im Anfang
des dritten chrisdichen Jahrhunderts in Indien erfunden worden
war. Das giebt der Geschichte des Handels aber gerade ihren
hohen Werth , dass sie uns zugleich belehrt über den Austausch
der edelsten Erzeugnisse eines Volkes, seiner Religion, seiner
Poesie, seiner Erfindungen.
Nach dem Sturz der Sasaniden wurden die Chalifen Beherrscher
des persischen Meerbusens, der noch sehr lange Zeit (bis auf die
spätem Mamluken) den indisch - europäischen Handel fast aus-
schliesslich vermitteln sollte. Dieser neue politische Wechsel war
ihm eher förderlich als nachtheilig, nur ist es jetzt Bassora oder
Basra, jvelches die Waaren aus Indien aufnimmt, und sie auf der
Täbris- Trapezunter -Route dem griechischen Handel überliefert.
Die alte Landstrasse nach China, die man kurzweg als die bactrisch-
serische , oder als die über Balch nach der Dsungarei führende
bezeichnen darf, wurde natürlich beständig besucht. Bei Balch
verzweigte sie sich um dem Lauf des Oxus zu folgen, und
entweder nördlich oder südlich vom Kaukasus das schwarze Meer
zu erreichen. Es ist natürlich , dass in den Zeiten der Völker-
wanderungen öfters diese Verbindung unterbrochen , dann aber
immer wieder erneuert wurde. Den grössten Flor besass die
europäisch-chinesische Karawanenstrasse während der mongolischen
Herrschaft, zur Zeit wo der florentinische Commis Balducci Pe-
golotti schrieb.
Aus der Zeit der grossen Abassiden-Chalifon und zur Blüte-
Lassen über die Geschichte des indischen Handels im Mittelalter.
53
zeit Basra's , wo die Chinesen mit ihren Dschunken bis in den
persischen Meerbusen hineinliefen, stammen die sogenannten ara-
bischen Reiseberichte, die zuerst von Renaudot unter den Pariser
Handschriften entdeckt und übersetzt (171 8), dann lange Zeit
wieder vermisst, und endlich 1845 ^on Reinaud in doppeltem
Text herausgegeben worden sind. Sie bestehen aus zwei Theilen,
aus einem 841 n. Chr. verfassten Bericht des Indienfahrers Su-
leiman, und aus einer gleichzeitigen Zusammenstellung Abu Zaids
aus Siraf, der nicht selbst in Indien und China gewesen war,
sondern nur die Berichte anderer Kaufleute, namentlich des China-
fahres Ibn Vahab, benutzt hat. Aus ähnlichen Quellen, wie er,
hat der gelehrte Geograph Massudi und später Edrisi geschöpft.
Die Araber nun theilen den Seeweg von Basra bis nach China
in sieben sogenannte Meere. Das erste, das Meer von Fars,
ist der persische Meerbusen ; und das zweite, von ihnen Lariwe
genannt, endigt bei den malabarischen Grosshäfen. Das dritte
ist das Meer von Harkand , Avelches bei Serendib (Ceylon) die
(angeblich) 1900 Inseln der Malediven und Lakediven und Su-
matra umspült. Lassen möchte den Namen Harkand durch
Harikhanda erklären , das Land des Hari oder Wischnu. Der
malabarische Haupthafen heisst bei den Arabern Kulam-Mali, und
kann nur Kollam (Quillon) in Malaja oder Malabar sein. Die
Araber lernten dort die Vairägjin d. h. frei von Leiden-
schaften, wie die indischen Büsser heissen, kennen. Sie führten
ein Einsiedlerleben, verschmähten alle Kleidung, liessen Haar und
Nägel wachsen , und assen aus einem Todtenschädel. Die eigen-
thümliche Form des indischen Criminalprocesses , nämlich die
Feuer- und Wasserproben, werden ebenfalls von den Arabern gut
beschrieben. Die Araber kennen endlich in Südindien das Land
Kamar oder Kumar, dessen Hauptstadt an einem Strom in einiger
Entfernung vom Meer lag und die Lassen für Madhura erklärt.
Kamar ist die von den Tamilen bewohnte Südspitze Indiens , da
uns schon der Name auf Cap Comorin verweist. Die Insel
Serendib mit dem Adamspik und ihren Perlenfischereien beschreiben
alle Araber so deutlich, dass immer Ceylon in ihr erkannt worden
ist. Den Namen Serendib, eine Verstümmelung aus dem Sanskrit-
namen der Insel, kennt übrigens schon Ammianus Marcellinus und
der Indienfahrer Kosmas.
Bis dahin sind die arabischen Erzählungen ganz klar , und
c i Zur Geschichte der Geographie.
man kann nie sehr weit fehl gehen, welche Länder sie beschreiben.
Von da ab scheinen aber ihre Berichte in die grösste Verwirrung
zu gerathen. Lassen folgt in seinen Erklärungen meist Herrn
Reinaud, einem der grössten jetzt lebenden Orientalisten und treff-
lichen Kenner Indiens. Allein auch Reinaud hat hin und her ge-
rathen, und manches was er 1845 gesagt hatte, in seiner berühmt
gewordenen Discours preliminaire zur Geographie des Abulfeda
wieder geändert. Leider hat Lassen nicht die unschätzbare Ab-
handlung des Herrn Ed. Dulaurier^ benutzt, eines vortrefifUchen
morgenländischen Sprachkenners und eines guten Geographen,
der sich leider jetzt von seinen südasiatischen Studien ab und der
armenischen und dem Wirrsal der kaukasischen Völkergeschichte
zugewendet hat. Dulaurier entdeckte, dass die arabischen Berichte
Bruchstücke seien, die eine unwissende Hand aneinander gereiht,
und dass an manchen Stellen die Araber nicht den Weg von
Indien nach China, sondern den Weg von China nach
Indien beschreiben. In der That löste Dulaurier eine Anzahl
der geographischen Schwierigkeiten sehr glücklich , während
Lassen genöthigt ist das Beitumah der Araber, welches aus dem
Syrischen zu erklären , Beit Tumah , Haus des Sanct Thomas be-
deutet, und dem heutigen Mehapur entspricht, in den siamesischen
Golf zu verlegen, statt an die Koromandelküste"). Die Verwirrung
der arabischen Geographen wird noch grösser durch ihre eigen-
thümlichen Vorstellungen von der Gestalt der südasiatischen Ge-
wässer. Man muss nämlich nie vergessen, dass sie den indischen
Ocean für ein Binnenmeer hielten, indem sie nämlich die Mozam-
bique-Seite Afrika's dem Rande Südasiens sich gegenüberliegend
dachten. Sie thaten diess nur aus schülerhafter Scheu vor der
Autorität des Ptolemäus, dessen sonst wunderbares Werk durch
diesen groben Irrthum entstellt wird. Uebrigens war auch Ptole-
mäus nicht der Urheber dieser unglücklichen Hypothese, sondern
sein grösserer Vorgänger Hipparch, oder vielleicht der noch ältere
Aristoteles. Die Araber dachten sich also den indischen Ocean
als ein mittelländisches Meer, welches mit einer Meerenge endigte.
i) Etudes sur 1 ouvrage intitule: Relation des Voyages Journ. Asiat.
August und September 1846.
2) Er glaubt nämlich Betumah, wofür Edrisi Tenumah gelesen hat, seien
die Natunah-Inseln zwischen der Halbinsel Malaka und Borneo.
Lassen über die Geschichte des indischen Handels im Mittelalter.
55
daher auch die mittelalterlichen christHchen Geographen, die aus
arabischen Quellen schöpften , von einem Duplex Gades , einem
doppelten Cadix, dem Gades HercuHs, der Meerenge von
Gibraltar und dem Gades Alexandri, entweder des macedo-
nischen oder des mythischen Alexander (Iskender) sprechen.
Man versteht dann erst recht, warum sie den indischen Ocean
nicht in Golfe, sondern gleichsam zellenartig in sieben Meere
eintheilten.
Das vierte Meer der Araber hiess Schelahet oder Schalahat ;
es war seicht und mit Inseln bedeckt, auf denen Cocoscultur ge-
trieben wird. Massudi nennt dieses Meer nach seinem Haupthafen
das Meer von Kalabar. Nach zehntägiger') Fahrt erreichten sie im
fünften Meer, welches Kirdrandsch, Kidransch, und Kerdendsch
gelesen wird, Beitumah. Da nun Beitumah ganz sicher Meliapur
ist, so muss das Meer Kerdendsch ein Theil des bengalischen
Golfes sein. Auf der Höhe der Kistna scheinen die Araber nach
den Andaman-Inseln übergefahren zu sein. Der Indienfahrer Su-
laiman nennt jedoch in folgender Reihenfolge die von den Arabern
berührten Inseln : Rami -) (Sumatra), Landschebalus oder Lankh-
jalus (Nikobaren), Andaman. Hier sieht man deutlich, dass das
Bruchstück einer Reise auf der Rückkehr aus China angehört.
Rami als Sumatra zu erkennen war anfangs etwas schwierig.
Indessen lässt sich geographisch feststellen, dass die Araber nur
Sumatra gemeint haben. Sulaiman sagt nämlich : von Rami käme
der fansurische Kampher, der beste im damaligen Handel. Es
giebt aber nur zwei Kampherinseln, Sumatra und Borneo. Letztere
Insel , an sich schon in schwer erreichbarer Ferne , erzeugt aber
nicht den fansurischen Kampher; dieser wird auf Sumatra gewonnen,
denn Marco Polo kennt ein kampherproducirendes Königreich
Fansur auf Klein-Java , was in seiner Sprache Sumatra bedeutet.
Dass Theile der Insel Rami dem Maharadscha der Zabedsch
(Javanen) unterworfen waren, macht sie ebenfalls zu einer Sunda-
insel. Die Schwierigkeiten aber bestehen darin, dass Edrisi der
Insel Rami oder Ramny die ungeheure Ausdehnung von 700 Far-
sang (25=1^ des grössten Kreises) zutraut, und die andern ara-
1) Die arabischen Berichte sprechen fast meistens nur von zehntägigen
Fahrten.
2) Auch Ramna und Ramny geschrieben.
c6 Zur Geschichte der Geographie.
bischen Geographen ihrer grossen Achse die Richtung von Ost
nach West geben, und sie zAvischen die Meere Harkand und
Schalahat verlegen , d. h. in der Sprache der modernen Geo-
graphie sie als eine angränzende Verlängerung ^on Ceylon sich
dachten.
Gerade dieser Irrthum giebt uns Aufschluss über
die Seewege der alten arabischen Indien fahr er. Dass
sie an den Küsten des bengaHschen Meerbusens nicht bis zum
Ganges hinauffuhren, nehmen alle Erklärer, Walkenaer, Reinaud,
Dulaurier, Lassen an. Sie kreuzten also den Golf, und suchten
die Andaman-Inseln zu erreichen. Von diesen fuhren sie nach
den Nikobaren und von dort nach der Kampherküste Sumatra's,
die auf der Südweetseite der Insel liegt, an der sie entlang fuhren.
Weil sie sich die Insel grösser vorstellten als sie war, und weil sie
ihre Achsenrichtung ungenau angaben, konnten sie recht wohl
glauben, dass ihre westliche Spitze in der Nähe Ceylons liegen
müsse. Sie fuhren dann durch die Sundastrasse und nicht durch
die Strasse von Malaka, wie Lassen meint, denn der W^eg durch
die Strasse von Malaka gehört einer viel spätem Zeit an, die mit
dem Auftreten der Malayen zusammenhängt. Wenn die Schiffe
durch die Strasse von Singapur gegangen wären, wie hätten sie
die Insel der Sabedsch (Java) berühren können? Der Platz, wo
der beste und einzig ächte Kampher Sumatra's verschifft wird, ist
Barus oder BarosO (i° 59' 35'' nördl. Breite, 98° 23' 30" östl.
Grw.), ehemals ein wichtiger Hafenplatz, der noch innerhalb des
Gebietes der tapferen und hochsinnigen Batta's liegt (s. Crawfurd,
Dictionary of the C. J. Archipelago p. 40). Dass die Batta's
unter den Menschenfressern zu verstehen sind, welche die arabischen
Berichte auf Rami (Sumatra) erwähnen, darüber herrscht gottlol)
Eintracht unter allen Erklärern dieser schwierigen geographischen
Urkunden. Wenn aber die arabischen Kauffahrer um den Fansur-
kampher zu holen an der Westküste Sumatra's bis zu 2 "^
nördl. Br. vordringen mussten, so werden sie gewiss ihren ferneren
Weg nicht durch die Malaka-, sondern durch die Sundastrasse
i) Der fansurische Kampher, von dem die arabischen Berichte und Marco
Polo sprechen, ist ganz entschieden Baroskampher , und nicht das Erzeugnis«
des Kampherlorbeerbaumes, sondern des Kampherölbaumes (Dryobalanops
Champhora).
Lassen über die Geschichte des indischen Handels im Mittelaller.
57
genommen haben. Selbst als die Malayen Singapur und später
Malaka gegründet hatten, wurde der Sundaweg nicht vernach-
lässigt. Wir erfahren diess von dem gelehrten Portugiesen Barros,
der die damalige Schiff fahrt (um 1550) ganz vortrefflich aus den
Gesetzen der Monsune erklärt, die in der Malakastrasse fehlen, so
dass die Schiffer in den sogenannten „Strassen" auf die See- und
Landbrisen angewiesen waren. Barros ezklärt die Sundafahrt für
sicherer, wenn sie auch ein Umweg sei^.
Das letzte Meer ist das Meer Sandschi oder das IVIeer
von China, der östliche Ocean. Dieses erreichten die Fahrzeuge,
nachdem sie die Meerenge zwischen der Insel Hainan und dem
Festland überwunden hatten. Das sechste Meer, dessen Namen
die Orientahsten sehr verschieden buchstabiren , näniHch Senef,
Senfy und Sanfy, muss also alle Gewässer von der Sundastrasse
bis zur Insel Hainan umfassen.
Kehren wir noch einmal zu unsena wichtigen Quellen zurück,
so finden wir, dass unter den Auslegern Uebereinstimmung in
folgenden Punkten herrscht: die Inseln Andaman kennen die Araber
bei ihren wahren Namen, die Inseln Landschebalus sind die Niko-
baren, die Insel Rami Sumatra, die Insel der Sabedsch Java.
Von den sieben Meeren ist das von Fars der persische Meerbusen,
das ISIeer Larewy das arabische Meer vom Indus bis zur Malabar-
küste, das Meer Sandschi das Meer der chinesischen Küsten von
der Insel Hainan angefangen, und zu dem sechsten Meere Senfy
gehört jedenfalls das Meer an den Küsten von Anam. Streit
herrscht dagegen, wo das dritte, vierte und fünfte Meer, das Meer
Harkand, Schalahat, Kidrandsch (oder Kerdendsch) zu suchen sei,
so wie der grosse Hafenplatz Kalabahr oder Kalah. Die arabischen
Geographen sind selbst nicht einig, denn viele sprechen von drei,
andere nur von fünf Meeren. Die Meere Schalahat und Kidrandsch
werden, soviel wir wissen, nur in den arabischen ,, Berichten" und
von Massudi erwähnt , welcher das vierte Meer (Schalahat) ab.
i) Die Stellen lauten: todolos que navegam da parte do Ponente hiam
per föra da Ilha ^amatra entrando per o canal que se faz entre ella e a
Jauha, ou entravam per entre ella e a terra de Malaca E po que
geralmente todolös que navegaram per föra da Ilha (Sumatra) por ser Aiagem
mais segura ainda que comprida , estavam seguros de Invernar etc. Da Asia
Dec. II, livro VI. cap. I. Bd. 4. S. 13.
eg Zur Geschichte der Geographie.
weichend wieder das Meer von Kalabahr nach dem Hafenplatz
Kalah oder Kalabahr nennt. Wenn wir nun die Araber richtig
verstehen und wohl beachten, dass von ihrem dritten Meere,
Harkand, die Malediven und Lakediven, Ceylon und Rami (Su-
matra) bespült werden, welche letztere Insel sie nur wenig von
Ceylon entfernt hielten, so ist es offenbar, dass sie damit den süd-
lichen indischen Ocean meinten. Wenn sie ferner, wie wir gezeigt
haben, nicht durch die Strasse von Malaka, sondern durch die
Sundastrasse fuhren, so muss das vierte und fünfte Meer nördlich
von dem Meere Harkand liegen. Das fünfte Meer, das Meer von
Kidrandsch, wird in Verbindung mit Beitumah (St. Thomas, Me-
liapur) genannt, es fällt also in den bengalischen Golf. Die
Schwierigkeit hegt nur darin, Kalah oder Kalabahr zu suchen.
Dulaurier und früher Reinaud erklärten Kalah für Galle auf Ceylon,
allein Lassen zeigt sehr richtig, dass Edrisi Kalah 19 Tagereisen
von Serendib entfernt liegen lässt, dass die Kauf fahrer von Kolläm
(Quillon) an der Malabarküste Kalah erst in einem Monat erreichen,
endlich, dass die Insel Rami oder Ramny (Sumatra) an dem
Meere Harkand und am Meere Schalahat liege, welches letztere
dem Massudi wieder identisch ist mit dem Meere von Kalabahr.
Nach arabischen Vorstellungen lag also ganz gewiss Sumatra
zwischen dem grossen indischen Ocean (Harkand-See) und einem
Theile des bengalischen Golfs. Die Araber sagen ferner, Kalabahr
sei Mitte Wegs zwischen Arabien und China gelegen. Nun ist
Galle auf Ceylon zu nahe an Arabien, Malaka zu nahe an China
für die Mitte des Weges. An die Stadt Malaka selbst denkt
niemand mehr, weil sie eine ganz junge Schöpfung war. Lassen
erklärt sich für Quedah (Kedda) an der Halbinsel Malaka. Schade
nur, dass auch diese malayische Colonie erst im 13. Jahrhundert
gestiftet wurde. Besser noch wäre es daran zu erinnern, dass
unzählige malayische Ortsnamen auf der Halbinsel mit Quala be-
ginnen (Quala-Mada, Quala-Linga). Quala bedeutet nämlich im
Malayischen die Mündung eines Flusses (Newbold, British Settle-
ments in Malaka tom. I, p. 188). Allein wir wagen diese Ver-
muthung niemand zu empfehlen, weil die malayischen Colonien,
also auch die malayischen Ortsnamen, um ein halbes Jahrtausend
beinahe jünger sind als die arabischen Reisen nach China. Gestehen
wir also, dass bis jetzt noch jeder Geograph oder Orientahst dem
andern bewiesen hat, den richtigen Platz für Kalabahr nicht
Lassen über die Geschichte des indischen Handels im Mittelalter.
59
gefunden zu haben. Wir unsrerseits suchen, wie Joachim I.elewe]
(Atlas zur Geogr. du moyen-äge PI. XVI. carte expHc.) es an-
giebt, das Meer Schalahat oder von Kalabahr nördhch von einer
Linie, die von der Koromandelküste nach der Diamantspitze auf
Sumatra gezogen wird, und halten das Meer Kidrandsch nur für
den innersten Einschnitt des Golfes von Bengalen , etwa ^■on der
Kistnamiindung zu dem Irawaddidelta.
6. Friedrich Kunstmann über die frühesten
directen Handelsverbindungen der Deut-
schen mit Indien.
(Ausland iS6l. Nr. 34. 18. August.)
Augsburger Häuser, und unter ihnen zuerst die Welser, waren
es, welche die frühesten Handelsbeziehungen mit Portugal an-
knüpften, und zwar fast unmittelbar nach der Entdeckung des
Seeweges um das afrikanische Hörn. Es ist diess ein ausserordent-
lich rühmliches Zeugniss von dem mercantilen Scharfblick der da-
maligen Augsburger Kaufherren. Bis zu den grossen Entdeckungen
war der indische, d. h. der gesammte südasiatische und ostafri-
kanische Handel über das ägyptische Alexandria und von dort
vorzugsweise in den Schooss Venedigs geflossen. Von Venedig
aus gingen die Waaren radienförmig nach den nördlicher gelegenen
Binnenstapelplätzen, unter denen Augsburg unbestritten der wich-
tigste war. Die Tendenz aller portugiesischen Entdeckungen war
nichts weiter als den alexandrinischen Handel zu zerstören und
Lissabon zu dem Mittelmarkt zwischen Morgenland und Indien
zu erheben, wie denn auch in diesem Sinn Emanuel nach Da
Gama's Entdeckung den Titel annahm : ,,Herr des Handels mit
Indien und Aethiopien".
Die Entdeckung des Seewegs , die Anlage etlicher Forts,
wahrer Piratenhöhlen an der Malabarküste , und die Aufstellung
von Caperschiffen gegen alle arabischen Alexandriafahrer A-on
Seiten der Portugiesen vernichtete denn auch vollständig schon
im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts den südasiatischen Schifits-
verkehr zwischen Indien und Alexandria, und mit diesem Handel
welkte auch die Blüte aller Hafeni)lätze des Mittelmeeres. Statt
Kunstmann üb. die frühesten direct. Handelsverb. d. Deutschen mit Indien. 6 t
dessen wurde Lissabon der erste Markt der Welt, und die flan-
drischen und holländischen Rheder die ersten Küstenfahrer, oder
mit andern Worten : der Grosshandel zur See hatte seinen medi-
terraneischen Charakter verloren und war ein oceanischer ge-
worden. Die deutschen Binnenplätze litten natürlich durch das
Dürrwerden ihrer nach den venetianischen Lagunen ausgestreckten
Wurzeln. Fürstliche Kauf leute der damaligen Zeit , wenn sie ihre
Zeit verstanden und beherrschen wollten, mussten also Wurzel
treiben nach dem oceanischen Rand unseres Festlandes. Und
diess geschah denn auch wirklich. Die Fugger verlegten ihre Häuser
nach Antwerpen und wir finden sie in Gemeinschaft mit den Wel-
sern in Lissabon und in Sevilla, tief eingesogen in den amerika-
nischen und portugiesisch-indischen Handel.
Darauf beruht das historische Interesse einer eben erschiene-
nen kleinen Schrift von Professor Kunstmann ^). Wir erfahren
hier, dass Simon Seitz als Unterhändler einer Augsburger „Credit-
gesellschaft" im Namen der ehrbaren Anton Welser, Conrad Filen
(Vöhlin) und anderer edler und berühmter Kaufleute von Augs-
burg, mit dem König Emanuel von Portugal am 13. Januar 1503 2)
einen Vertrag abschloss , worin den Deutschen in Lissabon die
nämhchen Vergünstigungen, wie sie die Niederländer im Jahre
1478 erhalten hatten, nämlich Einfuhr ihrer Waaren gegen einen
Werthzoll von 10 Procent, bewilligt wurden. Im Jahre 1503
kommt als Commis der Welser Lukas Rem nach Lissabon, dessen
handschriftliches Tagebuch von Greif in Augsburg herausgegeben
worden ist. Der Beitritt zu der deutschen Creditgesellschaft in
Lissabon wurde allen deutschen Kaufleuten offengehalten, unter
der einzigen Bedingung, dass sie sich mit einem Capital von
10,000 Ducaten, was damals gewiss so viel heissen wollte wie in
unserer Zeit etwa eine halbe Million Gulden, betheiligen würden.
Wir erfahren dann weiter, dass schon vor 1505 auch die Häuser
Fugger, Hochstetter, Hyrssfolgel (Hirschvogel?) und die Imhofe
von jener Erlaubniss Gebrauch gemacht hatten.
Die ersten drei Schiffe, welche diese Gesellschaft nach Indien
i) Die Fahrt der ersten Deutschen nach dem portugiesischen Indien.
München 1861.
2) Bedenkt man , dass 1499 die ersten Schiffe aus Indien zurückkehrten,
so können die Augsburger Kauf leute sich nicht lange besonnen haben mit der
Gründung dieser Gesellschaft.
(52 Zur Geschichte der Geographie.
schickte, waren di^ grössten Indienfahrer der Flotte, die 1505 den
Vicekönig Francisco de Almeida nach Indien trug, und hiessen
Raphael , Hieronymus und Leonhardt. Bemannt waren und be-
fehhgt wurden sie natürlich von Portugiesen. Die Supercargos
aber waren die Deutschen Hans Mair und Balthasar Sprenger.
Mairs Reisebericht ist im Original noch nicht gefunden worden,
wohl aber entdeckte Kunstmann eine portugiesische Uebersetzung
in dem handschriftlichen Valentin Ferdinand der Münchner Biblio-
thek. Sprengers Erzählung wurde dagegen 15 11 s. 1. unter dem
Titel : „Die Merfart vnn erfarung nüwer Schiffung und Wege zu
viln onerkanten Inseln vnd Kunigreichen u. s. w." gedruckt. Das
Tagebuch des Lukas Rem und ein im Anhang zu letzterem abge-
druckter Bericht über die Almeida'sche Fahrt aus dem Nachlasse
Peutingers sind die vier Quellen, abgesehen von den portugiesischen
Chroniken, die wir über diesen Wickingerzug nach Indien besitzen.
Das Geschwader verliess Ende März 1505 Lissabon und
segelte bis zur Höhe der capverdischen Inseln am Westrande
Afrika's gen Süden. Dort trieb ein Sturm, wie es scheint, die
Flotte auseinander, und die Schiffe trachteten jetzt versprengt
nach dem Cap der guten Hoffnung. Mairs Schiff traf dort bereits
am 26. Juni, also ziemlich rasch ein. Sprengers Schiff dagegen
erreichte die Mozambiqueseite Afrika's erst am 19. Juli, nachdem
es seit dem grünen Vorgebirge fünfzehn Wochen lang weder Sand
noch Land gesehen hatte. Diese Notizen sind wichtig, weil sie uns
feste Vorstellungen von den damaligen nautischen Leistungen ge-
währen.
Vor Quiloa verrichtete die Flotte ihre erste Wafifenthat. Die
grossen Hafenplätze der Ostküste Afrika's, die jetzt dem Imam
von Mascat unterworfen sind, waren ursprünglich arabische Co-
lonien und gehorchten damals kleinen muhammedanischen Despoten.
Da nun das Ziel der portugiesischen Indienfahrten die Zerstörung
aller arabischen Handelsplätze war, so begann man schon bei
Quiloa die Arbeit am 24. Juli. Die Stadt wurde mattherzig ver-
theidigt und fiel den Portugiesen leichten Kaufes zu. Damals
herrschte übrigens weit grösserer Luxus in diesen Plätzen als heu-
tigen Tages, denn man fand Häuser aus Stein und Kalk mit
getäfelten Fussböden, mit Mörtel beworfen und mit Malereien be-
deckt, nach dem Siege sang man ein Tedeum und plünderte —
oder, wie Sprenger das Plündern nennt, man ,,fand" vil reichtumb
Kunstniann üb. die frühesten direct. Handelsverb, d. Deutschen mit Indien.
63
mit Golt, Silber, Perlin, Edelgestein und andere kostbarliche kleidung.
Eines der besten Häuser wurde in eine Citadelle umgeschaffen,
bewaffnet und mit einer Garnison von 80 Mann versehen. Die
Stadt soll damals 4000 Köpfe gezählt haben , Araber mit ihren
Suahelisklaven. An einen Widerstand gegen portugiesische Flotten
konnten diese Leute nicht denken , denn ihre Waffen bestanden
nur aus Bogen, Pfeilen und Wurfspiessen. Wohl fand man auch
vier Donnerbüchsen bei ihnen, aber noch verstanden die Quiloaner
nicht recht mit dem Feuer gew ehr umzugehen.
Am 1 3 . August legte sich das Geschwader vor Mombas , um
auch an dieser Stadt das Gericht des Stärkern zu vollstrecken, nur
ging es diessmal nicht so leicht wie bei Quiloa ; denn Mombas besass
ein „onseglich stark bolwerk" mit vielen Donnerbüchsen. Nach
dem Auffliegen ihres Pulvermagazins räumten die Araber dieses
Hafenfort, und die Flotte konnte jetzt ihre Breitseiten gegen die
Stadt selbst spielen lassen. Am 14. beschoss man sich gegen-
seitig. Am andern Morgen, nachdem man gefrühstückt hatte, wie
Mair mit historischer Gewissenhaftigkeit beifügt, begann man zu
stürmen. Voran gingen als Plänkler die Büchsenschützen, dann
kamen die Armbrustschützen und hinter diesen die Colonnen. Es
entspann sich ein hitziges Strassengefecht , aber die Portugiesen
drangen unaufhaltsam bis zum Palaste des Scheik vor," und pflanzten
dort ihre Flagge unter dem Rufe: ,,Portugal!" auf. Am 15. und
16. wurde geplündert und die Beute dann nach den herkömm-
lichen Procenten vertheilt. Die deutsche Rhedergesellschaft als
Eigenthümerin der Schiffe beanspruchte auch eine Tantieme von
den Früchten des Piratenzuges, aber die Flottenmannschaft wollte
nichts von einem Abzug ihrer Prisengelder wissen. Es kam dann
zu einem dreijährigen Process, dessen Ausgang leider nicht be-
kannt geworden ist. Aber man sieht aus diesem Beispiel, wie
wenig damals noch Seehandel und Seeraub sich unterschieden.
Uebrigens braucht man diess nicht etwa den Portugiesen oder dem
Jahrhundert anzurechnen, denn die Spanier und im 17. Jabrhundert
Holländer und Briten haben in der Neuen Welt und in Südasien
gerade so gehaust, wie die Portugiesen im Morgenlande.
Die Ueberfahrt von Melinde nach der Malabarküste dauerte
vom 27. August bis 13. September, man benutzte dazu also den
Südwestmonsum oder die Regenzeit. Nach Ablauf desselben, und
ehe noch die trockene Zeit zur Hälfte verstrichen war, hatten die
()A Zur Geschichte der Geographie. Fr. Kunstmann etc.
Kauffahrer, denen der Vicekönig mit seinen Kriegschiffen das Ge-
leite gegeben hatte, ihre Frachten geladen, die sich auf 4000 Ctr,
an Specereien für jedes Schiff beHefen. Am 2. Januar 1506 gingen
vier Segel, darunter der Hieronymus und Raphael, und am 21. Ja-
nuar der Leonhardt mit zwei andern nach Portugal im Nordost-
monsum zurück. Almeida blieb mit seinen Kriegsschiffen in Indien.
Er hatte auf Anchediva ein Fort gebaut , von wo aus er bequem
auf alle aus Malabar heimkehrenden arabischen Küstenfahrer
lauern konnte. Die erste Abtheilung der Handelsschiffe erreichte
am 22. Mai die Tejomündung, somit nach 142 Tagen, also ausser-
ordentlich rasch. Die andern dagegen, welche die Saison schon
halb versäumt hatten, gelangten nach Lissabon erst am 8. Sep-
tember. Schlechte Geschäfte wurden übrigens bei diesem ersten
Versuche nicht gemacht, denn Lukas Rem berechnet die Gewinne
auf 150 Procent.
6. Die früheren Christenverfolgungen
in Japan.
(Ausland 1861. Nr. 9. 24. Februar.)
Von Wilhelm Heine, dem Maler, welcher schon das erste
Unionsgeschwader unter Commodore Perry auf der berühmten
Gesandtschaftsreise nach Japan begleitete, und der jetzt wieder an
Bord der preussischen Flottille nach Jeddo gereist ist, erhielten
wir schon im vorigen Jahre eine Geschichte Japans') aus den
Berichten der ersten Missionäre, femer aus holländischen, franzö-
sischen und russischen Quellen , , sowie nach deutschen Ueber-
setzungen und den Werken der spätem Reisenden zusammengestellt.
Den meisten Werth für die Gegenwart besitzt darin unstreitig der
Zeitraum der ersten Ausbreitung und des frühzeitigen Unterganges
des Christenthums auf Japan, denn aus diesen historischen Er-
fahrungen wird man beurtheilen können , auf welche Klippen der
fortgesetzte Verkehr der Europäer mit den Japanesen stossen muss.
Beiläufig bemerkt, wird jetzt gerade in Jeddo für die Europäer
eine sehr günstige Stimmung herrschen. Die Japanesen verfolgen
nämlich nichts mit grösserer Spannung als die Begebenheiten in
China. Schon der Opiumkrieg und die Eröffnung der fünf Häfen
hatte auf sie grossen Eindruck gemacht, und hoch tieferen das
neuerliche Bombardement von Canton, sowie die erste Niederlage
bei den Taikuforts und der Friedensschluss von Tientsin. Die
Schlappe, welche ein Jahr später die Briten im Peiho erlitten, ist
gewiss im stillen in Jeddo gefeiert worden und hat wohl eine
i) Japan und seine Bewohner, geschichtliche Rückblicke und ethnographische
Schilderungen. Leipzig 1860.
Peschel, Abhandlungen. II. . ^
66 ^iir Geschichte der Geographie.
Zeitlang der altconservativen Partei unter den Kamis der Signorie
wieder das Uebergewicht gegeben. Jetzt, nach dem Einzug in
Peking und der tiefen Demüthigung des Himmelssohnes , wird
man aber in Jeddo sich die Moral der Fabel zu Herzen nehmen
und einsehen , dass man sehr vorsichtig gegen die Fremden zu
verfahren hat, und nur eins noch die Selbstständigkeit des Archipels
retten kann, nämlich die Eifersucht der christlichen Flaggen unter
einander.
Als der heilige Franciscus Xavier, der Stolz und Glanz des
Jesuitenordens, als erster Prediger Japan betrat (154g), befand
sich das Reich äusserlich in der nämlichen Verfassung wie jetzt.
Es gab einen göttlichen Schattenkaiser , den Dairi , den man in
Miako fütterte und wie ein seltenes Thier in einem Käfig ein-
schloss , wo er sein Leben in sinnlichen Haremsgenüssen ver-
schwelgte. Ehemals waren die Dairis , angeblich die directen
Nachfolger der ersten Begründer einer Universalherrschaft, Regenten
von Fleisch und Blut. Als aber um die Mitte des 12. christlichen
Jahrhunderts durch die Empörungen der Vasallenherzoge die Ein-
heit des Reiches gefährdet worden war, so ernannte der damalige
Dairi einen Siogun oder Generalissimus. Die Wahl fiel auf Yori-
tomo, einen Mann, der zum Herrschen geboren war. Die Grossen
des Reiches lagen damals gegen einander in Fehde und suchten
sich durch gegenseitige Bündnisse zu schützen. Der schlaue Siogun
ergriff nun Partei , besiegte die einen mit den anderen , befestigte
aber selbst sein Amt und seine Gewalt , so dass seitdem die Sio-
guns die wahren Kaiser von Japan wurden. In ganz neuester
Zeit i§t es ihnen freilich gegangen wie einst den Dairis ; sie werden
in ihren Palästen gefangen gehalten und in ihrem Namen regiert
eine aristokratische Oligarchie. Zu Xaviers Zeiten indessen war
das erbliche Amt der Siogun noch im Genuss monarchischer
Machtfülle.
Die ersten Verkünder des EvangeUums stiessen in Japan auf
zwei Religionen, wovon die eine, der Sintuglaube, als die herr-
schende zu betrachten ist. Diess war ein heidnischer Götzen-
dienst mit einem höchsten Götterpaar an der Spitze und verbunden
mit einer ziemlich reinen Sittenlehre , woher es denn kam , dass
gerade unter den Sintugläubigen das Christenthum den meisten
Anklang fand. Daneben wurde ein stark mit Götzendienst ver-
unreinigter Buddhismus geduldet , welcher , trotz mancher gottes-
Die früheren Christenverfolgungen in Japan. 6?
dienstlichen Förmlichkeiten mit dem Christenthum, diesem sich
viel feindseliger erwies. Was ihm gegenüber dem Sintuglauben
einen besonders hohen geistigen Werth verleiht, ist die merkwür-
dige Vorschrift , dass man sich bei Opfer und Gebet den Göttern
nicht anders als heiteren Angesichts nahen solle, da Seufzer und
Betrübniss der Gottheit missfällig seien , eine Vorschrift , die mit
der beständigen freiwilligen oder unfreiwilligen äusserlichen Heiter-
keit der Japanesen nicht ohne Zusammenhang ist. Bonzen heissen
in den Quellen , wie es scheint , ohne Unterschied die Priester
beider Religionen. Den Majordomus des Reiches, der bei den
Japanesen die Titel Siogun, Kubo, Taikun führt, welche sämmtliche
ihre besondere staatsrechtliche Bedeutung haben und nicht nach
Belieben gebraucht werden dürfen, bezeichneten die Portugiesen
als Kaiser. Könige nannten sie die Grafen oder Herzoge der
66 Provinzen, denen die Titel Sugo und Jacato und das Prädicat
Kami gebührt, welches aber auch hohe Staatsbeamte führen, und
von dem man noch nicht weiss , soll es Excellenz oder Hoheit
übersetzt werden. Unter diesen grossen Vasallen standen wieder
Barone, unter den Baronen endlich eine letzte niedere ritter-
schafthche Classe. Wir wissen, dass noch jetzt die Kamis oder
Herzoge einen Theil des Jahres ii» Jeddo residiren müssen, wo sie
mit Tausenden in ihrem Gefolg jene grossen ummauerten und mit
Parken versehenen Paläste bewohnen, welche das aristokratische
Viertel der Hauptstadt füllen. Nirgends in Asien war auch das
Christenthum auf eine höhere gesellschafthche CiviUsation gestossen
als dort, denn die Japanesen haben selbst vor den Bewohnern
des himmlischen Reiches ihren bis an die Leidenschaft gränzenden
Reinlichkeitssinn voraus , während sie ihnen an Anstand und Eti-
kette gleichstehen, ausserdem aber an Tapferkeit, Grossmuth, ja
unter Asiaten vielleicht das einzige Beispiel, durch das Vorhanden-
sein von Ehrgefühl ihnen vorgehen, wie denn endlich auch statt
des chinesischen Eigendünkels, der alles Fremde verachtet, sie
gelehrig die Vorzüge der Europäer sich anzueignen suchen.
Xavier landete in Congoschima , welchen Hafen die Portu-
giesen jedoch später mit Firando vertauschten. Die Predigten des
Apostels stiessen gleich anfangs auf politischen Widerstand, da der
Herzog von Satzuma auf Anstiften des buddhistischen Clerus
seinen Unterthanen den Uebertritt zur neuen Lehre verbot. Auf
dem Thron sassen damals Gonara als der io6. Dairi, und Josi-Far
5*
68 Zur Geschichte der Geographie.
als 24. Siogun. Miako, die religiöse Hauptstadt des Landes, fand
Xavier in Folge der Bürgerkriege in Trümmern, und konnte dort
auch weder bei dem Dairi noch beim Siogun, welche letztere also noch
nicht in Jeddo residirten, Audienz erlangen. Erst als er später
mit Empfehlungen und Geschenken des Vicekönigs von Indien
und des Gouverneurs ausgestattet zurückkehrte, empfing ihn der
Kaiser und erlaubte ihm zu predigen, so dass er im Laufe eines
Jahres 3000 Personen bekehrte*. Leider verliess dieser grösste
Apostel der neuesten Zeit Japan schon nach drei Jahren und starb
1552 auf der Ueberfahrt nach Macao.
Cosmo de Torres wurde jetzt das geistliche Oberhaupt der
neuen Gemeinde, die rasche Fortschritte machte, besonders da die
Missionäre durch öffentliche Kasteiungen und Geisselungen dem
Volk imponirten, und die verweichlichten buddhistischen Pfaffen
dadurch in Missachtung brachten. Nach und nach fanden die
Missionäre Eingang selbst bei den Grossen. Die Herzoge von
Omura und Fakuschima Hessen sich taufen, und ihrem Beispiel
folgte auch der Fürst von Bungo, der lange Zeit unter dem Ein-
fiuss seiner Gemahlin ihren Bemühungen widerstanden hatte. Wie
zur Reformationszeit folgten in Japan die Völker ihren Fürsten
beim Uebertritt, ja der Fürst -^fon Omura, als eifriger Neophyt,
Hess sogar gegen seine Unterthanen, die ihm nicht nachahmen
wollten , Verfolgungen eintreten , wodurch er dem Christenthum
tief geschadet hat. Der nämHche Fürst war es , der den Portu-
giesen in Nagasaki eine Factorei einräumte, welcher Platz, damals
ein elendes Fischerdorf, durch den europäischen Handel rasch zu
einer Stadt ersten Ranges emporgewachsen ist. Im Jahre 1565
baute der Fürst dort auch eine christliche Kirche und erhob sie
zum Hauptquartier der Mission, welcher 1577 bereits 59 Jesuiten,
darunter 26 Eingeborene, aber nur 23 geweihte Priester dienten,
welche letztere Zahl für Spendung der Sacramente unter den zahl-
reichen Gemeinden längst nicht mehr ausreichte. Als zwei Jahre
später Empörungen ausbrachen, suchten die Priester bei ihren
Beichtkindern zu Gunsten des legitimen Monarchen zu wirken, was
sie nicht wenig in Gunst versetzte. Damals begab sich auch eine
Gesandtschaft im Auftrage der drei neubekehrten Herzoge nach Rom,
wo sie nach mancherlei Reisefährlichkeiten wirklich anlangten und
vom Papst Gregor XIII. mit grossem Gepränge empfangen wurde.
Das war der Höhepunkt der christlichen Missionen in Japan.
Die früheren Christen Verfolgungen in Japan. 69
Der damalige Siogun Nobunanga verbrannte während eines
Aufstandes mit seinem ältesten Sohn am 15. Juni 1580 in seinem
Palaste zu Miako. Sein zweiter Sohn und Thronfolger wurde vor
Entsetzen wahnsinnig und verlor sein Leben gleichfalls beim Brand
seines Palastes, den er aber selbst angezündet hatte. Jetzt ergiitt'
Faschiba, ein Emporkömmling niederer Herkunft, an der Spitze der
kaiserüchen Truppen und als Vormund des dritten Sohnes von
Nobunanga die Herrschaft und warf die Rebellen nieder. Im
Jahre 1587 entledigte er sich seines Mündels völlig, indem er den
Prinzen in die Verbannung schickte, und bestieg selbst, nachdem
er eine Tochter des- Dairi geheirathet und den Titel Taiko-Sama
angenommen hatte, als Begründer einer neuen Siogun-Dynastie den
kaiseriichen Thron. Unter ihm, der dem Christenthum grund-
sätzlich abgeneigt war , begannen die ersten Verfolgungen. Er
befahl dem Vice-Provincial Pater Cuelho , seine Missionäre , deren
es schon 120 gab, zu Firando zu versammeln und mit ihnen sich
einzuschiffen, Hess auch, da dieser Befehl nur von wenigen befolgt
wurde, an drei Orten die christlichen Kirchen niederreissen. Die
Missionäre behaupten nun, der Eifer des Siogun sei aus Aerger,
darüber entstanden, dass das Christenthum in der Provinz Fizen,
die wegen ihrer schönen Frauen berühmt ist , so viel Verbreitung
gefunden habe, dass man Schwierigkeiten hatte, die kaiserlichen
Serails würdig zu versorgen. Daran ist nun wahrscheinlich so viel
oder so wenig wahr, wie, dass der Augustinermönch Luther die
Reformation unternommen habe, um heirathen zu können. Das
Körnchen Wahrheit lag wohl darin , dass das Christenthum , wel-
ches auf Monogamie gegründet ist, gegen die gesellschaftlichen
Satzungen auf Japan verstiess. Damals zählte man 300 Jesuiten,
Priester und Laien, und 2 — 300,000 eingeborene Christen auf
Japan. Bei den bekehrten und halb souveränen Fürsten fanden
die Missionäre trotz aller Verfolgungen den nämlichen Schutz wie
im 16. Jahrhundert die deutschen Protestanten bei den Reichs-
fürsten gegen die kaiserliche Gewalt. Ja die Missionäre besassen
selbst am Hofe des Siogun grossen Anhang, und nicht zu wundern
ist es, dass die Kaiserin selbst ihnen zugethan war, denn die
Frauen in einem polygamischen Reich werden mit Begierde eine
Religion ergreifen, welche ihre Stellung im Hause wie in der Ge-
sellschaft so bedeutend erhöht. Taiko-Sama indessen ging mit
grossem Vorbedacht an eine Ausrottung des Christenthums. Er
70
Zur Geschichte der Geographie.
rüstete eine Flotte zur Unterwerfung Korea's und nöthigte die
christlichen Herzoge, an diesem überseeischen Feldzuge theilzu-
nehmen. Aus jener Zeit stammt auch ein Schreiben des Kaisers
an den portugiesischen Vicekönig in Goa, welches alles enthält,
was sich vom Standpunkt der Japanesen gegen die christliche
Lehre sagen lässt. Der Kaiser erinnert an die unaufhörHchen
Bürgerkriege oder vielmehr feudalen Fehden , denen Japan aus-
gesetzt gewesen ist, und die alle aus der Auflehnung der Reichs-
barone gegen die königliche Gewalt entsprangen, denn das scheint
der Inhalt der japanesischen Geschichte zu sein, dass, ähnlich wie
im deutschen Reich, die Territorialherren immer die Machtbefugnisse
der obersten Gewalt bestreiten und dass es nie recht gelungen ist,
die Monarchie dauernd zu befestigen. Die alte ReUgion der Japa-
nesen, die auf eine strenge Gliederung der Gesellschaft begründet
war, erschien dem Siogun für die Wohlfahrt der Monarchie besser
zu sorgen, als das seinem Wesen nach kastenfeindliche Christen-
thum , welches über den weltlichen Gewalten immer noch etwas
höheres kannte. ,,Von den alten Religionsgesetzen", bemerkt der
Kaiser, ,,kann man sich nicht trennen, ohne den Gehorsam zu
schmälern, welchen Unterthanen ihrem Fürsten, Frauen ihren Ehe-
gatten, Kinder ihren Eltern, Vasallen ihrem Lehensherrn und
Diener ihrem Herrn schuldig sind." So erschienen und müssen
noch heutigen Tages die christlichen Lehren , die zu den christ-
lichen Gesellschaften passen, den Japanesen als revolutionär und
antisocial erscheinen. Der Siogun wollte den Portugiesen freien
Handel gewähren , wenn diese nur ihre Bekehrungsversuche ein-
stellen wollten. Dass jener Kaiser, dessen Macht und Ansehen
durch die Eroberung Korea's gewaltig gestiegen war, nur aus poli-
tischen Gründen Abneigung gegen das Christenthum fühlte, darf
man daraus schliessen , dass er auch dem buddhistischen Clerus
nicht sehr hold war.
Uebrigens mussten sich in seinen Augen die Europäer und
ihre Priester durch gegenseitigen Verrath verächtlich machen.
Obgleich damals unter Philipp IL die beiden Kronen von Portugal
und Spanien vereinigt waren, so dauerte doch der alte peninsulare
Bruderhass ungeschwächt fort. Der spanische Statthalter in Manila
schickte heimlich Gesandtschaften nach Japa«, welche das Treiben
der Jesuitenmissionäre dem Kaiser denuncirten. Unter spanischem
Schutz zeigten sich auch Dominicaner und Franciscaner im Archipel,
Die früheren Cliristenverfolgungen in Japan. ►» I
welche aus Ordensneid den Jesuiten allerhand Schwierigkeiten be-
reiteten. Trotz aller Verfolgungen war aber das Christenthum
nicht zu vertilgen. Nachdem auf Befehl des Kaisers die schöne
Kirche in Nagasaki verbrannt worden war, dauerte es nicht lange,
dass dort, ja selbst in Miako neue Klöster und neue Kirchen
aufgebaut wurden. Durch einen spanischen Schififscapitän soll der
Kaiser aufs neue über das Christenthum beunruhigt worden sein, denn
er erfuhr, dass die Missionäre immer die Vorläufer der europäischen
Eroberer in überseeischen Ländern gewesen seien. Es brach also
eine harte Christenverfolgung aus, etUche Hinrichtungen wurden
vollzogen und die sämmtlichen Missionäre ausser Landes gewiesen.
Während der letzte Befehl zögernd vollzogen wurde , starb der
grosse Taiko-Sama im September 1598, und für den minderjährigen
Nachfolger wurde eine Regentschaft eingesetzt, an deren Spitze
der Fürst von Bandova stand, welcher gegen die Christenlehren
wenigstens nicht feindselig gestimmt war.
Vieles änderte sich durch das Auftreten eines neuen euro-
päischen Elementes und vorzüglich eines merkwürdigen Mannes,
William Adams, der, seiner Herkunft nach ein Brite, als Oberpilot
ein holländisches Geschwader von fünf Segeln 1598 durch die
Magalhaensstrasse in das stille Meer führte. In einem Nebel ge-
rieth die Flotte auseinander, und ein einziges Schiff, der Erasmus,
an dessen Bord Adams sich befand, sah am 11. April 1600 die
Küste von Japan in der Nähe Nagasaki's, wo das Fahrzeug von
den Leuten des Fürsten von Bungo mit Beschlag belegt wurde.
Die Portugiesen verdächtigten die Holländer bei den Japanesen
als Seeräuber, was sie auch nach dem damaligen See- und Han-
delsrecht waren, weil jedes Schiff, welches sich in einem Gewässer
oder in der Nähe einer Colonie zeigte, wo andere Völker das
Monopol besassen oder zu besitzen glaubten , als Pirat betrachtet
und behandelt wurde. Adams wurde nach Jeddo zum 'Kaiser ab-
geführt und hatte mehrere Audienzen durch Vermittelung eines
portugiesisch sprechenden Japanesen, während welcher Zeit er wie
seine Gefährten als Gefangene behandelt wurden. Die diploma-
tischen Japanesen hatten bald herausgefunden, wie erspriesslich für
sie das Erscheinen der Niederländer sein müsste. Die Schiffsleute
wurden nach 40 Tagen frei gelassen , die Instrumente Adams
zurückgegeben , die Matrosen auch beschenkt , aber sie mussten
im Lande bleiben und unter Anleitung von Adams ein Schiff von
■j 2 Zur Geschichte der Geographie.
80 Tonnen für den Kaiser bauen. Der ehemalige Lootse wurde
der Lehrer des Kaisers in den mathematischen Wissenschaften,
gelangte zu politischem Einfluss und erbaute später noch ein
zweites europäisches Schiff von 120 Tonnen, auf welchem der
Kaiser den Statthalter von Manila, der mit seiner Gallione an
den japanesischen Küsten gestrandet war, heimsenden konnte.
Schon damals also zeigten die Japanesen die grösste Begierde, die
Kenntnisse und die Werkzeuge der Fremden sich anzueignen.
Unter dem Einflüsse von Adams wurde, der Kaiser, der Sohn des
grossen Taiko-Sama, auch milde gegen das Christenthum gesinnt.
Von ihm erzählt eine bekannte Anekdote, dass er, als einst der
einheimische Clerus auf Christenverfolgungen antrug, die Bonzen
fragte , wie viel Secten man im Reiche zählte , und auf die Ant-
wort : fünfunddreissig , sie mit den Worten verabschiedete , dann
könne man auch getrost die sechsunddreissigste dulden.
In Holland hatte man kaum von Adams' seltsamen Schick-
salen gehört , die so viel Aehnlichkeit haben mit Marco Polo's
Laufbahn in China, so schickte man zwei Schiffe nach Japan, die
1 609 im Juli vor Firando ankamen und vom Kaiser die Erlaubniss
erhielten, fortan Handel zu treiben. Auch die britische ostindische
Compagnie schickte ein Schiff ab, dessen Capitän 16 13 dem
Siogun ein Schreiben des Königs von England überreichen durfte,
worauf auch der britischen Flagge der Zutritt in japanesische Häfen
verstattet wurde.
Unter dem toleranten Ogascho-Sama, dem Sohne des grossen
Taiko-Sama, hatte sich die Zahl der Jesuiten in Japan wieder auf
130 gemehrt, neben welchen noch etliche 30 Missionäre aus an-
deren Orden wirkten. Nach dem Tode dieses guten Kaisers er-
öffnete aber sein Nachfolger (i6i6) fortdauernde Verfolgungen des
Christenthums , sowie er auch die Handelsprivilegien der euro-
päischen Sfeefahrer mehr und mehr einzuschränken suchte. Die
Japanesen erwarben sich mit grossem Heldenmuthe die Märtyrer-
krone, denn Autodafes von etlichen Dutzend Christen kamen bei-
nahe alljährlich vor. Im Jahre 1626 hatte es in Nagasaki noch
40,000 eingeborene Christen gegeben, drei Jahre später wagte kein
einziger sich zu der Lehre zu bekennen. Die Hinrichtungen wur-
den durch Martern gewürzt und Folterungen angewendet, um die
Christen zur Abschwörung ihres Glaubens zu bewegen. Die Jahre
1633 und 1634 waren besonders durch solche Glaubensmorde
Die früheren Christenverfolgungen in Japan. >j ^
ausgezeichnet , und in Folge dieser unerhörten Grausamkeiten
erhob sich 1635 der letzte Rest der eingeborenen Christen im
Kreise Arima und besetzte, 37,000 Mann stark, die Festung
Schimabara im Golfe gleichen Namens östlich von Nagasaki. Der
Platz wurde bis 1637 belagert (bei welcher Gelegenheit die Hol-
länger schnöde genug dem Kaiser ihre Geschütze Heben) und nach
dem Fall des Bollwerks alle Christen niedergehauen. Ein Jahr
später erschien dann das kaiserliche Edict, weiches allen Verkehr
mit den Portugiesen untersagte, den Japanesen verbot, nach frem-
den Küsten zu segeln und alle aus der Fremde heimkehrenden
Japanesen mit der Todesstrafe bedrohte. Als die Portugiesen
1639 eine Gesandtschaft von 61 Personen zum Kaiser schickten,
um eine Milderung des Gesetzes zu erbitten , wurden statt aller
Antwort 38 von ihnen enthauptet und die übrigen nach Macao
heimgeschickt. So endigte das Christenthum in Japan.
Schon seit 1624 waren alle Häfen bis aufFirando und Naga-
saki den Fremden geschlossen worden. 'Jetzt hatten die Holländer
allein noch Handelsfreiheit, und zwar liess der Kaiser im Hafen
vor Nagasaki die kleine Insel Desima erbauen, auf welche allein
die Holländer angewiesen blieben. Auch den Holländern zeigte
der Kaiser seine Strafgewalt. Als Peter de Nuyts, Statthalter der
damaligen niederländischen Colonie auf Formosa , zwei dort ein-
laufende japanesische Schiffe zurückhalten wollte und die Japaner
sich güthch nicht mit ihm abfinden konnten, landeten sie, über-
rumpelten das Fort, nahmen Nuyts gefangen und zwangen ihn,
Genugthuung zu geben. Der Kaiser aber, als er von dieser Be-
leidigung seiner Flagge hörte, liess neun holländische Schiffe , die
damals in Firando lagen , confisciren und untersagte dreij Jahre
lang den Holländern allen Handel, bis diese 1634 ihm schimpf-
licherweise den Nuyts auslieferten, der übrigens bald vom Kaiser
seine Freiheit erhielt.
Die Holländer sind berüchtigt durch ihre Niederträchtigkeit
im Verkehr mit morgenländischen Fürsten, wodurch sie dem mo-
ralischen Ansehen der Europäer unendlich geschadet haben. Wo
ihre Habsucht und ihr Ehrgefühl in Streit geriethen, hat die erstere
stets die Oberhand behalten. Der schmutzige Krämergeist, der
die niederländische Colonialgeschichte verpestete, hat ihnen länger
als zwei Jahrhunderte das japanische Handelsmonopol gesichert.
Auch die Briten sind eine kaufmännische Nation, aber nie haben
»JA Zur Geschichte der Geographie. Die früheren Christenverfolg, in Japan.
sie z. B. die Missionsinteressen den Handelsinteressen nachgesetzt
und sie geben jetzt noch dem Missionär in Indien freies Spiel,
obgleich sie offenbar damit die eigene politische Ruhe sich ge-
fährden. Die Holländer dagegen haben grundsätzlich keine christ-
liche Propaganda bei ihren überseeischen bigotten Unterthanen
geduldet, um nicht zu Unruhen zu reizen und dadurch den Handel
zu gefährden. In Japan sollen sie sogar das Christen thum ver-
leugnet haben, indem sie spitzfindig sagten : Wir sind keine Chri-
sten, wir sind Holländer. Unrichtig aber ist es , sie als die An-
stifter der Christenverfolgungen zu bezeichnen, wenn sie auch aus
Schacherneid die Austreibung der Portugiesen gern gesehen haben
mögen. Die Christenverfolgungen begannen lange vor der An-
kunft der Holländer und hörten nach ihrer Ankunft, wie wir sahen,
geraume Zeit auf. Unrichtig ist es aber auch, wenn oft gesagt
wird, die katholischen Missionäre hätten die Neubekehrten zu po-
litischen Verschwörungen aufgereizt. Daran ist eben nur so viel
wahr, dass in den Augen der Japanesen die christlichen Lehren
nicht zu den politischen und socialen Dogmen passten und passen,
auf denen dort der Staat und die Gesellschaft ruht.
7. Die 57. Ausgabe des Marco Polo.
(Ausland iS66. Nr. 7. 13. Februar. _)
Von Marco Polo's Reisen waren 23 italienische, 9 englische,
8 lateinische, 7 deutsche, 4 französische, 3 spanische, i portu-
giesische und I holländische Ausgabe vorhanden. Wir besassen
Erklärungen der Texte von Marsden (1818) und seinem deutschen
Bearbeiter Bürk (1845), vom Grafen Baldelli Boni (1827) und
Lazari (1847), abgesehen von einzelnen Arbeiten JuHus Klaproths
Karl Ritters, Neumanns und anderer. Jetzt ist eine abermalige
zweibändige Ausgabe, die fünfte französische, von M. G. Pau-
thier erschienen '), der vor den meisten seiner Vorgänger die
Kenntniss des Chinesischen voraus hat, und dem es gelungen ist,
die Mehrzahl der noch unaufgelösten Räthsel der berühmten Län-
derbeschreibung zu entziffern.
Kein Buch hat vielleicht auf die Entwickelung der mensch-
lichen Cultur einen höheren Einfluss ausgeübt als die Schilderung
des fernsten Morgenlandes durch Marco Polo. Als Cristobal
Colon den Weg nach „Indien" suchte, dachte er nicht im ent-
ferntesten daran, die Halbinsel zu erreichen, welche die Briten
jetzt beherrschen. Unter Indien verstand man im Mittelalter gar
viele Erdräume, nicht bloss das Indien der heutigen Tage, nicht
bloss den malayischen Theil Asiens, sondern, so seltsam das klin-
gen mag, selbst Abessinien, die Herrschaft des afrikanischen Erz-
priesters Johannes. Der Entdecker Amerika's verstand aber unter
seinem Indien, welches er auf dem westlichen Seeweg zu erreichen
i) Le livre de Marco Polo, par Rusticien de Pise, revue par Marf Pol
lui-meme en 1307, par M. G, Pauthier. Paris, 2 vols. 1865.
fjS Zur Geschichte der Geographie.
hoffte, das chinesische Reich unter der Mongolendynastie, wie es
Marco Polo in aller Pracht geschildert hatte, und er rechnete
sicher darauf, unterwegs nach Zipangu, d. h. nach Japan, zu ge-
langen. Marco Polo war es .daher, der die Sehnsucht einer nahen
Verbindung des Abendlandes mit dem Osten anregte. Dadurch
kamen wir zur unbeabsichtigten Entdeckung einer neuen Welt, und
als sie entdeckt war ,,floh die Weltgeschichte nach dem Westen".
Die Reisen der beiden altern Poli, Nicolas und Maffio, be-
gannen wahrscheinlich im Jahre 1255, und erstreckten sich bis
zum Kaiserzelt Chubilai Chans in den mongolischen Steppen, von
wo sie mit Aufträgen des Grosschans 1269 das Mittelmeer wieder
erreichten. Sie kehrten sehr rasch in den Orient zurück, diessmal
in Begleitung Marco's, des berühmten Sohnes von Nicolas. In
Lajasso (Kleinarmenien) mussten sie die Wahl eines neuen Papstes,
Gregors X. , abwarten , die am i . September 1 2 7 1 erfolgte , und
erst als sie ihre Beglaubigungsbriefe von ihm erhalten hatten,
brachen sie nach China auf und erreichten nach 3^2 jähriger
Wanderung, also 1275, den mongolischen Hof in Peking.
Aber welchen Weg zogen sie dorthin? Darüber sind noch
alle Erklärer Marco Polo's die Antwort schuldig geblieben, denn
der Venetianer giebt keine Reiseroute, sondern nur eine Beschrei-
bung der Länder, die er auf seinen Kreuz- und Querzügen besucht
hat, oder über die er in der Nachbarschaft Erkundigungen einzog.
Doch ist es erlaubt zu vermuthen, dass die Poli durch Klein- und
Grossarmenien zunächst nach Täbris , von dort nach der Oase
Zasdi (Yesd), dann durch die Wüste von Kerman nach der Oase
Khebis oder Khabis zogen, die Marco Polo Kobinant nennt, denn
•von dort erreicht er in 8 Tagen Tonocain , d. h. Kuhistan , mit
seinen beiden Hauptstädten Tun und Kain. Wir können ihm dann
leicht folgen nach Sapurgan (Schiberghan) und nach Balac (Balch).
Er durchzieht hierauf die Kleinstaaten Tocharistans und geräth
nach Balacian (Badakschan) , wo ihn Krankheit ein Jahr fesselt.
Von dort aus führt er uns nach Baciam, worin Pauthier Kafiristan
zu erkennen glaubt und nach Chesimur, welches ohne Zweifel
Kaschmir ist, das er aber wahrscheinUch nicht selbst gesehen hat.
Von Badakschan aus schreitet er über die zwölf Tagereisen lange
Hochebene Pamier (Pamir), ,,wo das Feuer nicht genug Wärme
giebt um die Lebensmittel gar zu kochen", oder wie wir sagen
würden , wo bei vermindertem Luftdruck der Siedepunkt des
Die 57. Ausgabe des Marco Polo. yy
Wassers tief unter 80° Reaumur liegt. Nach Marco Polo ist ein
einziger Europäer auf „diesem Buckel der Welt" (Bam-i-duniah),
gestanden, der Capitän Wood, der am 19. Februar 1838 bis zum
Zwiebel -See (Sir-i-köl) gelangte, aus welchem der Oxus gegen
Westen abfliesst und von wo der Siedepunkt des Thermometers
eine absolute Höhe von 15,600 Fuss (feet) anzeigte, also höher
als der Montblanc, während noch Höhenrücken von 3500 Fuss
relativer Erhebung den See einschlössen.
Marco Polo scheint jetzt den Bolor gekreuzt zu haben, wie
wir jetzt eine Meridiangebirgskette nennen, während der Venetianer
darunter ein Gebiet versteht, welches an Casgar (Kaschghar)
gränzt. Er beschreibt uns hierauf Samarcan (Samarcand), Carcan
(Yarkand) und Cotan (Chotan), aber wir zweifeln, ob er alle diese
Städte wirklich besucht habe. Von Kaschghar aus lässt sich sein
Weg eine grosse Strecke ohne Schwierigkeiten verfolgen, denn es
führten damals und führen jetzt noch aus China überhaupt nur
zwei Strassen nach Westen, nämlich der Pfad nördlich vom
Thianschan (Thian - schan - pe - lu) über Urumptsi, Chuldscha und
längs dem Ili, und der Pfad südlich vom Himmelsgebirge (Thian-
schan-man-lu) durch das warme Kaschgharien, Dass Marco Polo
diesen letzteren Weg benutzt hat , ist nie bezweifelt worden ; es
ist jedoch Pauthier gelungen das Land oder die Stadt Siarciam,
welche der Venetianer unterwegs berührte, als das Karaschar der
modernen Erdkunde aufzufinden. Karaschar (spr. Karascher),
welches schwarze Stadt bedeutet, führte nämlich nach den
chinesischen Länderbeschreibungen zur Zeit der mongolischen
Eroberung den Namen Si- tscheu. Nach Osten fortschreitend,
erreicht Marco Polo die Stadt Lop. Eine solche Stadt kennen
wir zwar nicht mehr, wohl aber einen See dieses Namens, Lop-
noor, und in der Nähe mag die Stadt gelegen sein, die Polo be-
zeichnen will, der auch die grossen Steppen , von den Mongolen
Gobi (Wüste), von den Chinesen Schamo, fliegender Sand geheissen,
nach der Stadt Lop benennt'). Bevor er sie aber gegen Süden
kreuzt, gelangt er nach der Oase Kamil oder Hamil, die er Camul
nennt und die man auf allen unsern Karten findet. Von dort
wendet er sich südwärts, durchschreitet die Gobi und gelangt in
i) Lob oder Lop bedeutet im Osttiirkischen ein Becken, wo sich Wasser
ansammelt.
/y3 Zur Geschichte der Geographie.
das Reich oder die chinesische Provinz Tangut (Tankut unserer
Karten) mit der Hauptstadt Saciou leicht wieder zu erkennen im
jetzigen Scha-tscheu. Seine Beschreibung springt dann plötzUch
vom Wege ab auf die Nordseite des Himmelsgebirges nach Chin-
gintalas. Keiner der früheren Ausleger des Marco Polo hat dieses
geographische Räthselwort richtig zu deuten vermocht. Pauthier
dagegen findet in chinesischen Länderkunden ein Sai-yin-ta-la
angegeben, einen dsungarischen Ortsnamen, welcher treffliches
(sai-yin) Land (tala, Feld) bedeutet. Da die Chinesen kein r
besitzen und es stets in 1 umwandeln, muss man Sain-tara lesen.
Saintara, welches sich auf d'Anville'schen Karten findet , ist nach
Urumtsi die wichtigste Stadt der chinesischen Dsungarei und lag
am Thian-schan-pe-lu (Strasse im Norden des Himmelsgebirges),
Von Scha-tscheu hat der Reisende Suctur und Kampicion be-
rührt. Die Synonymen für diese Namen sind leicht zu finden,
denn gegen Osten treff'en wir auf unsern Karten Su- tscheu und
Kan-tscheu. Suctur ist beiläufig bemerkt eine Leseart, welche die
Trefflichkeit des neuen Textes bewährt, denn die Provinz hiess
im Chinesischen Su - tscheu - lu ') , woraus im Munde der Tataren
Suc-tschu-r werden musste, während Kampicion statt Kan-tscheu
wahrscheinlich durch Einschiebung des Wortes pi, Gränze, ent-
standen ist, so dass Kam-pi-tscheu die Gränzprovmzialstadt Kam
heissen würde. Als benachbart wird die Stadt Esanar erwähnt,
richtiger in andern Handschriften Ezina gesclvieben, das ehema-
lige Ltsi-naii, welches von den heutigen Karten verschwunden ist,
während d'Anville noch einen Etzine-pira, d. h. einen Fluss Etzin
kennt. Von dort springt Marco Polo's Beschreibung plötzlich
wieder in den Norden der Gobi nach der Stadt Caracoron, aber-
mals einer schwarzen Stadt (Kara schwarz, korum Stadt, türkisch
und mongolisch), die man aber ja nicht bei der weit entfernt
liegenden Karakorumkette zwischen Himalaya und Kun-lün suchen
darf 2). Karakorum, wo lange Zeit das gelbe Kaiserzelt der
Mongolen stand, war im 13, Jahrhundert ein Ortsname von höch-
ster topographischer Wichtigkeit, und jemand, der von dort zurück-
l) La heisst eigentlich Strasse , wurde aber auch für einen Verwaltungs-
bezirk angewendet , wie in Italien eine Provinz Emilia zu Ehren der Via
Aeinilia geschaffen wurde.
2} Aeltere Erklärer übersetzen Karakorum mit schwarzer Sand, was
einen besseren Sinn gewährt für den Namen von Städten und von Gebirgen.
Die 57. Ausgabe des Marco Polo. yn
kam, galt seinen Zeitgenossen als eine viel merkwürdigere Persön-
lichkeit als uns ein Reisender, der aus Timbuctu heimkehrt. Man
findet das alte Karakorum auf allen unseren Karten angegeben,
bei d'Anville , bei Humboldt und allen neueren , aber die Fixirung
dieses Ortsnamens beruhte bisher nur auf Willkür, denn Pauthier
belehrt uns, dass niemand die Lage dieses Ortes zu be-
stimmen vermöge, und dass alles, was wir wissen, uns nur
berechtigt Karakorum in die Nähe des Orchon zu verlegen.
Unsere Kartenzeichner mögen daher auf ihren Platten ein Frage-
zeichen vor oder hinter den Namen Karakorum hnizufügen
lassen.
Nach einer Abschweifung über die Geschichte Temudschins
(Dschingis Chans) und des asiatischen Erzpriesters Johannes ^)
beschreibt uns Marco Polo in den mongolischen Steppen das
Reich und die Stadt Erguiul, welche Pauthier ohne uns über den
Namensursprung aufzuklären , für Yung-tschang-lu hält , dann die
Stadt Singuy (Si-ning-fu), endlich das Reich Egrigaia, wofür Pau-
thier als synonj'm die Stadt U-la-hai der Chinesen ausserhalb der
Mauer nachweist 2). Das Reich Tanduc des Venetianers findet
der Sinolog wieder in dem jetzigen District Ta - thung, der gegen-
wärtig von zwei Armen der grossen Mauer eingeschlossen wird.
Von Tanduc schreitet die Schilderung fort nach Ciandu,
längst erkannt als Schang-tu, wörtlich Monarchensitz, dem Som-
merpalast Cubilai Chans, des damaligen Mongolenkaisers, und
springt dann plötzlich südwärts aus den mongolischen Steppen
nach dem eigentlichen China, und zwar nach der Hauptstadt
Chanbalik , das heisst Kaiserstadt , der mongolischen Benennung
für Peking. Marco Polo muss auf seinem Wege aus der Steppe
die grosse Mauer überschritten haben, die nach allen Zeugnissen
i) In Bezug auf letzteren wiederholt Pauthier die alten ungenügenden
Erklärungen. Die neuen Untersuchungen von Oppert über die asiatischen
Erzpriester (s. Ausland 1864. S. 976) kennt er offenbar nicht, denn wenn er
die Ansicht dieses Orientalisten nicht getheilt hätte, müsste er sie wenigsten?
widerlegen.
2) Die Hauptstadt von Egriaia nennt Marco Polo Calacia. Pauthier will
den Namen ableiten aus dem arabischen (!) Kala , Schloss , und dem chine-
sischen Si-Hia, die westlichen Hia, wie eine kleine Lehusdynastie in der
Steppe hiess, Calacia soll also bedeuten: Schloss der westlichen Hia, und der
Stadt Ninghia der chinesischen Reichsgeographie entsprechen.
So Zur Geschichte der Geographie.
der Geschichte vom Kaiser Thsin Schi-hoang-ti 214 — 204 vor
unserer Zeitrechnung erbaut wurde. Bekanntlich erwähnt aber
Marco Polo der grossen Mauer mit keiner Sylbe , ein befremden-
des Schweigen, welches von jeher seine Erklärer in die grösste
Verlegenheit gesetzt und zu Vermuthungen und Ausflüchten ge-
nöthigt hat. Nach unserer Ansicht kann man die einzige Beru-
higung nur in Marco Polo's Worten finden, die er auf seinem
Sterbebette als Antwort auf das Drängen seiner Freunde gab, die
ihn beschworen „seine vielen Unwahrheiten" doch zu widerrufen.
Er habe, versicherte er ihnen, nur die Hälfte erzählt von allen
Wundern der Welt, die er wirklich gesehen habe.
Auf die Einzelnheiten seiner Beschreibung Chinas können wir
uns nicht einlassen, sondern nur diejenigen Punkte hervorheben,
welche ein besseres Licht durch den neuen Erklärer gefunden
haben. So spricht Marco Polo von einem Lande Gaindu, west-
lich von Tübet, mit einem See, in dem Perlenfischerei betrieben
werde. Klaproth glaubte darin die Stadt Kiangtheu im nördlichen
Theile von Awa, zehn Tagereisen gegen Südwesten von der
Gränze Yünnans zu erkennen , die er von chinesischen Schrift-
stellern in der Mongolenzeit erwähnt fand. Allein diess passt
nicht zu der Lage, die Marco Polo dem Lande anweist, welches
vielmehr die Landschaft Ghendu mit einem grossen See in Tübet
(lat. 28^ 40' N., long. 92^ ig' Ost) Paris ist, deren Klaproth
selbst (Memoires III. p. 411 sq.) gedacht hat. Dass wir unter
dem Reich Mien das heutige Birma, unter Aniu Annam zu ver-
stehen haben, bestätigt wie alle seine Vorgänger auch Pauthier.
Gegen Osten aber lag die Landschaft Tho-lo-man, die an der
Gränze des heutigen Kuangsi gesucht werden muss, wo nach den
chinesischen Chorographien die unabhängigen Stämme Pho, Lo
und Man sassen, von denen Marco Polo's Beschreibung zu der
von Cuguy (Kuei-tscheu) sich wendet, wie eine Grenzlandschaft
Yünnans jetzt noch heisst. Das damalige China zerfiel in eine
nördliche Hälfte Cathai oder Chatai, und in eine Südhälfte Mangi
oder Manzi. Der südliche Theil gehört zu den frischen Erobe-
rungen der Mongolen, und in einer der annectirten Städte, Yang-
tscheu, war es, wo Marco Polo drei Jahre als kaiserlicher Präfect
waltete. Jetzt ist Yang-tscheu nur die Hauptstadt eines Kreises
der Provinz Kiang-nan, im Jahr 1276 war es aber vorübergehend
zum Sitz einer Generalstatthalterei erhoben worden , um jedoch
Die 57. Ausgabe des Marco Polo. gl
schon 1277 wieder zur Departementalstadt erniedrigt zu werden.
Marco Polo's Amtszeit muss auf die Jahre 1277 — 1280 fallen,
denn wäre er jemals Generalstatthalter gewesen, so würde sein
Name in den chinesischen Geographien der damaUgen Zeit ge-
nannt worden sein.
Marco Polo erzählt ferner, dass die Mongolen drei Jahre lang
die Stadt Saianfu (Siangyang) belagert und sie zuletzt nur einge-
nommen hätten mit VVurfmaschinen , welche der Grosschan nach
Nicolas' und Maffio's Polo Unterweisung erbauen Hess. Sie schleu-
derten grosse Steine auf so weite Entfernungen, dass es gelang,
die Mauern der Stadt in Bresche zu legen. Nach den chinesischen
Annalen währte die berühmte Belagerung 161 1 Tage, vom Jahr
1268 — 1273, also nicht drei, sondern fünf Jahre. Der mongoHsche
Feldherr Alihaiya verwendete auch wirklich mit Genehmigung des
Kaisers seit 127 1 zwei fremde Techniker, die ihm Wurfmaschinen
bauten. Den einen nennen die chinesischen Geschichtschreiber
Ala-uting (Ala-ed-din), den anden Yssemain. Pauthier erweist uns
die Ehre das Wort Yssemain von Allemand abzuleiten, und einen
der Geschützmeister für einen Deutschen zu halten. Schade nur,
dass dann dieser Teutone sich für einen ,, Allemand" ausgegeben
und seinen Nationalnamen den Chinesen französisch vorgesetzt
haben müsste*). Wenn Marco Polo die Einführung der Wurf-
maschinen seinem Vater und Onkel zuschreibt, so lässt sich das
leider mit ihrem Alibi nicht vereinigen. Gerade zur Zeit der
Belagerung Siangyangs befanden sie sich theils auf ihrer ersten
Rückkehr nach Europa, theils auf ihrer zweiten Wanderung nach
China, welches sie erst 1275 erreichten, denn 1271 warteten sie
noch auf die neue Papstwahl in Lajasso, Indessen ist es möglich,
dass Ala-ed-din und Yssemain ihre Schüler gewesen sind, und dass
sie auf ihrer ersten Reise sie jene Wurfmaschinen erbauen lehrten.
Im italienischen Text des Ramusio wird der Ausbruch einer
Verschwörung und die Ermordung eines kaiserlichen Finanzmini-
sters Ahmed, eines Eingebornen von Samarcand, erzählt, der sich
grobe Verbrechen hatte zu Schulden kommen lassen. Der Bericht
des Venetianers ist so genau, wie er nur aus einer Kenntniss der
Acten hervorgehen konnte. Auch erzählen mehrere chinesische
l) Wenn Ala-uting Ala-ed-din unzweifelhaft ist, warum ist dann Yssemain
nicht Ismael?
Feschel, Abhandlungen. II. 6
82 Zur Geschichte der Geographie.
Historiker, dass der Kaiser einen Beamten, Namens Polo, mit der
Untersuchung der Verschwörung beauftragte, so dass also gar kein
Zweifel herrschen kann, dass der Polo der chinesischen Annalen
und einer der drei Venetianer, wahrscheinlich aber Marco, dieselbe
Person sei.
Ein anderer Gewinn für die richtige Erklärung des Textes
ist die wahre Bezeichnung der Lage von Nanghin. Marsden,
Bürk, Lazari haben sogleich an Nangking gedacht, nur Klaproth
suchte, wenn auch irrthümlich Kaifung-fu hinter dem Namen.
Nangking (die Südstadt, im Gegensatz zu Peking, der Nordstadt)
hiess nämlich unter den Mongolen Tsi-khing, so dass wir nicht
dieses unter dem Nanghin des Marco Polo , sondern vielmehr
Nyan-khing am linken Ufer des Kiang erkennen dürfen.
Dass das Quinsay (King-sse) des Venetianers , welche das
wahre Ziel des Entdeckers von Amerika war, die alte Hauptstadt
der Sung, jetzt Hang-tscheu-fu, und der Handelshafen Qayton das
jetzige Tseu-thung gewesen sei, hat schon Klaproth gelehrt. Im
Namen Zipangu liess sich ebenfalls leicht Dschi-pen-kue, das Reich
der aufgehenden Sonne erkennen, wie die Japanesen ihr Vaterland
nennen, und woraus unser Japan entstanden ist, welches wir aber
Dschepen aussprechen sollten.
In der indochinesischen Welt hat sich Marco Polo's Ciamba
als Tschampa für die Küste zwischen Cochinchina und Cambodscha
noch auf unsern Karten erhalten, von seinen Inseln Sondur und
Condur ist die letztere das nautisch wichtige Pulo Condur im
südchinesischen Meer, Pontain dagegen ist die Zinn-Insel Bintang,
und Maliur die Landschaft Malaiur an der Westseite der Halbinsel
Malaka. Aber sehr schwierig war die Auffindung eines Synonyms
für Locach. So steht nämlich in allen gedruckten Texten und
auf den Karten des sechzehnten Jahrhunderts , ohne dass jemand
bisher vermochte den Namen an eine moderne Oertlichkeit zu
befestigen. Glücklicherweise liest man aber in den französischen
Handschriften Sucat statt Locach , und diess führt uns bequem
nach der Stadt Sucat auf Borneo , wo ehemals das alte indische
Reich Sukhadana lag. Ist das Sucat des Marco Polo Borneo,
dann löst sich von selbst die alte Streitfrage, dass nämlich der
Venetianer und nicht bloss er, sondern seine Nachfolger, die
Franciscanermissionäre in China , unter Grossjava nichts anderes
Die 57. Ausgabe des Marco Polo. g?
als das heutige Java verstanden haben können, denn sein Kleinjava
ist längst als Sumatra wieder erkannt worden.
Die chronologischen Gebrechen der Texte vermag aber auch
Pauthier nicht zu heilen; sie fallen entweder den Abschreibern
zur Last, oder Marco Polo, der sich auf seinen asiatischen Reisen
abwechselnd des chinesischen und des muhammedanischen Kalenders
bedienen musste, irrte sich bei der Uebertragung seiner Jahreszahlen
in die christliche Zeitrechnung. So setzt er den mongolischen
Eroberungszug gegen Mien (Birma), an welchem er ohne Zweifel
persönlich theilnahm , ins Jahr 1272 statt 1282. Er kann auch
nicht, wie er behauptet, 1295 noch in Tschampa gewesen sein,
sondern muss sich bereits damals in Europa befunden haben.
Die Poli wurden bekanntlich vom Chan beauftragt eine kaiserliche
Prinzessin auf dem südasiatischen Seewege nach Persien zu
geleiten. Ihre Abreise muss in die Jahre 1291 oder 1292 fallen,
denn sie bedurften zweift- Jahre, ehe sie Täbris erreichten.
Damals herrschte in Persien Kajchatu , dessen Regierung vom
22. Juli 1291 bis 23. April 1295 dauerte, und im letzteren Jahre
1295 muss Marco Polo bereits Venedig erreicht haben, denn er
befand sich 1296 auf einer der 25 Galeeren, die von Venedig
ausgelaufen waren und im Golfe von Lajasso von den Genuesen
zerstört oder genommen wurden.
Es geschah 1298, dass er im Kerker Genua's, als Kriegs-
gefangener, dem Rusta Pisan, oder dem Rusticus aus Pisa, seine
,, Wunder der Welt" dictirte. Rusticus aus Pisa, obgleich ein
Italiener , schrieb doch französisch , und hatte sich bereits durch
eine französische Bearbeitung der Che.valiers de la Table Ronde
bekannt gemacht; auch Brunetto Latini, der Lehrer Dante's, und
Martino Canale, sein Zeitgenosse, bedienten sich des Französischen,
und zwar, wie sie beide gestehen, weil die französische Sprache
cort parmi le monde et est plus delictable ä lire et ä oir.que nulle
autre. Dass der italienische wie der lateinische Text des Marco
Polo aus dem Fanzösischen übersetzt worden sei, lässt sich deutlich
an einigen sprachlichen Missverständnissen nachweisen, und ist
zuerst vom Grafen Baldelli Boni erkannt worden. Von einem
altfranzösischen Text, der von Rusticus aus Pisa herrührt, stammt
die Ausgabe des Marco Polo, welche die geographische Gesellschaft
in Paris veranstaltet hat. Diess ist der älteste aller Originaltexte.
Als aber Marco Polo , aus seiner Kriegsgefangenschaft entlassen,
6*
Sa Zur Geschichte der Geographie. Die 57. Ausgabe des Marco Polo.
im Jahr 1307 in Venedig mit Thiebault de Cepoy, dem Botschafter
von Karl von Valois, Grafen von Artois bekannt wurde, der seit
1305 sich dort aufhielt, übergab er ihm als Geschenk für seinen
Fürsten eine zweite, gleichfalls französische Bearbeitung, die, unter
seinen Augen gefertigt, stylistisch reiner war als die unbeholfene
und fehlerhafte des Pisaner Rusticus. Da sie weit vorzügUcher
ist als der ältere Text, so unterhegt es keinem Zweifel, dass
manche Verbesserungen und Zusätze nur von Marco Polo selbst
ausgehen konnten. Wir haben hier also einen Jüngern französischen
Originaltext gleichsam „durchgesehen und verbessert vom Autor,"
und dieser Text, von dem sich drei handschriftUche Exemplare in
Paris befinden, liegt der neuen Ausgabe zu Grunde.
Es wäre voreilig zu sagen, dass mit Pauthier's Arbeit die
Kritik eines der merkwürdigsten und geschichtlich folgenreichsten
Bücher des Mittelalters erschöpft worden sei. Noch immer bleiben
eine Anzahl Erklärungen unsicher, doÄi betreffen die Zweifel nur
Dinge zweiter Ordnung, und man kann wohl sagen, dass wir jetzt
bis auf unbedeutende Reste Marco Polo völlig und mit Leichtigkeit
verstehen. Je klarer aber das Verständniss wurde , um so mehr
gewann der Venetianer an unserer Achtung, und ein Mann, den
seine Zeitgenossen für einen dreisten Lügner gehalten und einen
MilUonenschwätzer (il Milione) genannt haben, gilt uns jetzt als
ein treuer, wahrhaftiger und genauer Berichterstatter über das
ferne Morgenland.
8. Die mittelalterlichen Handelsnieder-
lassungen der Italiener in der Levante.
(■Ausland 1868 Nr, 38. 17. September.)
Die Culturgeschichte des Mittelalters beschäftigt sich sehr
wesentlich mit den Berührungen zwischen Abendland und Morgen-
land, oder zwischen Europa und Kleinasien. Wie wichtig und er-
spriesslich auf unsere geistige Entwickelung die Kreuzzüge gewirkt
haben, ist keinem Gebildeten eine Neuigkeit mehr. Mit den Kreuz-
zügen und dem Verluste Acca's hörte jedoch der Verkehr nicht auf.
Das Abendland besass in seinen asiatischen und später ägyptischen
Factoreien Organe, welche es in beständiger Berührung mit der
Bildung des Morgenlandes hielten. Die meisten und vornehmsten
der überseeischen Niederlassungen gehörten aber den Italienern.
Ueber die italienischen Pflanzstädte besassen wir schon längst,
zusammengetragen aus ungezählten, umfangreichen und gewöhnlich
sterilen Schriften, vor deren Durchwanderung nur der Deutsche
nicht zurückschreckt — den man überhaupt für die trockenen
Gebiete der Literatur das Schiff der Wüste nennen dürfte — eine
von wenigen gekannte, von diesen wenigen aber hoch geschätzte
Arbeit von W, Heyd in Stuttgart. Sie Avar aber leider nur in
einzelnen Heften der Tübinger Zeitschrift für Staatswissenschaft
erschienen, für diejenigen also, die sie gesondert benützen wollten^
schwer käuflich. Diesem Missstande ist glücklich abgeholfen
durch die Ausgabe einer italienischen Uebersetzung ^), welche G.
Müller in Turin besorgt hat. Sie ersetzt, da in Deutschland alle,
l) Le Colonie commerciali degli Staliani in Oriente nel medio evo. 2 vol.
Venezia e Torino 1866 e 1867.
86 Zur Geschichte der Geographie.
die sich mit jenen Stofifen beschäftigen, des Italienischen kundig
sind, eine deutsche Gesammtausgabe , vor der sie noch manches
voraus hat, denn erstens konnte der Verfasser selbst in die
Uebersetzung noch manches zur Ergänzung hineintragen, zweitens
wurde sie mit einem Sachregister versehen, und drittens ihr zwei
ganz neue Abschnitte über Cypern und Nordwestafrika hinzu-
gefügt.
Man würde dieses Werk sehr niedrig stellen, wenn rnan ihm
nur eine Wichtigkeit für die Handelsgeschichte beilegen wollte.
Die Berührungen zwischen dem Abendland und dem Morgenland
bleiben stets höchst denkwürdig. Zwei Gesittungen und zwei
Religionen haben sich dort begegnet, und gar manche Züge der
sogenannten orientalischen Frage erscheinen dem Kundigen nur
Wiederholungen sehr alter Erscheinungen. Besonders rechts-
geschichtlich zeigt sich , dass die noch jetzt bestehende Consular-
gerichtsbarkeit in der Levante durch die Natur der Dinge begrün-
det war, und dass, wo Völker von so verschiedenen Gesittungen
neben und miteinander leben, auch die Rechtspflege, so weit es
angeht, gesondert werden muss. Eine der wichtigsten Quellen
des Verfassers waren ferner die Beschreibungen mittelalterlicher
Reisenden. Zu ihrem besseren Verständniss hat Heyd das Seinige
reichlich beigetragen, und wer sie benutzen will, sei er Geograph,
Orientahst , Geschichtschreiber der Kreuzzüge oder Kenner der
heiligen Lande, wird manchen werthvollen Aufschluss finden.
Auf den gesammten Inhalt einzugehen dürfte nicht mehr an
der Zeit sein , wir wählen daher den neuen Abschnitt über die
Insel Cypern, der dem Leser zugleich einen Massstab zu geben
vermag für das, was die andern Abhandlungen enthalten.
Erst als Richard Löwenherz 1 1 9 1 der Herrschaft der Grie-
chen auf den Inseln ein Ende gesetzt und das Haus der Lusig-
nani auf drei Jahrhunderte den cyprischen Thron bestiegen hatte,
begann dort ein Handel aufzublühen, und zwar scheinen die Pi-
saner die ersten gewesen zu sein , welche den Werth Cyperns
erkannten. Doch schon im Jahre 12 18 erlangten auch die Genu-
eser Quartiere und Consulatsgerechtsame in Limisso und Fama-
gosta, die später 1232 durch eine Art Magna charta ihnen feier-
lich bestätigt wurden , und welche ihnen unter andern auch ab-
gabenfreie Ein- und Ausfuhr zusicherten. Immer blieb Cypern ein
Handelsgebiet zweiten oder dritten Ranges, bis 1291 mit Acca
Die mittelalterlichen Handelsniederlassungen der Italiener in der Levante, g-j
der letzte Platz der Lateiner in Kleinasien den Saracenen in die
Hände fiel. Gleichzeitig verhängten die Päpste eine Handels-
sperre über Aegypten und bedrohten jeden Zuwiderhandelnden
mit schweren weltlichen und ewigen Strafen. Die Könige von
Cypem fanden es sehr vortheilhaft im Sinne der päpstHchen Ver-
bote dem Schmuggel mit Aegypten nach Kräften zu steuern, denn
ihre Insel wurde seitdem der natürliche Zwischenplatz für den
sogenannten indischen Handel, und was die Gunst ihrer Lage
noch steigerte, war der Umstand, dass ihr gegenüber in Klein-
asien der letzte christliche Staat, nämhch Kleinarmenien mit seinem
Hafen Lajazzo (Ajas), lag, wohin aus dem wirkhchen Indien Ka-
rawanen auf den Euphrat- und Tigrispfaden heranzogen. Uebri-
gens erzeugte Cypem selbst eine Menge geschätzter Güter. Noch
lange sollte es währen, bis auf den Canarien und den Antillen
Zucker gebaut werden würde. Er war vielmehr damals ein me-
diterran eisches Product, und nach Aegypten Cypern das zweite
Zuckerland der mittelalterlichen Welt. Die Insel besass ferner in
ihren natürlichen Salinen Schätze, die man alljährlich mit der
Schaufel aufheben konnte. Ferner wuchs dort der weitberühmte
Cyperwein, und in Nikosia wurden unter dem Namen drap d'or
de Chypre berühmte Goldbrocate gefertigt.
Mit dem Falle Acca's fanden sich zu den Pisanem und Ge-
nuesen bald auch Catalanen und Venetianer ein, so dass die vier
grössten Handelsvölker des Mittelmeeres um jene Zeit auf Cypern
vertreten waren. Die alte Bundesgenossenschaft mit den Genue-
sern hatte inzwischen manche Brüche erlitten, und seit 1306, wo
die Venetianer grosse Handelsgerechtsame erlangten, wurden diese
von Volk und Hof sichtbar bevorzugt. Der Handel war damals
noch »ein ritterliches Gewerbe , zumal der Seehandel , der sich
wegen der Piratengefahr nur durch Kriegsschiffe und zum Theil
nur durch Seekarawanen betreiben Hess. Die Zwistigkeiten der
Mutterstädte pflanzten sich aber fort nach der Levante, und blu-
tige Auftritte zwischen den Kaufleuten der verschiedenen Nationen
gehörten nicht zu den Seltenheiten, So wäre es am 12. Novem-
ber 1372 bei Gelegenheit der Krönung Peter des Zweiten in Fa-
magosta beinahe zum Waffengemenge zwischen Venetianem und
Genuesen gekommen. Die Cyprioten warfen sich auf die letztem,
ergriffen etliche, um sie aus den Fenstern zu stürzen und erschlu-
gen andere im Palast, während der Pöbel ihre Loggia ausplün-
gg Zur Geschichte der Geographie.
derte. Allein mit der grossen Republik war es gefährlich Händel
anzuknüpfen. In Genua bildete sich sehr rasch eine Gesellschaft
Namens Maona auf Actien. Diese rüstete 1373 eine Flotte von
7 Galeeren mit 1400 Mann Landungstruppen, welche völlig
genügten, um der Insel Herr zu werden und den König gefangen
nach Genua zu schleppen, von wo er erst 1374 und nicht eher
entlassen wurde, als bis er der Republik einen Tribut von 90,000
Goldgulden verschrieben, der Gesellschaft Maona aber als Kriegs-
entschädigung 2,012,400 Goldgulden zugesagt hatte. Als Pfand
für diese Schuld übergab er den Hafen Famagosta, der zugleich
als ausschliesslicher Hafen für den auswärtigen Handel erklärt
wurde. Da die cyprischen Könige die Schuld nicht abtrugen,
bheben die Genueser 90 Jahre im Besitze des Pfandes, über dessen
Werth uns die Angabe belehrt, dass damals jährlich dort 60 bis
100 Schiffe einzulaufen pflegten, jedes mit Frachten von 100,000
Gulden im Durchschnittswerth, für damaUge Verhältnisse ein Um-
satz ersten Ranges. Man wird vielleicht erwarten, dass die Ge-
nuesen als Inhaber des Hafens ihre venetianischen Nebenbuhler
durch Tarife bedrückt haben würden ; diess geschah jedoch nicht,
sondern die Venetianer hatten wie die Genueser nur einen Werth-
zoll von I Proc, und Va Proc. für edle Metalle oder Pretiosen
zu entrichten. Aber nichtsdestoweniger wurden die Venetianer
durch allerhand Plackereien beengt und bedrückt. Um jene Zeit
wurde übrigens die Handelssperre von den Päpsten wieder auf-
gehoben und der indische Waarenumsatz mehr und mehr wieder
auf das Festland verlegt. Im sogenannten Kriege von Chioggia,
der 1381 mit völliger Niederlage der Genueser und dem Siege
der Venetianer endete, standen die Cyprioten natürlich auf Seite
der letztern, doch wurden sie ihre Pfandgläubiger in Famagosta
desswegen nicht los. Aber die Macht des genuesischen Staates
war so vollständig gebrochen, dass er sich den wiederholten An-
läufen der cyprischen Könige gegen Famagosta nicht gewachsen
fühlte, und dieser Hafen in den Besitz einer Creditgesellschaft,
der historisch berühmten Bank von San Giorgio, 1447 überging,
der aber schon 1464 nach langer Belagerung vom Bastard lacob IL
Famagosta entrissen wurde. Die Handelsblüthe der Insel war aber
längst gewelkt. Um die Tribute und Erpressungen der Genueser
zu befriedigen,, drückten unerschwingliche Steuern den Kaufmann
und Producenten, so dass, wer nicht gebunden war, dem unerquick-
Die mittelalterlichen Handelsniederlassungen der Italiener in der Levante, gg
liehen Lande den Rücken kehrte. Der Befreier Cyperns vermählte
sich bekanntlich mit Cattarina, einer Enkelin eines auf Cypem an-
gesessenen Venetianers Andrea Cornaro, der nach dem Tode ihres
Gemahls als Königin-Wittwe und als „Adoptivtochter Venedigs"
die Zügel der Regierung in die Hand gelegt, bald aber wieder von
ihren Vormündern entrissen wurden , damit die Flagge von San
jNIarco die Insel decken solle. Aber auch unter ihrem Schatten
wollte Cypem nicht mehr gedeihen, bis endUch im 1 7 . Jahrhundert
die Türken auch ihre letzten Reste von Wohlstand vernichteten.
9. Die italienischen Colonien in der Krim
und am Don im Mittelalter.
(Ausland 1855, N^. i. 5. Januar.)
,,Alexandrien , sagt Ibn Batuta 0, besitzt einen prachtvollen
Hafen. Ich habe einen ähnHchen nicht wiedergefunden auf dieser
Erde, wenn man etwa ausnimmt Kulam tind Calicut in Indien,
den Hafen der Ungläubigen (Genueser) von Sudak (Soda)^a, Sol-
daya, Sedaia) im Türkenlande (Krim) und den Hafen von Zeitun
(Thtsethung)^)." Diess sind die Worte eines Mannes, der von
sich sagen konnte, er habe so ziemlich die ganze seinem Zeitalter
bekannte Welt gesehen. Sudak war also im zweiten Viertel des 14.
Jahrhunderts ein Welthafen von der damaligen Bedeutung Alexan-
driens. Wie würde es lauten , wenn heute Jemand sagte : Sudak
sei ein Hafen wie London, New-York, Buenos Aires oder Canton?
denn so etwa drückt sich der arabische Weltreisende vor seinen
Zeitgenossen aus.
Wir wissen, dass der nordösthche Golf des schwarzen Meeres
den Hellenen gar wohl bekannt war. Der historische Mythus der
Argonautenfahrt versetzt uns an die Mündung des Phasis (Rion),
und Herodot weiss bereits, was bis in das sechzehnte Jahrhundert
unserer Zeitrechnung noch bestritten blieb, dass der kaspische See
ein östliches Ufer habe und dass er nicht gegen Norden in einen
Polarocean münde, wie man noch 2000 Jahre nach ihm zu ver-
muthen fortfuhr. Er kannte schon das Land der Argippäer und
der Issedonen, an welches das goldreiche Land der Arimaspen
i) Nach Klaproth, Mem. r61at. ä l'Asie II. p, 208. Das heutige
Tsiuantscheufu.
2) Voyage d'Ibn Bathuta par Defremery. Paris 1853. Tom. I, p. 28.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter.
91
gränzte. Er beschreibt die Handelsstrasse, welche die griechischen
Kaufleute der milesischen Colonien einschlugen, um bis zu den
Argippäem (am Ural) zu gelangen, denn zu ihnen, diess sind seine
eigenen Worte (Melp. 24), kamen Hellenen von dem Stapelplatze
am Borysthenes (Dniepr) und aus allen andern pontischen Häfen.
Im Argippäer-Lande schöpften sie aus dem Munde der Issedonen
ihre Kenntnisse von den winterlichen Ebenen Nordasiens und
erfuhren durch sie die Existenz von Goldlagern am nördlichen
Abfall des Altai. Zu Strabo's , Plinius' und Ptolemäus' Zeiten war
die Kenntniss des asiatischen Festlandes schon weiter östlich vor-
gedrungen. Der östlichste astronomisch bestimmte 0 Punkt, den
Ptolemäus kennt, scheint der sogenannte steinerne Thurm gewesen
zu sein, den man jetzt zwischen Kokan und Kaschgar sucht 2).
Vom steinernen Thurm aus, den wir uns als einen Gebirgspass
zwischen dem Mustagh und Bolortagh vorstellen müssen, gelangte
man auf die tatarische Hochebene, über welche hinweg die Handels-
karawanen der Serer aus dem Lande, wo die Seide erzeugt wurde,
mit der alten Welt Verkehr unterhielten.
Zu Karls des Grossen Zeiten war Konstantinopel der aus-
schhessliche Stapelplatz des Pelzhandels ^) und wir dürfen desshalb
vermuthen, dass die Byzantiner in pontischen Seehäfen bereits die
kostbaren Pelzwerke des asiatischen Russlands ■*) erhandelten, welche
Venetianer aus Konstantinopel holten und in Pavia auf den Markt
brachten, wo sie von den putzsüchtigen Hof leuten des fränkischen
Kaisers um schweres Geld gekauft wurden. Damals herrschte an
den kaspischen Gestaden, im Steppengebiete des Don und auf der
Krim, die Herrschaft der Khosaren, der Nachfolger der Avaren
1) Ueber die Längenbestimmung des steinernen Thurmes herrschte nämlich
kein Streit, also hatte man vermuthlich dort eine Sonnenfinsterniss beobachten
können. Nur über die Ausdehnung Asiens östlich von diesem Punkt erhob
Ptolemäus Streit gegen Marin von Tyrus, denn für die weiteren Stationen gab
es nur die Berechnung der Karawanenmärsche.
2) A. V. Humboldt, Centralasien Bd. i, S. 103. Bei der Stadt Osch
findet sich das Denkmal der ,, vierzig Säulen" oder der ,, Thron Solimans",
welches vermuthlich Reste des ehemaligen befestigten Karawanenserais sind.
3) Heeren, Kreuzzüge S. 257.
4) Wenn man nämlich die Worte des Mönches von St. Gallen (De gestis
Caroli Imperatoris II, cap. in Pertz , Monum. tom II, 760) .... quidam
de gliribus circumamicti procedebant wie es Pertz thut, in ,, Her-
melin gekleidet" übersetzt.
Q2 Zur Geschichte der Geographie.
und der Vorgänger der Hungarn. Ihre Hauptstadt Ask lag an
der Wolga und durch ihre Hände ging wahrscheinlich der nord-
asiatische Pelzhandel.
lieber diesen Handel besitzen wir wichtige Angaben bei dem
arabischen Geographen Ibn Kordadbeh (912 n. Chr.), der eine
Postmeisterstelle im Dschebal, also im alten Medien bekleidete^)-
„Die Russen, sagte er, welche zu den slavischen Stämmen gehören,
reisen von den entferntesten Gebieten nach dem Meere von Rum
(Pontus) und verkaufen dort Biber- und Fuchsfelle. Der Kaiser
(von Byzanz) begnügt sich mit einem Einfuhrzoll von 10 Procent
auf alle Waaren. Die russischen Kaufleute fahren den Strom der
Slaven (Wolga, Iltil) herab ; auf dem Flussarme, welcher durch die
Stadt der Khosaren strömt und wo sie dem Landesherrn 10 Procent
Zoll »entrichten müssen, gelangen sie in das Meer von Dschordschan
(kaspischer See) und laufen in irgend einen der dortigen Häfen.
Bisweilen werden die russischen Waaren auf Kameelen von der
Stadt Dschordschan (das Zorzan der Lateiner, eine Stadt am Ufer
des heutigen Gilhan) bis nach Bagdad gebracht."
Die mittelalterliche Geographie, die arabische wie die christ-
liche, hatte eine besondere Leidenschaft, bei grossen Flüssen die
seltsamsten Bifurcationen anzunehmen. So hielt man denn auch
den Tanais (Don) fortwährend für einen rechten Abfluss der Wolga.
Beide Flüsse kommen sich bekanntlich auch so nahe, dass nur ein
schmaler Isthmus sie trennt. Dieser Irrthum herrschte noch bis
zum Ende des 13. Jahrhunderts. „Mit Unrecht, schreibt Massudi
(t 955)» behauptet man, das Khosarenmeer (kaspische See) be-
sässe eine Wasserverbindung mit der mäotischen Palus. Niemand
von den Kaufleuten, welche das mäotische Meer und das Meer
Nytasch (Pontus) befahren, um sich in das Land der Russen- und
(Wolga-) Borgaren (Bulgaren) 2) zu begeben, bestätigt, dass der
Khosarensee mit irgend einem andern in Verbindung stehe, und
dass man anders in dieses Meer gelangen könne, als auf dem
Fluss der Khosaren (Wolga). Ich für mein Theil habe mich in
i) Reinaud, Aboulfeda, p. Ivii.
2) Man denke dabei ja nicht an die heutige Bulgarei, ebenso wenig als die
Blachia major bei Roger Bacon (Opus. maj. Fol. 231) unsere ,, grosse Wa-
lachei" ist. Jene asiatische Walachei lag nämlich zwischen der terra Pascatyr
(Baschkirenland, Kirgisensteppe) und Kara-Kathai, das heisst der heutigen
Dschungarei.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter.
93
Aboskun am Meer der Khosaren eingeschifift und habe mich an
die Küste von Thabarestan (Täbristan) und in die angränzenden
Länder begeben. Jeden Kaufmann und jeden Schiffscapitän, dem
ich an jenen Gestaden begegnete und bei dem ich die geringsten
geographischen Kenntnisse antraf, habe ich über die Thatsache
befragt, und alle versicherten, dass sich keine nasse Verbindung
mit dem schwarzen Meere vorfinde, ausser durch die Mündungen
des Iltil (Wolga). An einem obern Theile des Flusses stehe ein
Arm mit einem Canal (Don) in Verbindung, der sich in das
Meer Nytasch oder in das Meer der Russen (azowsches Meer)
ergiesst')."
Auch Edrisi , der zwei Jahrhunderte später schrieb , schildert
die angeblich pontisch-kaspische Bifurcation der Wolga und beruft
sich auf das Zeugniss des älteren Ibn Haukai. Sein Periplus des
schwarzen Meeres vom Bosporus bis Trapezunt und der Nord-
küsten bis Mathraka (das Matraka des Plan Carpin), der Haupt-
stadt eines Fürsten der streitbaren Abäsen (Abchasier), setzt uns
in Erstaunen durch seinen Reichthum an Städten und an Hafen-
plätzen. Auch er kennt Sudak in der Krim , und eine Stadt an
der Mündung des Don, die er Butra nennt. Der Franciscaner-
missionär Plan Carpin ^) spricht von einer ehemaligen Stadt" Namens
Orna an der Stelle des heutigen Azow. Ehemals war dort ein
lebhafter Handel und Wandel zwischen Christen und Muhamme-
danern, Russen, Khosaren, Alanen. Dschingis Chan belagerte
und nahm die Stadt. Ihr Name wird seitdem nicht mehr
genannt. Rubruquis (1253) fand keine Handelsstadt an der Mün-
dung des Don.
Diese historischen Zeugnisse schildern uns die Stapelplätze der
Krim und des Don als die Scene eines Pelzhandels. Setzen wir
hinzu, dass Salz, Wachs und Honig, drei wichtige Handelsartikel
im Mittelalter, auch von dort zu holen waren. Allein das erklärt
uns noch nicht, wie Sudak von Ibn Batuta mit den Welthäfen
des Mittelalters verglichen werden konnte. Dazu bedurfte es erst
eines gewaltigen historischen Ereignisses.
Bisher hatten die Einbrüche der centralasiatischen Nomaden
nach Europa keinen dauernden Verkehr zwischen unserm Welttheil
i) Reinaud, Aboulfeda p. CCXCV.
2) Bei Bergeron tom. II, p. 48. Er reiste bekanntlich im Jahre 1246.
04 Zur Geschichte der Geographie.
und ihrer Heimath hinterlassen. Da kamen die Mongolen. Ihr
Reich erstreckte sich von Peking bis an die Donaumiindungen,
und eine Zeitlang bis an die Küsten des Mittelmeeres. Es bestand
ein Verkehr zwischen den westhchsten Vorposten dieser welt-
beherrschenden Cavalleriemacht und den Ostküsten des asiatischen
Festlandes.
Nach Errichtung des lateinischen Kaiserreiches wurden die
Venetianer Herren des Bosporus , also Herren des schwarzen
Meeres, und mit ihnen erschienen ihre treuen AUürten, die Pisaner,
die Todfeinde Genua's , wieder in Konstantinopel. Nach Marin
(IV. p. 91 - 92) sollen die Venetianer das berühmte Tana an der
Mündung des Don schon vor dem Sturz des lateinischen Kaiser-
reichs gegründet und in Sudak ihre Factoreien errichtet haben»).
Die (erste) Reise Nicolo und Mafifio Polo's, welche in jene Zeit
fällt, geschah wahrscheinlich in der Absicht, Handelsverbindungen
zwischen Venedig und dem Mongolenreiche anzuknüpfen. Plan
Carpin (1426) spricht von seinen Reisegesellschaftern, Kaufleuten
aus Breslau, Polen, Oesterreich, aber auch aus Konstantinopel,
nämlich Genuesern, Venetianern und Pisanern, die mit Handelsgütern
in die Länder Batu Khans gereist waren. Es fand also schon
damals ein Verkehr mit Innerasien statt, wenn er sich auch nicht
an grosse Colonien knüpfte.
Der Sturz des lateinischen Kaiserreiches vertrieb eine Zeitlang
die Venetianer und Pisaner. Die Genueser erwarben jetzt das
„Protectorat" über Konstantinopel , legten in Pera und Galata
befestigte Factoreien an, eroberten im Jahre 1265 schon Sudak
und gründeten Cafifa im Jahre 1269, wie der Abbd Oderico (Lettere
ligustiche p. 13) oder kurz nach 1266, wie Heeren will. Zwei
Genueser Kaufleute, Baldo Doria und Antonio dell' Orto, schlugen
dem Fürsten der Tataren von Kiptschak vor, auf der Krim eine
Factorei zu gründen. ,,Die Tataren, erzählt ein neuerer Schrift-
i) Die Gründung der Tana fällt gewiss später als 1253, denn Rubruquis
(Cap. i) nennt Matriga (das Matrakha des Edrisi) als den grössten Stapelplatz
für das Dongebiet. Dieser Fluss habe nur 6 Fuss Tiefe, so dass die grossen
Kauffahrer nicht zu Berg fahren könnten. ,,Les marchands venant de Constan-
tinople ä Matriga, envoient de lä leurs barques jusqu'au fleuve Tanais (Don),
pour acheter des poissons secs (Wolga-Fische) , comme Eturgeons , Thoses^
Barbottes etc." Schwerlich hat also damals schon diese berühmte Colonie
existirt.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter.
95
steller'), nahmen den Antrag günstig auf, und von Seiten der
Genueser geschah alles, das gute Einvernehmen zu erhalten. Der
Khan schloss mit ihnen einen Handelsvertrag, bestätigte sie im
Besitzthum des Bodens , den sie gekauft , erlaubte ihnen Häuser,
Buden und Magazine zu erbauen, verbot allen übrigen Nationen
den Handel nach der Krim, und sprach den Genuesern allein das
Recht zu, Waaren aus dem Abendlande gegen den landesüblichen
Zoll einzuführen. Eine Zeitlang ging alles friedhch her, allein die
genuesische Einwanderung nahm rasch zu und man wünschte sich
eine grössere Sicherheit als das bisherige gute Betragen des Khans.
Unter dem Vorwande, die Magazine aufzubauen, stach man einen
Graben aus und warf mit der ausgestochenen Erde einen Wall
auf. Die Stadt war jetzt gegen einen asiatischen Handstreich fest,
der Khan beschwerte sich, allein man wusste ihn zu besänftigen,
indem man vorgab , nicht gegen die Tataren sondern gegen die
Venetianer solle Wall und Graben dienen."
Bei ihrer zweiten Reise , welche die Poli im Jahre 1 2 7 1 an-
t raten, fanden sie bereits genuesische Kauffahrer im kaspischen
See, welche Seidenzeuge aus Ghellie (das heutige Ghilan) holten 2).
Die Handelsverbindungen sollten sich bald weiter erstrecken.
Die Mongolenkaiser wünschten einen fortgesetzten Verkehr mit
dem Abendlande. Schon die Missionäre Ludwigs des Heiligen
hatten am Hofe im Kara-Korum einen Pariser Goldschmied, eine
Frau aus Metz, einen Engländer, der aus Ungarn geraubt worden
und etüche andere Europäer angetroffen. So darf es uns wenig
wundern, wenn wir am Beginn des 14, Jahrhunderts schon regel-
mässige Karawanen antreffen, die von der Stadt Tana an der
Mündung des Don bis nach Peking zogen.
Von Tana ging die Strasse nach Gintarchan (Astrachan), von
Gintarchan in einer Tagereise flussabwärts nach Sarai (an der
Mündung der Wolga, Hauptstadt des westHchen Mongolenreiches).
Von Sarai gab es zwei Wege nach Oltrarre (das heutige Otrar
45 ° nördl. Breite, 85 ° östl. Länge am Sir Daria). Der eine directe
im Norden des Aralsees scheint der Sommer-, der andere der
Winter weg gewesen zu sein 3). Dieser führte am östlichen Ufer
i) La Primaudaie, la mer noire p. 76 ff.
2) Marco Polo, i. Buch, 5. Capitel.
3) Balducci Trattato cap. I giebt einen andern Grund an: Chi vacon
mercanzia, gli conviene, che vada in Organci.
q6 Zur Geschichte der Geographie.
des kaspischen Sees entlang über den aralo - kaspischen Isthmus
nach Organzi (Urgendtsch) am Oxus (Dschihun) in der Nähe des
heutigen Chiva, und von dort nach dem oben genannten Otrar
am Jaxartes (Sir Daria). Von dort führte die Strasse nach Arma-
lecco, welches der armenische Prinz Haithun in seiner Geschichte
des Morgenlandes Almalig nennt und als eine Residenz der Mon-
golenfürsten bezeichnet'). Ueber die Lage dieses Ortes herrscht
noch keine Gewissheit. Nach Herrn v. Humboldt ist AlmaHg oder
Ili-Balik identisch mit dem heutigen Ili-Kuldscha am Ili, der sich
in den Balkasch-See ergiesst ^). Auffallend bleibt immer, dass sich
schon auf der catalanischen Karte, welche 1375 von Seeleuten der
Balearen verfertigt wurde, der See Issikul findet 3). Auch beschreibt
uns Rubruquis (1254) eine Mongolen-Station zwischen zwei Seen^
einem grössern und einem kleinern , vermuthlich den Ealkasch
und dem Issikul , in dessen Nähe wir Armalecco zu suchen haben.
Noch vor wenigen Jahren glaubte man, der Altai bilde eine un-
unterbrochene Kette mit dem Quellengebiete des Oxus, dem Plateau
von Pamir. Allein durch sorgfältige Untersuchungen des Herrn
von Humboldt ist es ermittelt worden, dass beide Gebirgssysteme
eine starke Bodensenkung trenne, welche das natürliche Defilee
aus der innern Hochebene Asiens nach den aralischen Steppen
bilde. Aus diesem Thore sind die verheerenden Völkerstürme
auf das mittelalterliche Europa losgebrochen , auf diesem Wege
sind die Missionäre nach China gelangt und diess war auch die
Karawanenstrasse von Azow nach Peking.
Das itahenische Itinerarium führt uns in einem Sprunge von
Armalecco nach Camexu, von der Dschungarei nach der chine-
sischen Mauer, denn Camexu ist das durch die Lingua franca
corrumpirte Kamtscheufu. Von dort erreichte man die Gränze
von China (Cassai, Cathai), wo alles edle Metall, welches die
1) Haithuni hist. Orient, cap. XXIV,
2) A. V, Humboldt; Central-Asien, i. Bd., S. 482—485.
3) Neben dem See ist ein Kloster abgebildet mit der Legende Ysicol, en
aquest lochies (Orte) monastir de frores ermians es la cors de sent
mathia. Eine Copie dieser Objecte mit dem Kloster der armenischen Brüder
findet sich auf der Karte des Museum Borgia , welche der Vicomte de San-
tarem (Essai tome III, p. 275) in das 15. Jahrhundert setzt und wo die cata-
lanische Aufschrift übersetzt lautet : Yssicol , lacus super quem corpus B(eati)
Malhei quievit.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter.
97
Kaufleute bei sich führten, in kaiserliches Papiergeld umgesetzt
werden musste ^). Von der Gränze bis zur Hauptstadt des Reiches
Gamalecco (Kambalu, Peking) werden noch 30 Tagereisen ge-
rechnet. „Die Handelsstrasse von der Tana nach Gattajo (Cathai,
China), sagt Balducci, ist ganz sicher, in der Nacht so gut wie am
Tage, weri^gstens behaupten es die Kaufleute, welche dorthin
gereist. Doch fügt man hinzu, dass von der Tana bis nach Sara
(Wolgamündung) vergleichsweise grössere Unsicherheit herrsche,
als auf der übrigen Strecke ; aber wenn sechzig Männer beisammen
sind, selbst in der verdächtigsten Zeit, so reisen sie so sicher wie
zu Hause von einem Zimmer ins andere."
Auf diese Art kam frühzeitig die Kenntniss von China nach
Europa. Der Karawanenweg wurde auf Karten abgebildet, wie
auf der catalanischen 2) (1375) und der von Fra Mauro, welche
auch den See Issikul (lag Insicol) kennt. Man glaube ja nicht,
dass diese graphischen Urkunden nach den Beschreibungen
des Marco Polo verfertigt wurden, denn erstens finden sich auf
den Karten Elemente, die dem Venetianer fremd sind, und zweitens
erlangte erst im 15. Jahrhundert Polo's Itinerarium Werth und
Glaubwürdigkeit für die mittelalterliche Geographie.
Im Beginn des 14. Jahrhunderts war daher Tana ein Welt-
stapelplatz. Zu den ursprünglichen Handelsartikeln, als Wachs
Honig, Salz, getrockneten Fischen, Pelzwerk, Hermelin, Marder,
Fuchs, Zobel, Rennthierhäuten, waren Seide, Ambra, Perlen, Pfeffer,
Safifran, Ingwer, Baumwolle gekommen. Aus dem Abendlande
brachte man Brocate und Tuche, Battiste, Eisen, Kupfer, Zinn,
Flachs, Seife, Oel und griechischen Wein. Der Stapelplatz am
Don war aber nur eine Filiale für Caffa und Sudak auf der Krim,
die mit Trapezunt und Konstantinopel in Verkehr standen. Auch
währte es nur kurze Zeit nach dem Sturz des lateinischen Kaiser-
reichs, so hatten die Venetianer schon einen neuen Handelsvertrag
i) Schon durch Rubruquis hatte man Kenntniss von dem chinesischen
Papiergeld erhalten, Pegoletti nennt es babisci. Das ist vielleicht die Emission
von Papiergeld, welche Kublai-Khan (1287) unter dem Namen Pas-Tschao
(papier-monnaie precieux) eingeführt hatte. (Vgl. Klaproth , sur l'origine
du papier-monnaie. Journ. asiat. 1822 tom. I.)
■" 2) Siehe die Karte bei Lelewel , Geogr. du moyen-äge , wo die Legende
lautet: aquesta caravana es partida de limperi (sie) de sarra (Sarai, Astrachan);
p. (ara) anar (andar) al Catajo (China).
Pesclid. Abhandlungen. II. 7
g8 Zur Geschichte der Geographie.
(1286) mit den griechischen Kaisern geschlossen, 1278 residirte
wieder ein venetianischer Consul in Sudak, und am 7. August 1333
unterzeichneten sie am Kuban mit Usbeg dem Khan von Kiptschak
einen Handelsvertrag, welcher die Zölle auf 3 Procent der Ein-
fuhren festsetzte. Dieser Vertrag wurde mehrmals bestätigt und
erneuert, und die letzte Urkunde, die wir besitzen, Stammt au5>
dem Jahre 1347 ').
Um diese Zeit geriethen die Lateiner, namentlich die Genueser
in Streit mit dem Khan von Kiptschak. Eine Zeitlang alliirt mit
den Venetianern , wurde das azowsche Meer blokirt. Als aber
die Venetianer heimlich einen Separatvertrag mit dem Khan ge-
schlossen, und die Blokade gebrochen hatten, nahmen ihnen die
Genueser fünf Schiffe weg und diess führte zu dem blutigsten
Seekrieg des Mittelalters. Die Venetianer im Bündniss mit den
Byzantinern und Catalanen Ueferten 135 1 den Genuesern unter
Pagnino Doria bei Galata eine blutige aber unentschiedene Schlacht,
vernichteten aber mit einem catalanischen Geschwader vereinigt
im nächsten Jahre bei Cagliari die genuesische Flotte. Dafür
rächten sich im folgenden Jahre die Genueser bei Sapienza durch
einen glänzenden Sieg über die Venetianer. Venedig verlor eine
Flotte, bat um Frieden und trug die Kriegskosten. Die Genueser
waren jetzt Herren des Mittelmeeres. Sie zwangen den Khan
von Kiptschak zur Nachgiebigkeit, wie sie gleich nach der Schlacht
bei Galata den Griechen Aon Konstantinopel verboten hatten, das
schwarze Meer zu befahren. Ausser Caffa besassen sie vor Aus-
bruch des Krieges bereits Kertsch und Balaklawa, und gewannen
jetzt auch Sudak hinzu. Sie gründeten Colonien in Mingrelien,
ihre Bergleute legten Silbergruben im Kaukasus an, sie schlössen
Verträge mit dem Ban der Dobrudscha, erbauten bei Isaktscha an
der Donau ein Schloss, dessen Ruinen noch heute sichtbar sind,
befestigten Varna und Hessen die Ohrfeige, welche ein genuesischer
Nobile erhalten, von dem Kaiser von Trapezunt mit einem Handels-
vertrage büssen (1382).
Am Ende des 14. Jahrhunderts berührte ein neuer aber der
etzte Völkersturm aus Inner- Asien die Gränzen Europa's, Timur-
Lenk vernichtete 1397 die Factoreien der Tana, wie er die Mon-
i) Vgl. Wappäus , geographische Entdeckungen der Portugiesen unter
Heinrich dem Seefahrer. Bd. I, S. 226 — 230.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter.
99
golenresidenz Sarai und das ältere Astrachan (Gittarchan) und
Urgendsch zerstört hatte. Tana, Astrachan und Urgendsch waren
aber die Hauptetappen der grossen Handelsstrasse vom Don nach
dem Aralsee und der Dschungarei. Allein der Städteverwüster
Timur schuf doch wieder neues Leben durch die Erhebung
Samarcands zu einem turanischen Paris. Der asiatische Luxus
entfaltete sich in der neuen Hauptstadt, wohin Timur die besten
Handwerker, deren er habhaft werden konnte, von allerwärts her
verpflanzte^). Samarcand wurde damals der Focus des Handels
der alten Welt. Das Industhal hinauf durch die Keyber- und
Kabulpässe kamen die Karawanen mit den feinsten Gewürzen,
während die Chinesen Edelsteine, Perlen, Rhabarber und andere
Droguen, vor allem aber Seide brachten '),
Je weniger wir die Gründung von Caffa, dem ,,Istambul der
Krim", wie es stolz genannt wurde, chronologisch bestimmen
konnten, um so sicherer lässt sich das Todesjahr dieser Handels-
stadt angeben. Sowie die Türken 1453 Herren von Konstan-
tinopel und des Bosporus geworden waren, erstickte der Handel
auf' dem schwarzen Meere. Zwar schlössen die Venetianer bald
Frieden mit Muhamed II, allein die Feindseligkeiten brachen ebenso
rasch wieder aus. Nun konnte man mit den reichen Ländern
am kaspischen Meere nicht mehr zur See verkehren, sondern nur
auf dem beschwerlichen Landwege durch Armenien, während man
nach Südrussland nur über Breslau und Moskau gelangte. Am
schlimmsten ergin'g es den Genuesern, denn sie konnten bei einer
Bedrohung ihrer herrlichen Colonien am Pontus keine Flotte zur
Unterstützung durch die Dardanellen schicken. Sie wandten sich
i) Unter anderm die berühmte Schwertfegerzunft von Damascus, die seitdem
ihren Ruf im Orient verlor, wesshalb alle Damascener, die nicht älter sind als
450 Jahr, durchaus nicht so beispiellos hoch bezahlt werden, wie die ächten
Waffen. Ueber die Merkmale des alten Damascenerstahls vgl. Charles White,
Skizzen aus der Türkei, übers, von A. v. Reumont in dem Artikel ,,der
Bazar."
2) In dem Bericht des spanischen Gesandten Clavijo (bei Laprimaudaie
P- 379) heisst es del Catayo panos de seda, que son los mejores,
que en aquella partida se fazen, senalademente los setunis (Atlas) .... dia-
mantes .... aljofar e ruybarbo e otras muchas especias, e las cosas que del
Catay a esta dicha ciudad vienen son las mejores e mas preciadas de quantas
alli vienen de otras partes ....
joo ^^^ Geschichte der Geographie.
desshalb an die Polen, und forderten sie zum Schutz von Caffa
auf, aber ohne sonderlichen Erfolg!
Im Jahre 1462, als Muhammed II, Amassra, Sinope und Trape-
zunt hinweggenommen, war Caffa kaum dem gleichen Schicksal
entgangen. Die Genueser hatten bereits Pera verloren, der Gross-
herr nahm ihnen noch die blühende Colonie Metelino und Fama-
gosta auf Cypern weg, während die Venetianer alle ihre Besitzungen
auf Negroponte verloren. Caffa endlich fiel 1475 nach einer Be-
lagerung von 2 Monat und 8 Tagen den Türken in die Hände,
welche sämmtliche Einwohner tödteten oder als Sklaven verkauften.
Die Zahl der Unglücklichen belief sich nach dem Zeugnisse Bene-
detto Dei's, eines florentinischen Consuls, der lange in der Levante
mit den Türken in einem nicht eben löblichen Verhältniss gelebt,
auf 70,000 Köpfe: Genueser, Griechen, Armenier, Walachen,
Tscherkessen und Mingrelier').
Mit diesem Schlage erlosch der europäisch-asiatische Continental-
handel. Es erlosch vor allem der itahenisch-russische Handel, denn
die Pelzwaaren suchten jetzt die Messen von Moskau und Breslau.
Es erlosch der Handel mit China über Samarcand ; es erlosch der
taurisch-trapezuntische Handel nach Persien. Eine einzige Verkehrs-
strasse zwischen Asien und Europa blieb noch offen, nämlich durch
das rothe Meer über Alexandrien. Aber auch dieser Handel war
bereits im Sinken wegen der hohen Zölle und der Bedrückungen
der tscherkessischen Sultane Aegyptens^'). Fiel endHch gar dieses
einst so gefürchtete Reich den Osmanen in die Hände, wie es denn
wirkUch am Anfang des 16. Jahrhunderts (15 17) geschehen musste,
so war Europa und Asien völlig geschieden, seit die Osmanen sich
der edelsten geographischen Organe für den Verkehr beider Welten
bemächtigt hatten, um Leben und jede Entwickelung zu erwürgen.
Der wunderbare Mechanismus des Weltverkehrs stand still wie
eine Uhr, sowie eine rohe Faust die Pendelschwingung zwischen
dem Mittelmeer und Indien unterbrach. Die Türkenfaust unter-
brach sie im Jahre 15 17 und seitdem verödeten Genua. Venedig,
Pisa, Florenz, Barcelona und Alexandrien.
Aber 17 Jahre nach der Zerstörung von Caffa war bereits
i) Crön. di Benedetto Dei p. 56 bei Paghnini, Decima II, p. 270.
2) Vergl. die Beschwerden der venetianischen Gesandten mit der Inter-
pretation nach arabischen Quellen von Reinaud. Journ. Asiat, tom. IV. 1829,
11. 2? ff.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter, iqi
ein Weg nach einer neuen Welt und noch vor Ablauf des Jahr-
hunderts der vielgesuchte Seeweg nach dem Lande der Sehnsucht,
nach den üppigen Städten Hindostans, nach den Gewürzinseln und
nach dem manufacturreichen , geheimnissvollen Cathai entdeckt
worden. Die neue Verbindung war eine oceanische, sie gehörte
daher auch den oceanischen Küstenländern und das Leben unseres
Festlandes wich nun von seiner inneren Küste an die nördHche
Peripherie.
Das merkwürdigste Schauspiel, welches wir seit Beginn unseres
Jahrhunderts erleben , ist die Rückkehr kräftiger Pulsschläge auf
den mediterraneischen Gewässern. Der Glanz des Mittelalters zeigt
sich wieder unter der Einwirkung neuer Instrumente von un-
geahnter Energie. Es führen Eisenbahnen, Postwagen und Omni-
busse durch die Wüste von Suez und Kairo , Dampfschiffe gehen
das rothe Meer hinauf, zeigen sich in Konstantinopel, an der
Donau, in Trapezunt.
Vom Jahre 1453 war das schwarze Meer für die Europäer
wieder ein Pontus Axenos geworden. Die Türken hielten den
Bosporus geschlossen und Gras wuchs auf den Ruinen von Cafifa.
Da wir den Russen so vieles vorzuwerfen haben, und so vieles
an ihnen rächen müssen, gestehen wir ihnen auch das Verdienst
zu, dass sie es waren, welche das schwarze Meer wieder den
Flaggen aller Nationen öffneten. Sie zwangen durch den Vertrag
von Kudschuk Kainardschi die Türken, die freie Durchfahrt durch
die Meerengen allen Nationen freizugeben, mögen sie dabei auch
nicht kosmopolitisch gefühlt, sondern nur an ihren eigenen Vortheil
gedacht haben. Allein 300 Jahre waren verflossen, seit das
schwarze Meer vom europäischen Handel belebt worden. Es
existirten keine Seekarten und die Schififscapitäne wagten sich nur
während der Sommermonate auf die verrufenen und gefürchteten
Gewässer').
l) Le traite de Koutchouk-Kainardjie ayant ete signee 1774, le gouverne-
ment russe prit immediatement toutes les mesures pour se creer des Commu-
nications avec la Mediterranee, et rapeller dans la mar Noire les navires
etrangers. Mais totalement depourvus de bonnes caites, les premiers navi-
gateurs se virent forces de recourir ä l'assistance des pilotes ignorants qu'ils
embarquaient ä Constantinople. De nombreux sinistres furent la consequence
de leur inhabilite. La mere Noire redevint un objet de terreur pour les
I02 Zur Geschichte der Geographie.
Es fragt sich nun, ob mit der Rückkehr des europäischen
Lebens nach dem schwarzen Meere die pontischen Plätze ihre
ehemalige Blüthe wieder erlangen könnten. Diese Frage muss
entschieden verneint werden, denn wir halten den Fall nicht für
glaubhaft, dass unsrer Civilisation je wieder die oceanische Ver-
bindung mit Asien verloren gehen könnte. So wenig aber als
jemand Laune und Eigensinn so weit treiben wird, in einem Post-
wagen von Berlin nach Paris in einer Woche zu reisen, wenn er
dahin mit Benutzung der Eisenbahn nur 24 Stunden braucht, be-
quemer und wohlfeiler fährt, so wenig wird der europäische
Handel chinesische Kostbarkeiten durch die gefahrvollen Pässe
der Dschungarei über die turkmanische Steppe nach einem Stapel-
platze des azowschen Meeres schleppen, welches ohnehin für grosse
Seeschiffe, wie sie der jetzige Handel verlangt, nicht zugänglich
ist. Fügen wir hinzu, dass der Werth der Aus- und Einfuhren
Russlands nach China, nach den arabischen Staaten und nach
Persien nur 23 Millionen S. R. im Zeiträume von fünf Jahren
(1842 — 46) betrug, also nur den zwanzigsten Theil von dem, was
Grossbritannien, in einem einzigen Jahre, allein ausführt. Oder
hält man es wohl gar für möglich, dass eine Eisenbahn durch
die baumlosen Steppen Centralasiens gelegt werden könne ? Solche
Phantastereien wollen wir mit der einzigen trocknen Thatsache
widerlegen , dass noch in den vierziger Jahren die turanischen
Horden die dünne Kosakenlinie zwischen dem Ural und dem
kaspischen Meere durchbrachen und Ortschaften in der Umgebung
von Astrachan ausplündern konnten.
Die russische Regierung ist nicht müssig gewesen, die Städte
der Krim zu heben, sie hat die kimrische Halbinsel mit fremden
Colonisten befruchtet, aber dennoch hat keiner jener berühmten
Hafenplätze nur einen Hauch von dem ehemaligen Glänze be-
kommen. Ruinen, troglodytische Behausungen der Tataren, Zi-
geuner und wilde Hunde geben den altberühmten Städten Caffa,
Kertsch und Sudak ihre heutige Physiognomie ! Nur in den
Gouvernements- und Marinestädten Simpheropol und Sebastopol
wohnt eine dichte russische Bevölkerung. Die Zahl der sogenannten
marins, le v^ritable Pontos-Axenos des anciens , et l'on vit des navires n'oser
y entrer qu'ä la mi-mai pour en ressortir avant la fin d'aoiit. Hommaire de
Hell, les steppes de la Russie III, p. 74.
Die italienischen Colonien in der Krim und am Don im Mittelalter. 103
„Tataren" aber, die sich in der Krim finden, beträgt noch nicht
200,000 Köpfe. Nur die „Tataren der Steppe", die Nogais, sind
mongoHscher Abkunft und Nachkommen derer, welche zur goldenen
Horde Dschingis-Khans gehörten, während die ,,Gebirgstataren"
durch ihre physische Bildung völlig verschiedene, nämlich eine
turkmanische Abkunft verrathen'). In Caffa sind nicht mehr die
mit Marmor getäfelten Bäder der Genueser zu entdecken, auf der
zerstörten Citadelle der Lateiner wächst das Gras, und man streitet
sich über die Stelle, wo einst die prächtige Kirche gestanden,
welche die Sophienkirche zu Konstantinopel nachahmte. Nur eine
einzige Strasse ist sauber gepflastert. Die Stockwerke der Häuser
tragen zierliche Marmorsäulenhallen und die Mauern sind bedeckt
mit prächtigen unerloschenen Fresken. Dort fühlte man sich,
erzählt Fürst Anatole Demidofif^), plötzlich nach Bologna versetzt.
Von jenen 60 oder 70,000 italienischen Colonisten aber sind als
Reste nur 4500 übrig geblieben.
Gleichzeitig mit den Mongolen unter Dschingis kamen die
karaitischen Juden nach der Krim, welche das alte Testament in
seinem wahren Urtext zu besitzen vorgeben, und denen das Spruch,
wort nachrühmt: das Wort eines Karaiten sei sicherer als ein
Contract. Jünger als man vermuthen möchte, sind die griechischen
Elemente der Krim. Die alten Colonisten, welche noch unter der
türkischen Herrschaft die Insel bewohnten, wurden, wie ein athe-
niensisches Journal, die „Pandora", in einer Abhandlung „über
die Griechen Südrusslands" kürzlich nachwies, im ersten Kriege
Katharina's gegen die Türken nach den azowschen Küsten über-
gesiedelt, wo sie unweit Taganrog die Stadt Mariopol gründeten.
Erst als die Russen die Krim erworben, führte Potemkin Insel-
griechen als Colonisten nach Balaklawa, Kadikoi, Kamaran und
Karanion, die, in acht Legionen oder Compagnien eingetheilt, die
Küstenwacht versahen. Paul I. bildete daraus das Bataillon von
Balaklawa, welches sich 1806 und 1813 nicht unrühmlich aus-
zeichnete. Diess ist die Bevölkerung (2600 Köpfe), welche von
den Alliirten wegen angeblicher Einverständnisse mit dem Feinde
aus der Stadt vertrieben wurde. Mit jenen Griechen kamen auch
deutsche Colonisten nach der Krim, und gaben ihren Dörfern
i) Amedee Pichot, Les tartares de la Crimee. Revue britt. gbre 1854.
2) Travels in Southern Russia, London 1853, s. v. Caffa.
104 ^^^ Geschichte der Geographie. Die italienischen Colonien etc.
die freundlichen Namen Friedenthal, Neusatz und Rosenthal.
Hr. V. Haxthausen, ein Kenner landwirthschaftlicher Zustände,
besuchte die Ortschaft Heilbronn auf der Krim , versichert aber,
dass unsere Landsleute „etwas verkümmert" aussahen. Sie be-
schwerten sich, dass ihnen das Wasser zur Berieselung für ihre
Gartenbauwirthschaft, die sie vorzüglich betrieben, von neidischen
Nachbarn widerrechtlich entzogen würde ^).
Das ist jetzt die Staffage einer Halbinsel und ihrer Hafen-
plätze, welche einst der Abglanz der abendländischen Civilisation
herriich vergoldet hatte.
t) Studien über Russland II, S. 392,
10. Reisen des Johannes Schiltberger.
(Ausland 1859. Nr. S. 19. Februar.)
Professor Neumann hat sich mit hülfreichen Zusätzen Fall-
merayers und des verstorbenen Baron Hammer - Purgstall das
Verdienst der ersten kritischen Herausgabe von Hans Schiltberger,
des bayrischen Marco Polo , erworben. Das Büchlein erscheint,
wie der Verfasser bemerkt, in ,, bürgerlichem", wir möchten fast
sagen in härenem Gewände. Doch gereicht ihm diese Tracht
zur Zierde, denn seltsam genug für unsere Zeit , wo der Wissen-
schaft aus öffentlichen Mitteln oft so verschwenderische Opfer
gebracht werden, war der Verfasser genöthigt, seine Arbeit auf
eigene Kosten drucken zu lassen. Schiltberger, einst ein gelesenes
deutsches Volksbuch, welches in der Incunabeln - Zeit bereits eine
bedeutende Verbreitung genoss, verdiente wohl eine genaue kritische
Ausgabe nach der gleichzeitigen Heidelberger Handschrift, denn
nicht nur war der deutsche Knappe ein Augenzeuge der grössten
historischen Begebenheiten, sondern seine Reiseaufzeichnungen
bieten auch eine reiche Fundgrube für die ältere Geographie der
I.evante.
Von den Türken hart bedrängt, hatte König Sigismund von
Ungarn nach christlicher Hülfe gerufen, und unter den deutschen
Rittern, die ihm zuzogen, befanden sich ausser einem Ahnherrn
des jetzigen preussischen Königshauses, damaligem Burggrafen von
Nürnberg, auch bayrische Bannerherren. Mit einem von diesen,
als Knappe des Herrn Leonhard Reichartinger, zog ein Münchner
Kind, unser Schiltberger. Am 30. September 1396 kam es zu
der unglücklichen Schlacht bei Nikopolis, aus der Sigismund wenig
mehr als das Leben rettete. Unter den Gefangenen aber, die zu
Io6 Zur Geschichte der Geographie.
drei und fünf verkoppelt dem Sieger Bajesit vorgeführt wurden,
befand sich Schiltberger. Der Sultan befahl, ihnen allen die Köpfe
abzuschlagen. ,,Da nam man , erzält unser Münchner Knappe,
min • Gesellen vnd schlug in och die köpff ab. Und do es an
mich gieng, da ersah mich den kungs sun vnd schuff, das man
mich leben liess. Da fürt man mich zu den andern knaben;
wann (weil) man nyemant töttet vnder XX. jaren. Das was ich
kom sechtzehen jar alt."
Nun darf man nicht erwarten, dass Schiltberger unter die
Janitscharen gesteckt wurde, denn dazu war er schon zu alt. Zu
Janitscharen wurden zwar nur Christensöhne genommen, allein
diese in zartem Alter, um sie zuerst in den Gärten des Sultans
aufzuziehen. Schiltberger wurde vielmehr dem Hofgesinde einver-
leibt, und diente zuerst als Vorläufer, später als Vorreiter des Sultans.
Nachdem uns Schiltberger die nachfolgenden Kriegsthaten des
Bajesit in Kleinasien beschrieben , erzählt er uns von seinem
Fluchtversuche aus Brussa mit 60 andern Christen. Die armen
Schelme erreichten nur ein benachbartes Gebirge, wo sie von einer
Schwadron Türken bei einem Engpasse eingeholt wurden. Beide
Parteien sassen ab und beschossen sich eine Zeit lang. Endlich
liess der türkische Anführer eine Verständigung anbieten. Er ver-
sprach den Flüchtlingen, wenn sie sich ergeben würden, die Gnade
des Sultans. Die Christen trauten nicht recht, als aber der tür-
kische Anführer versprach: ,,vnd ob er kung als zornig war, das
er vns töten wölt, So wölt er sich am ersten tödten lanssen,
(lassen)", gaben sich alle gefangen. Bajesit hatte den besten
Willen, die Unglücklichen zu verurtheilen, aber der türkische Ritt-
meister erklärte ihm, dass er den Gefangenen das Leben zuge-
sichert habe und so begnügte sich der Sultan die Flüchtigen eine
Zeit lang einsperren zu lassen, um sie dann völlig wieder in ihren
frühern Stand einzusetzen — „vnd nieret vns den sold" setzt Schilt-
berger hinzu. Dieser Zug Bajesits und des türkischen Schwadro-
nenchefs erinnert an die goldenen Zeiten der Osmanen, wo diesem
tapfern Stamme, roh zwar, aber noch unverdorben und hochher-
zig, die Welt zu gehören schien.
Schiltberger begleitete seinen Herrn in die Völkerschlacht bei
Angora, wo der rasch aufgewachsenen Türkenmacht ein völliges
Erlöschen drohte. Bajesit wurde bekanntlich geschlagen und von
Timurlenk, oder Temerlin, wie Schiltberger ihn .schreibt, gefangen
Reisen des Johannes Schiltberger. 107
genommen (20. Juli 1402). Die Angabe, dass Tinnir Bajesit in
einem Käfig mit sich herumgeführt habe, wurde von Hammer-
Purgstall durch ein „historisches Zeugenverhör" als eine spätere
Sage nachgewiesen, Schiltberger bemerkt nur : ,,Vnd zoch (Timur)
in des weyasits (Bajesits) Hoptstadt vnd fürt in mit im . . . Vnd
er wolt in mit im in sin Land gefürt haben. Da starb er (Baje-
sit am 8. März 1403) vff dem Weg." Schiltberger erwähnt des
Käfigs also nicht, was man wenigstens als einen negativen Beweis
ehren muss. Der Münchner Knappe wurde nun Timurs Sklave
und begleitete diesen Würgengel in den Feldzügen gegen Aegypten
nach Damascus und an den Indus. Im Februar 1405 starb auch
dieser Gebieter unsers Reitersmannes, der an den Hof von Timurs
gelehrtem Sohn Schahroch nach Herat gelangte und in das Besitz-
thum des Timuriden Miran Schah überging. Dieser aber fiel bald
darauf im, Feldzug gegen Kara Jussuf, von der turkmännischen
Dynastie des schwarzen Hammels, und der deutsche Reitersmann
vererbte auf Abu Bekr, Miranschahs Sohn. An dem Hof desselben
hielt sich ein Prinz aus der goldnen Horde auf, den Abubekr nach
seiner Heimath, der „grossen Tartarei" , das will sagen in das
Reich Kiptschak oder nach dem südlichen Russland zwischen
Wolga und Dniestr entliess. Ihn begleitete Schiltberger. Die
Reise ging durch Georgien, Schirwan, das eiserne Thor'), nach
Astrachan am Edil (Wolga). Die Mongolen fürsten des Kiptschak
unternahmen damals einen Zug nach Ibissibur, welchem Schilt-
berger beiwohnte. Dass in Ibissibur der Name Sibirien enthalten
ist, ergiebt sich beim ersten Nachdenken, aber sicherlich irrt unser
Herausgeber zu weit gegen Osten, wenn er glaubt, Schiltberger
sei bis zum Altai gekommen. Die Tataren zogen zwei Monate
bis nach Ibissibur, allein natürlich mit ihren Herden, also langsam.
Nun heisst es : ,,In dem land ist ein pirg, das ist zwo vnd drissig
tagweid lang. Es mainen och die lüt daselbs, das an dem end
des pirgs ein Wüst angee; die selbe wüst sy ein ende des ertrichs."
Dieses Gebirg bewohnen ,,wild lüt, die sind überall ruch an irem
lib, ussgenommen an den henden noch vunder dem antlüd."
Unter dem Gebirge versteht der Herausgeber den Altai, unter den
behaarten Deuten die kurilischen Ainos ! Wie die kurilischen
i) Derbend, der Pass zwischen Kaukasus und kaspischem Meere, welchen
die alten Geographen mit der Alexandersage verknüpfen.
Io8 Zur Geschichte der Geographie.
Stämme von dem Ostrande Asiens mitten nach Centralasien
kommen sollen, ist ein Räthsel , worüber wir jeden Aufschluss
vermissen. Das beste aber ist , dass die behaarte Menschenrace
selbst in das geographische Fabelbuch geschrieben ist. Die Ame-
rikaner, welche sie zuletzt besuchten'), bekennen offen, dass die
Ainos zwar reich an Haarwuchs , sonst aber am Körper selbst
nicht behaarter sind als andere Menschenracen , ja dass mancher
Matrose auf den amerikanischen Schiffen in diesem Sinne kuri-
hscher erschien als die Kurilen. Besonders stark bei den Ainos
entwickelt ist jedoch der Backenbart, der grosse Theile des Gesichts
bedeckt, während Schiltbergers Leute ,,rauh waren, ausgenommen
an den Händen und im Antlitz." Es ist daher unbegreiflich, dass
das ,, lange" Gebirge nicht als Ural erkannt worden ist, besonders
da die Einwohner vgine (Ugrier) genannt werden , und ausdrück
lieh erwähnt ist, dass der christliche Glaube unter ihnen ver-
breitet war.
Seine Rückkehr beschreibt Schiltberger in einem Capitel mit
der Ueberschrift, „durch welche land ich heruss kommen bm."
Im Gefolge eines tatarischen Häuptlings unternahm er einen Zug
nach Magrill (Mingrelien), und bei dieser Gelegenheit verabredeten
sich fünf der christlichen Sklaven ,,aus der Heidenschaft" zu ent-
fliehen. Sie ,, schieden sich" also von ihrem Herrn, und erreichten
Bothan (Poti an der tscherkessischen Küste.) Dort suchten sie
vergebens nach einer Schiffsgelegenheit , und mussten sich ent-
schliessen am (schwarzen) Meer der Küste entlang zu reiten.
Am vierten Tage sahen sie von einem Vorgebirge ein fränkisches
Schiff =2) und gaben ihm Zeichen durch Feuer. Der Capitän
schickte auf dieses Signal ein Bot oder eine Zille ab, und erkun-
digte sich nach den Leuten am Ufer. Man traute ihnen nicht
eher, dass sie Christen seien, als bis sie das Credo und das Ave
i) Heine, Japan, Ochotsk etc. Ausland 1858, Seite iioo.
2) Einen ,,kocken", schreibt Schiltberger. Der Herausgeber meint, das
Wort bedeute ein kleines Schiff, und der Name hänge mit Kufe, Chuofifa zu-
sammen, wobei er sich auf Schmeller beruft. Wir müssen bemerken , dass
Cocca, ein Ausdruck, der allen seefahrenden Nationen des Mittelmeeres bekannt
war, zu den Zeiten der Kreuzzüge die grösste Art der Kauffahrer bedeutete.
Da diese Schiffe noch keinen spitzen Schnabel hatten, so ist der Ausdruck
doch viel eher von coque. Schale abzuleiten , denn die Nussschalenform war
gerade diejenige der altan Handelsbarken.
Reisen des Johannes Schiltberger.
[09
Maria hergesagt hatten. Der Kaufifahrer nahm die Flüchtigen auf
und setzte seinen Weg nach Konstantinopel fort. Am dritten
Tage zeigten sich drei türkische Piraten, welche auf das fränkische
Segel Jagd machten. Sie vermochten es aber nicht zu ereilen,
sondern es erreichte glücklich vor ihnen den Hafen Masicia
(Amastris), wo es blieb, bis die Piraten sich entfernt hatten. Bei
Fortsetzung der Reise überfiel ein pontischer Sturm das Fahrzeug
und ,, schlug es hinder sich wohl acht hundert wälsch milen, zu
einer statt ist genant synopp (Sinope)." Nachdem es dort gerastet
ging es wieder anderthalb Monat zur See, so dass zuletzt die
Lebensmittel mangelten und die Seefahrer an einem „vels in
dem mer anlegten", wo sie Schalthiere und Meerspinnen" (Krebse)
sammelten. Endlich wurde Konstantinopel erreicht und der grie-
chische Kaiser nahm sich der fünf Geretteten an. Er Hess sie
auf einem griechischen Schiff nach Gily (Kilia an der Donaumün-
dung) bringen, von wo Schiltberger mit Kaufleuten über die Weisse
Stadt (Akjerman, Bielogrod im Slavischen, Weissenburg), Sedschoft"
(Sudschaw, ehemalige Hauptstadt der Moldau) nach Limburgh
(Lemberg) kam , und von dort über Krakau und Breslau seine
Heimath erreichte, wo ihn Herzog Albrecht III. von Bayern zu
seinem Kämmerling erhob.
Zweiunddreissig Jahr hatte sich Schiltberger in der ,, Heiden-
schaft" in Kleinasien, Aegypten, Persien, im indischen Fünfstrom-
land, in den kaspischen Gebieten und in Südrussland umherge-
trieben. Er kannte manche morgenländische Sprache und brachte
sogar zur Probe ein armenisches Vaterunser mit heim. Unter den
Armeniern selbst fühlte er sich besonders heimisch, und versichert,
dass die Deutschen damals bei diesem Volke in grosser Verehrung
gestanden seien. Nun hat Schiltberger uns eme kleine Beschrei-
bung der von ihm besuchten Länder hinterlassen. Darin finden
sich gewiss eine unzählige Menge schätzenswerther Notizen für
morgenländische Geschichtsschreiber, und auch die Kenntniss der
alten Geographie wird sich um manche Aufschlüsse bereichern
können , wir wir denn erstaunt sind , dass der Herausgeber die
alten Karten des Morgenlandes zur Entzifferung sehr vieler ver-
wischter Ortsnamen nirgends benutzt hat. Die Beschreibung der
Länder, Völker und Städte ist indessen bei Schiltberger sehr mager,
und wo er Zahlen anwendet, um ihre Grösse auszudrücken, geräth
er mit seinen Nullen ins Unerlaubte. Verglichen mit den Nach-
110 Zur Geschichte der Geographie.
richten, die uns Italiener und namentlich venetianische Botschafter
des 15. Jahrhunderts über die vorderasiatischen Gebiete hinter-
lassen, ist Schiltberger als Reisender höchst mangelhaft.
Auf Einzelnheiten können wir nicht eingehen, doch wollen
wir bemerken, was er von den wichtigsten Pflanzstädten der Ita-
liener im schwarzen Meere erwähnt. Die Hauptstadt der Tataren
des Kiptschak war das völlig verschwundene Sarai in der Nähe
der Wolgamündung. Dorthin richteten sich die Karawanen der
Lateiner von ihrem grossen Stapelplatz am Don, einer Stadt, die
Schiltberger Asach (Assak, Assow) nennt , mit dem Zusatz , bei
dem Christen heisse sie Alathena (alla Tafia am Don), gelegen an
den heerdenreichen Gestade des Tena (Don). Von dort werden
Schiffsladungen Fische ,,gen Venedig, gein genaw" (Genua) und
nach dem griechischen Archipel gebracht, also nicht mehr Ge-
würze und Chinawaaren, wie ehemals , denn bekanntlich war es
Timur, welcher mehrere grosse Städte auf dem pontisch - chinesi-
schen Karawanenpfade zertrat. Als Hauptstadt der Tataren in der
Krim nennt er Vulchat (Soldaia, Sudak) und dann Kafifa, damals
noch das ,,Istambul der Krim", Genua's mächtige Tochter. Die
Stadt besass eine doppelte, eine innere und eine äussere Mauer-
umgürtung, und zählte 6000 Häuser in der innern Stadt, bewohnt
von Italienern, Griechen und Armeniern, und 11,000 Häuser in
der äussern Stadt , wo auch Juden und Muhammedaner wohnten,
Synagogen und Moscheen besassen. Dort begegneten sich nicht
weniger als vier christliche Kirchen, die römische, die griechische,
die armenische und die syrische, von welchen die drei ersten be-
sondere Bischöfe in Caffa besassen. So war der Welthandelsplatz
beschaffen, den ein halbes Jahrhundert später Muhammed II., der
Eroberer von Konstantinopel, völlig verheerte, und der jetzt zu
einem namenlosen und erloschenen Ort von sehr niedrigem mer-
cantilen Rang herabgesunken ist.
11. Pflege der Erdkunde in Italien.
(Ausland 1869. Nr. 14. 3. April.)
In der Geschichte der Erdkunde standen die Italiener vor
Zeiten im hellsten Glanz, aber wir müssen um mehrere Jahrhun-
derte zurückgehen, wenn wir sie als Fürsten der Wissenschaft
finden wollen. Ihnen gehört nämlich das 13., 14., 15. und zum
Theil das 16. Jahrhundert an. Nicht leicht wird man am Beginn
des 14. Jahrhunderts anderwärts einen so unterrichteten Kosmo-
graphen treffen als den Sänger der göttlichen Komödie. Nicht
nur hatte er sich die besten Anschauungen der Scholastiker ange-
eignet, sondern er huldigt bereits Hypothesen, die erst nach zwei
Jahrhunderten als Wahrheit festbegründet werden sollten.
Um zwei Jahrzehnte früher als Dante's Hölle erschien, waren
die Brüder Poli aus China zurückgekehrt, um mit ihren asiatischen
Wundern ihre ungläubigen Zeitgenossen in Staunen zu setzen.
Marco Polo blieb jedoch nicht der einzige Italiener, der den Orient
besuchte, 1291 folgte ihm Montecorvin, im 14. Jahrhundert Odo-
rico von Pordenone und Marignola nach China, im 15. Jahrhun-
dert haben wir die wichtige Schilderung Nicolo Conti's über Indien
und Birma, am Anfang des 16. Jahrhunderts gelangte der Bolo-
gneser Bartema nach Südasien, und als erster Europäer nach den
molukkischen Gewürzinseln. Durch ihre nautischen Leistungen
hatten die Italiener alles vorbereitet für das Zeitalter der grossen
überseeischen Entdeckungen. Gewöhnlich hält man 1492 für das
Entscheidungsjahr. Viel wichtiger jedoch erscheint uns das Jahr
13 18, als zuerst fünf venetianische Galeeren Gewürze nach Ant-
werpen brachten. Die Umschiffung Europa's auf langer Fahrt,
die unmittelbare Verbindung des Mittelmeeres mit den atlantischen
112 Zur Geschichte der Geographie.
Gestaden bezeichnet einen grossen Wendepunkt der nautischen
Leistungen. Freilich waren schon früher Schiffe aus Nordeuropa
nach dem Mittelmeer und umgekehrt mittelländische nach Nord-
europa gelaufen , allein es geschah diess nur bei besonderen Ge-
legenheiten. Im Jahre 131 8 dagegen wurde ein jährlicher und
regelmässiger Verkehr zur See von Genua und Venedig nach
Flandern und England eingerichtet, die Frachten zur See,
einschliesslich der Seegefahren waren wohlfeiler geworden
als die Ueberland fr achten in Europa. Schon vorher, im
Jahre 1291 waren Tedisio Doria und die Brüder Vivaldi von
Genua ausgelaufen, um ausserhalb der Säulen des Herkules längs
der Gestade Afrika's einen Weg nach Indien zu suchen. Um das
Jahr 1341 segelten Italiener von Lissabon aus nach den Canarien
oder den wieder gefundenen Inseln, wie sie damals hiessen,
und erneuerten die Kunde von dieser der Wissenschaft verlorenen
Inselgruppe. Die catalanische Karte von 135 1 lässt keinen Zweifel
aufkommen, dass Italiener wahrscheinlich ein Jahrhundert vor den
Portugiesen die Gruppe der Azoreninseln gesehen haben, die
Azoreninseln aber liegen auf zwei Fünftel der nächsten Entfernung
zwischen Europa und Amerika. Um die P/Ortugiesen zu einem
seefahrenden Volke zu erheben , wurden von König Diniz genue-
sische Nautiker berufen.
Aber noch viel wichtiger waren ihre Leistungen als darstel-
lende Geographen. Sie brachten die ersten Compasskarten auf
die Welt, und im 14. Jahrhundert waren die Gestade des Mittel-
meeres auf den alten Karten so scharf und genau umrissen, dass
mehrere Einzelnheiten, wie Lelewel gezeigt hat, noch richtiger
angegeben waren als auf französischen Seekarten spät im 17. Jahr-
hundert. Die italienischen Kartenzeichner blieben Meister ihres
Handwerkes noch im 15. Jahrhundert. Dom Pedro brachte dem
Infanten von Portugal, Prinz Heinrich (fälschlich der Schiffer
beigenannt) als höchstes Kleinod für seine indischen Entdecker-
plane eine venetianische Karte mit heim. Welchen Verfasser dieses
merkwürdige Ländergemälde hatte, darüber giebt es nur Vermu-
thungen, jedenfalls glich es den gleichzeitigen Erzeugnissen des
15, Jahrhunderts, der Weltkarte des Fra Mauro, die den Dogen-
palast ziert, oder dem Atlas des Andrea Bianco, einem
Kleinod der Marcusbibliothek in Venedig. Diese Karten waren
ohne mathematischen Entwurf gezeichnet, für den Seemanns-
Pflege der Erdkunde in Italien. II ^
gebrauch aber hinreichend, indem die Abstände der Küstenpunkte
durch Gissung, ihre Lage aber mit Hülfe der Bussole bestimmt
wurden, so dass sie neben anderen Verzerrungen auch die Fehler
der magnetischen Declination trugen.
Die Nordweisung der Magnetnadel war allen neueren For-
schungen zufolge den Chinesen zwar schon in einem hohen Alter-
thum bekannt, aber wahrscheinlich zum zweitenmale selbstständig
in Europa gefunden worden. Schon im 12. Jahrhundert war sie
am Bord mediterraneischer Fahrzeuge im Gebrauch, längst bevor
Flavio Gioja in Amalfi als Erfinder des Schififscompasses genannt
wird. In neuester Zeit hat jedoch Herr Breusing von der Bremer
Seemannsschtile') es glaubwürdig erscheinen lassen, dass dem
Amalfitaner Gioja .das Verdienst gebühre , die bereits auf einem
Stift schwebende Magnetnadel mit einer Windrose zuerst verbun-
den, mit andern Worten den ersten brauchbaren Schiffscompass
verfertigt zu haben.
Die Italiener waren also die nautischen Lehrmeister, als das
Zeitalter der grossen Entdeckungen anbrach. Die Fahrten der
Portugiesen an der atlantischen Küste Afrika's entgingen ihrer
Wachsamkeit nicht, denn nicht nur lieferten zwei Reisende, Cada-
mosto und Usodimare, uns Beschreibungen Afrika's, die sie am
Bord portugiesischer Entdecker sammelten, sondern italienische
Seekarten beweisen, dass sie die neuen Umrisse Afrika's auf die
alten Weltkarten eintrugen. . Die beiden Genueser Cristoforo und
Bartolomeo Colombo betrieben das Kartenzeichnen als Erwerbs-
zweig. Der ältere der Brüder führte 1492 die ersten Schiffe über
den atlantischen Ocean nach dem Ostrande Asiens oder nach
Indien, wie er meinte, und wurde dadurch unbewusst der Entdecker
einer neuen Welt. Sein angeblicher Gegner Amerigo Vespucci,
ein Florentiner, war, was man auch sonst über seine Leistungen
denken oder streiten mag, jedenfalls ein ausgezeichneter Geograph
und Kartenzeichner, denn die spanische Regierung übertrug ihm
das Amt, die einzig gültigen Seekarten für Westindienfahrer zu
entwerfen und dabei neuheimgebrachte Karten der Entdecker zu
bilhgen , zu benutzen oder zu unterdrücken. Ein anderer Nach-
folger in diesem ehrenvollen Amte war Sebastian Gabotto, ein
Venetianer , anfangs in britischen , später in spanischen , zuletzt
i) Zeitschrift für Erdkunde. 1869. Bd. 4. S. 31.
Peschel, Abhandlungen. II.
114
Zur Geschichte der Geographie.
wieder in britischen Diensten. In Begleitung seines Vaters Gio-
vanni von Bristol 1497 absegelnd entdeckte er (nach den Nor-
mannen) zuerst das Festland Amerika' s und auf seinen spätem
Entdeckungsfahrten entschleierte er die Ostküste Nordamerika's,
von der Hudsonstrasse bis zur Halbinsel Florida. Auch er war
ein Kartenzeichner und zugleich Erfinder einer neuen mathema-
tischen Projectionsart. Am Abend seines Lebens noch rief er in
England eine Gesellschaft ins Leben, die zuerst einen Seeweg
nach Russland, nämlich über das Nordcap und das weisse Meer,
betrat und zur Gründung von Archangel führte. Als bei den
Franzosen 1523 der Entdeckertrieb erwachte, war es wiederum
ein Florentiner , Giovanni Verrazano , welchem sie die Führung
ihrer Geschwader anvertrauten. Die Entdeckungen im atlantischen
Westen wie die eines neuen Seeweges nach Indien berührten aber
die Handelsinteressen der itahenischen Seemächte zu tief, als dass
nicht in Italien die Fortschritte der Erdkunde aufs eifrigste hätten
überwacht werden sollen. So entstand schon 1507 in Vicenza
das erste Sammelwerk der Entdeckerberichte. Es war der Vorläufer
der spätem grossen Sammlung, die Ramusio von der Mitte bis
zum Ende des 16. Jahrhunderts in drei grossen Foliobänden in
mehreren Auflagen fortsetzte. Sie diente als Muster wiederum den
deutschen und holländischen Sammlungen der de Bry und Hulsius,
sowie dem Engländer Hakluyt, nach welchem sich eine ältere
noch jetzt blühende britische Gesellschaft für Geschichte der Erd-
kunde benannt hat.
Seit Ramusio's Zeiten verschwinden jedoch die Italiener als
Meister oder Helfer beim Aufbau der Erdkunde auf lange Zeit.
Es sind anfänglich die Deutschen, die nach ihnen, und dann die
Holländer, welche die Wissenschaft beherrschen, die letzteren ver-
drängt am Ende des 17. Jahrhunderts durch die Franzosen, denen
die ersten drei Viertel des 18. Jahrhunderts gehören. Freilich war
Italien nicht gänzlich verwaist an wissenschaftlichen Grössen.
Galilei könnte genannt werden wenigstens auf dem Felde der
astronomischen Geographie und Toricelli, insofern seine Entdeck-
ungen der Erdkunde ein wichtiges Instrument der Höhenmessung
lieferten, dagen schweigen wir lieber von Riccioli, denn obgleich
er im 17. Jahrhundert als Kosmograph einen grossen Ruf genoss,
so war dieser doch, wie sich später ergab , ein unverdienter.
Eine glänzende Leistung zur Förderung der Erdkunde verdanken
Pflege der Erdkunde in Italien. II5
wir jedoch der Academia del Cimento, die gleich nach ihrer Stif-
tung das „Florentiner Thermometer" schuf, das älteste wärme-
messende Instrument, welches Anspruch auf wissenschaftlichen
Werth erheben kann').
Seitdem begegnen wir unter den Italienern nur vereinzelten
Gelehrten wie Zurla im vorigen, den Grafen BaldeUi Boni im
ersten Viertel des jetzigen Jahrhunderts. Die topographischen
Arbeiten wurden von Oesterreichern ausgeführt, von Oesterreichern
sind auch die Tiefen des adriatischen Meeres gemessen worden.
Ein verdienstvoller Seemann wie Alessandro Malaspina, der am
Ende des vorigen Jahrhunderts auf spanischen Fahrzeugen die
Küsten Nordamerika's am stillen Meer befuhr, lieferte zwar vortreff-
liche Arbeiten, auf die sich Alexander v. Humboldt wiederholt
gestützt hat, aber sein Journal ist bis heute noch ungedruckt ge-
blieben, und es fragt sich, ob es gegenwärtig der Mühe lohnt, es zu
veröffentlichen, seitdem wir das grosse Werk von Fitz Roy besitzen.
Seit etwa 20 Jahren oder früher noch hatten sich Italiener
ein eigenes Entdeckungsfeld ausersehen, nämlich den weissen Nil
und seine linken Nebengewässer, Von Chartum aus schwärm-
ten italienische Elfenbeinjäger nach Süden und Südwesten
aus. Ihnen verdanken wir eine Anzahl unschätzbarer Auf-
schlüsse über das Wirrsal in der Stromkunde des obern Nil.
Ohne die itaUenischen Elfenbeinjäger wäre es Speke und Grant
sehr schwierig, ja vielleicht unmöglich gewesen aus Unyoro ihren
Rückweg nach Europa über Gondokoro zu vollenden. Jene ita-
lienischen Pfadfinder aber trafen daheim in ihrem Vaterlande weder
ein Publicum noch eine Presse, die sich ihre Berichte angeeignet
hätten. Der Piemontese Brun Rollet, der Malteser de Bono be-
nutzten französische Zeitschriften, der Nilentdecker Marchese An-
tinori die Petermann' sehen Mittheilungen zur Veröffentlichung ihrer
Erlebnisse und Beobachtungen. Wo Miani's Reise im Original
erschienen sei , wissen wir selbst nicht anzugeben , nur „Miani's
Palme am weissen Nil" begegnete uns auf den Nilkarten der
engUschen Reisenden und auf den Tafeln in Petermann's Mit-
theilungen.
i) Der Erfinder selbst ist unbekannt, ebenso wie das Jahr, welches zwi-
schen 1657 und 1667 gesucht werden muss.
8*
Il6 Zur Geschichte der Geographie.
Es konnte auch nicht wohl anders kommen, als dass itaUeni-
sche Geographen als Schriftsteller gleichsam im Exil lebten. Von
1848 bis 1866 hatten die Italiener viel wichtigere Sorgen als die
Beförderung der Erdkunde , sie sollten in dieser Zeit eine Nation
werden. Einem Volke, welches eine geschichtliche Aufgabe zu
lösen hat, darf man nicht zumuthen mit Eifer der Wissenschaft
zu dienen. Was von geistigen Kräften vorhanden ist, wird sich
in solchen Zeiten fest und unverrückt den patriotischen Zielen
zukehren. Wo überhaupt grosse geschichtliche Entwickelungen
vor sich gfehen, muss die Zeit arm bleiben an Leistungen auf
geistigem Gebiet. Künstler wie Gelehrte werden aus ihrer Ruhe
aufgestört, sie hängen mit einem Auge an der Tagesgeschichte,
und Grosses werden sie nie hervorbringen, wenn nicht ihr ganzes
Ich mit dem Werke unter ihren Händen beschäftigt ist.
Jetzt aber, wo Italien aufgehört hat „ein geographischer Be-
griff", ein leerer Name in der Erdkunde zu sein, wo es eine ita-
lienische Nation giebt , die das Schwerste ihres Werdeprocesses
überstanden hat, w^ären günstigere Zeiten eingetreten, dass die
Italiener auch unserer Wissenschaft, die sie einst so lange und so
glänzend beherrscht hatten, wiederum ihre Dienste widmen könnten.
Am II. April 1867 vereinigten sich denn auch etliche 70 Freunde
der Erdkunde in Florenz und beschlossen, eine geographische Ge-
sellschaft zu stiften. Am 12. Mai wurde sie mit 163 Mitgliedern
eröffnet, am i. Januar 1868 zählte sie bereits 413 und am 22. Juni
482 Theilnehmer, darunter eine Plejade der grössten italienischen
Celebritäten'). Die Mittel, über welche die Gesellschaft verfügte,
waren zwar sehr bescheiden, dennoch schickten sie sogleich davon
einen Beitrag für den deutschen Reisenden Manch. Die Zeiten
sind also längst verklungen , wo jenseits der Alpen uns nur die
drei Worte entgegenschallten : morte ai Tedeschi ! Das erste Jahr-
buch der Florentiner Gesellschaft 2) enthält ausserordentlich reiche
i) Als Präsident fungirte Cristoforo Negri, als Vicepräsidenten : Cesare
Correnti, Graf Francesco Miniscalchi Erizzo , Lodov. Pasini, Adolfo Targioni
Tozerti. Im Ausschuss finden wir noch folgende Namen, die in Deutschland
längst bekannt sind: den Historiker Amari, den Entdecker Marchese Antinori,
den Gen.-Lieut. Nino Bixio, die Professoren Gius. de Luca, de Gubernatis, Gio
Batt. Donati und Carlo Matteucci. (f).
2) Polletino della Societa geografica italiana. Anno I. Agosto 1868.
Firenze 1868.
Pflege der Erdkunde in Italien. ny
Beiträge, besonders einen Bericht des Marchese Antinori über
seine und Carlo Piaggia's Entdeckungen im Niamniamlande mit
Karten, sowie die wichtige Mittheilung des Nilreisenden Dr. Ori-
über die Wanderungen der Gebrüder Poncet und ihrer Wekile,
westwärts vom weissen Nil^), eine längere Arbeit über Reisen in
Borneo von Odoardo Beccari, sowie über die Karten des tunesi-
schen Sahel von de Gubernatis, sammt einer Reihe werthvoller
Correspondenzen. Es ist auch zu erwarten, dass es an Stoff nicht
so leicht mangeln werde. Italiener sind viel wanderlustiger als die
Franzosen, die La Plata-Gebiete, Peru und zum Theil Califomien
gehören zu ihren LiebHngszielen, und italienische Auswanderer
bilden an manchen Orten in Südamerika namhafte Bruchtheile
der Bevölkerung.
Die Florentiner Gesellschaft sollte aber nicht lange vereinzelt
stehen. In Turin hatte sich fast gleichzeitig ein Alpenclub gebil-
det, der ähnliches zu leisten verspricht wie der Wiener Alpen-
verein. Neben ihm ist in Turin eine geographische Gesellschaft
unter dem Namen Circolo geografico italiano gebildet worden, die
so eben in einem Hefte ihre ersten Arbeiten veröffentlicht hat^).
Wir finden darin nicht bloss eine Stiftungsgeschichte, sondern auch
einen Bericht über eine kleine Uebungsreise nach den cottischen
Alpen. In Turin ist nämlich die Erdkunde Unterrichtsgegenstand
an der Hochschule, und jene Reise sollte dazu dienen, den Schü-
lern Gelegenheit zum Gebrauch der wissenschaftlichen Instrumente
zu geben. Es wurden also die Höhen gemessen theils mit dem
Quecksilberbarometer, theils mit dem Aneroiden, theils mit dem
Kochthermometer. Leider wurde die Berechnung nach den For-
meln im Annuaire du bureau des longitudes ausgeführt, die den
Feuchtigkeitszustand der Luft noch vernachlässigen. Es wurden
auch kleine Triangulationen vorgenommen, die Karten verglichen,
und jede Gelegenheit ergriffen, um die Schüler wissenschaftlich
auszubilden. Solche Versuche verdienen die wärmste Aufmunte-
rung, denn es ist ein Irrthum zu glauben, dass nur derjenige mit
solchen Beobachtungen sich zu beschäftigen habe, der für wissen-
schaftliche Reisen sich vorbereiten wolle. Ein jeder, der sich
kritisch über die Vorarbeiten zur Begründung der Länderkunde
i) S. Ausland l868, S. 1057.
2) Publicazioni del circolo geografico italiano. Dicembre 1868. Torino.
jig Zur Geschichte der Geographie,
erheben will, muss ein genügendes Sachverständniss durch Selbst-
übung sich erwerben.
So begrüssen wir denn ein altberühmtes Volk der Erdkunde
nach einem dreihundertjährigen Erstarrungsschlaf von neuem wie-
der auf wissenschaftlichem Gebiete, und wir können uns nur Glück
wünschen , wenn es uns mit ähnlichen Leistungen überraschen
sollte, wie zu den Zeiten des Messer Milione oder der grossen
atlantischen Seefahrer.
12. Lebensbeschreibung und Würdigung
Gerhard MercatorsO.
(Ausland 1869. Nr. 35. 28. August.)
Dass der Name des grossen, spät von den Seinigen gefeierten
Mannes nur die Latinisirung eines deutschen Namens sei, wie es
die Sitte oder Unsitte seines Zeitalters wollte , wusste man schon
längst. Vielfach aber wurde angenommen, der Name müsse
Kaufmann gelautet haben. Die Eltern des grossen Geographen
hiessen jedoch Hubert und Emerentia Kremer. Wo sie ansässig
waren, ist bis jetzt nicht ermittelt worden. Ein Winand Mercator,
Licentiat der Rechte, tritt 1587' als Rechtsvertreter der Stadt
Jülich auf. In welchen Beziehungen er zu Gerhard stand, ist noch
nicht aufgeklärt. Dagegen wissen wir aus dem Lebensbilde von
Walter Ghymm , dem Freunde unseres Geographen , dass der
Bruder Huberts, Gisbert Kremer, als Pastor in Rupelmonde lebte,
welches letztere in dem beim deutschen Reich zu Lehn gehenden
Theile Flanderns lag. In seinem Hause, während eines Besuches
der Eltern, wurde am 5. März 15 12 unser Gerhard geboren.
Mercator selbst sagt in seiner Widmung der Tabulae Galliae et
Germaniae, die 1585 zu Duisburg erschien: „Obwohl in Flandern
geboren, sind doch die Herzoge von Jülich meine angestammten
Herren, denn unter ihrem Schutze bin ich im Jülicher Lande und
von Jülichschen Eltern erzeugt und erzogen worden". Diess heisst
klar und deutlich, dass Mercator sich für einen Deutschen hielt
und für deutsch gehalten werden wollte.
l) Gerhard Kremer, genannt Mercator, der deutsche Geograph, von Dr.
Breusing. Duisburg 1869.
I20 Zur Geschichte der Geographie.
Der Oheim Gisbert Hess später den jungen Mercator in
Herzogenbusch auf seine Kosten in das Haus der „Brüder vom
gemeinsamen Leben" aufnehmen. Im Herbste 1536 bezog er die
Universität Löwen zu humanistischen Studien und erwarb sich
dort das philosophische Baccalaureat. Eine frühe Heirath mit
Barbara Schelleken aus Löwen nöthigte ihn zum Broderwerb durch
Verfertigung mathematischer Instrumente, wie Astrolabien,. Armillar-
sphären, astronomischer Ringe u. s. w. Doch entwarf und stach
er schon im 25. Lebensjahre eine Karte vom heiligen Lande
(1537), die so viel Beifall fand, dass ihn flandrische Kaufleute zur
Ausarbeitung einer Karte ihrer Heimath veranlassten. Beide sind
bisher nicht aufgetrieben worden, vielleicht geschieht diess jetzt
wenn die Raritätenjäger auf den Werth solcher Urkunden auf-
merksam werden. Mercator stach seine Zeichnungen selbst in
Kupfer (wie später unser berühmter Tobias Mayer), und in einer
kleinen Flugschrift vom Jahr 1541 erklärte er sich für den Ge-
brauch der Antiquaschrift bei Landkarten, die auch in Deutschland
seitdem die herrschende geworden ist. Für den Reichssiegel-
bewahrer Granvella vollendete Mercator 1541 eine Erdkugel, und
durch Granvella wiederum, der in jenem Jahre nach dem Regens-
burger Reichstag ging, wurde er dem Kaiser Karl V. empfohlen,
der ihm einige Aufträge ertheilte.
Im Jahre 1544 hatte sich Mercator von Löwen nach Rupelmonde
entfernt, um den Nachlass seines verstorbenen Oheims zu ordnen.
Seine Abwesenheit wurde von Verleumdern gedeutet, als habe
ketzerisches Schuldbewusstsein ihn ins weite getrieben. Er wurde
auf Befehl verhaftet und in dem Rupelmonder Schlosse festgesetzt.
Zunächst verbürgte sich der Beichtvater der Frau Mercators für
die Rechtgläubigkeit, dann begehrte der Abt von St. Gertrud, dem
es oblag , die Privilegien der Universität Löwen zu schützen, dass
man Mercator, als einen Angehörigen dieser Hochschule, frei lassen
sollte, zuletzt protestirten Rector und Professoren unmittelbar bei
der Statthalterin. Schliesslich wurde er wieder freigelassen, wahr-
scheinlich weil nichts gegen ihn vorlag. Wie lange er schmachten
musste , liess sich bisher genauer noch nicht ermitteln , jedenfalls
dauerte die Haft von Mitte Februar bis über den 20. Mai. Dass
von diesem Zwischenfall sein Freund Walter Ghymm, Schultheiss
zu Duisburg, in der Lebensbeschreibung nichts erwähnt, geschah
wohl aus Vorsicht, denn es war damals besser, über solche
Lebensbeschreibung und Würdigung Gerhard Mercators. 121
Verdächtigungen zu schweigen als eine schwierige Rechtfertigung
zu versuchen.
Haben die Brüsseler Archive über diesen Umstand dem Bio-
graphen den ersten Aufschluss ertheilt, so hat er auch einen völlig
neuen Schatz in einem Brief gehoben, den Mercator 1546 an
Anton. Perrenot, Bischof von Arras, richtete. Darin erläutert
Mercator ganz deutlich die Erscheinung der Missweisung der
ISIagnetnadel : ,,Sie ändere ihre Richtung, heisst es, mit der Ver-
änderung der geographischen Breite und Länge, woher es komme,
dass jeder Curs (nach dem Compass), beispielsweise der nach
Ost und West, von dem wahren (mathematischen) Curse bald all-
mählich mehr und mehr nach Süden abweiche und so den Verlauf
der Küsten nördlicher erscheinen lasse als er sein solle, wie man
diess an der afrikanischen Küste von der Strasse von Gibraltar
bis nach Carthago sehen könne, bald wiederum nach Norden ab-
weiche und so die Küsten nach Süden verschiebe, wie diess den
im entgegengesetzten Sinne von Carthago nach Cadiz fahrenden
Schiffen begegne". Daraus erhellt nun deutlich, dass Mercator
die Mängel der alten Compasskarten, welche die Missweisung ganz
unberücksichtigt Hessen, vollständig durchschaute. Aus Abstands-
berechnungen ermittelte Mercator, dass Danzig dadurch ,,um
5 Grad zu nördlich liege" im Vergleiche zu Walcheren, dass am
letzteren Orte eine östliche Missweisung um neun , in Danzig um
vierzehn Grad herrsche. Diese Urkunde ist unschätzbar. Sie
beweist uns, dass Mercator die noch immer bezweifelte Missweisung
streng anerkannte, und dass er die ersten Schritte that, die aus
ihr entspringenden Irrthümer zu verbessern. Er suchte auch aus
der ermittelten Missweisung in Walcheren und Danzig die Lage
des nördlichen Magnetpoles zu bestimmen, und zwar nach Längen
und Breiten, er suchte ihn also auf der Erde, und bezeugte damit,
dass jene Zugkräfte Erdkräfte sind. Aus dem Jahre 15 51
ist jetzt in der ambrosianischen Bibliothek (Mailand) ferner eine
kleine Anweisung Mercators über den Gebrauch der Globen auf-
gefunden worden, welche besonders dadurch wichtig ist, dass sich
der grosse Geograph , ungeblendet vom Autoritätenglanz, der Irr-
thümer des Ptolemäus bewusst war.
Im nächsten Jahr kehrte er mit seiner Familie , drei Söhnen
und drei Töchtern , nach Duisburg zurück. Dort arbeitete er an
seiner Karte von Europa aus dem Jahre 1554, die bis jetzt in
122 Zur Geschichte der Geographie.
einem einzigen Exemplar sich hat auffinden lassen. Er betheiligte
sich 1557 sehr lebhaft an der Stiftung des dortigen Gymnasiums,
an welchem später sein Schwiegersohn das Rectorat verwaltete,
jedoch nicht mit dem erhofften Erfolge, 1564 stach er eine
Karte von England in Kupfer, die bis jetzt nicht hat aufgefunden
werden können, und unmittelbar nachher vermass er Lothringen
auf Wunsch des Herzogs trigonometrisch, um seine spätere Karten-
zeichnung auf diese Vorarbeit zu stützen. Im Jahr 1569 erschien
die erste Erdkarte in ,,Mercatorsprojection", und 1578 gab er
den Ptolemäus frisch heraus. Als edles Muster steht Mercator
vor uns durch seine Verhältnisse zu Abraham Oertel (Ortelius).
Ortelius war ein Kartenfabrikant, der die vorhandenen besten
geographischen Gemälde sammelte und sie nicht ohne Geschick
zusammenschmolz, allein wie er selbst bekannt hat, war ihm dabei
vom höchsten Belang die kritische Hülfe Mercators, der ohne einen
Schatten von Egoismus den geographischen Gewerbsmann förderte.
Mercator fertigte inzwischen mehr und mehr Originalkarten von
Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Italien, weit bessere
als alle andern damaligen, und die besten auch noch für die
nächsten Zeiten. Am 2. December 1594 starb er als ein frommer
Mann, denn seine letzten vernehmhchen Worte waren eine Bitte
an den Prediger, seiner im Gebete nach dem Gottesdienste zu
gedenken. Die Sammlung der vorhandenen Karten gab sein
jüngster Sohn Rumold 1595 zu Duisburg unter dem Titel Atlas
heraus, der seitdem in allen Sprachen sich das Bürgerrecht
erworben hat. Warum Mercator diese Bezeichnung wählte, ist
noch etwas dunkel, er dachte dabei an Atlas, den König von
Mauritanien, der die Tiefen des Meeres und die Höhen des
Himmels kannte.
Mercators hohe wissenschaftliche Leistungen bestehen zunächst
in der Erfindung und Einführung neuer Netzentwürfe zur Ueber-
tragung von Kugelflächen in die Ebene, also von neuen Projections-
arten. Bis zu den grossen nautischen Entdeckungen seit dem
Schlüsse des 15. Jahrhunderts hatten die ersten rohen Netzentwürfe,
da sie nur localen Bildern zu dienen brauchten, genügt, jetzt auf
einmal meldete sich das Bedürfniss nach Erdkarten. Auch müssen
wir noch hinzusetzen, dass bis zur vollendeten ersten Erdum-
segelung immer noch die Kugelgestalt der Erde nur eine theore-
tische Forderung geblieben, und erst durch jene That vor weiteren
Lebensbeschreibung und Würdigung Gerhard Mercators, 123
Zweifeln gesichert worden war. Es ist Breusings Verdienst, den
Werth eines damals neuen Netzentwurfes der ,, herzförmigen" Pro-
jection Johann Stabens, Prof an der Wiener Hochschule, am
Beginn des 16. Jahrhunderts in helles Licht gesetzt zu haben.
Er zog nämlich aus dem Pole als Mittelpunkt concentrische gleich-
abständige Kreise, theilte jeden nach den Verhältnissen, wie sie
ihm auf der 'Kugel zukamen, und verband die Theilungsstriche
sodann durch Linien, welche die Meridiane vertraten: der erste
Versuch, einem Entwürfe die Vorzüge der äquiva-
lenten Räume zu geben. Diese Projection verfeinerte nun
Mercator, indem er die Breitenparallelen nicht aus dem Pole als
Mittelpunkt zog, sondern dazu die Fläche desjenigen Kegels
wählte, der die Kugel im mittleren Parallel des darzustellenden
Landes berührt. Danach wurde die Weltkarte in seiner Ausgabe
des Ptolemäus entworfen. Diese nämliche Projection wurde am
Anfang dieses Jahrhunderts für die Ausführung der grossen Karte
von Frankreich erwählt unter dem Titel Projection du depot de
la guerre, gewöhnUch aber schreibt man sie dem Kartenzeichner
Bonne zu. Mercator ist also , um anachronistisch zu reden , der
Erfinder der Bonne'schen Projection. Sehr scharfsinnig zeigt nun
Breusing ferner, dass, wenn man den Aequator zu demjenigen
Parallel wählt, welcher von dem idealen Kegel berührt werden
soll, der Halbmesser dann unendlich gross, und folglich die Par-
allelen zu geraden Linien werden. Bisher wurde Sanson (1695)
als Erfinder angesehen, oder auch der Astronom Flamsteed, weil
er sie für die Darstellung himmlischer Räume anwendete, als
solcher genannt, allein dieser Entwurf kommt bereits in der ersten
holländischen Ausgabe des Mercator - Atlas auf dem Blatte von
Südamerika vor, welches den Namen Honds trägt.
Eine höchst verfeinerte conische Projection erhält man, wenn
die Kegelfläche nicht den mittleren Parallel der darzustellenden
Kugelfläche berührt, sondern wenn sie die Kugel an zwei Zonen
durchstösst. Donis hatte zuerst diese Durchstossung durchgeführt,
die durchstossenen Parallelen aber an dem oberen und unteren
Rand der Karte sich gedacht. Mercator verlegte sie in gleiche
Abstände vom mittleren Parallel und dem Rande der Karte.
Diesen Gedanken, bei der Ausgabe des Ptolemäus noch roh, in
den Karten von Deutschland und Frankreich 1585 aber scharf
durchgeführt zu haben , ist ein Verdienst unseres Geographen,
124 ^""^ Geschichte der Geographie.
welches bereits von d'Avezac anerkannt worden ist, während man
früher Deh'sle als den Urheber verehrte. Auch hier können wir
wieder sagen : Mercator ist der Erfinder der Delisle'schen Projection.
Auf seinem Weltgemälde vom Jahre 1569 wurde zur Dar-
stellung der Polarräume von Mercator eine Nebenkarte beigefügt.
Sie ist in derselben Projection gezeichnet wie die Circumpolar-
Karte in Stielers Atlas (Bl. 43 b). Der Pol ist der Mittelpunkt
für alle als concentrische gleichabstehende Kreise aufgetragenen
Breitegrade. Die Mittagskreise dagegen laufen gleichabständig
als Radien im Pol zusammen. Bisher galt der Geograph Postel
wegen seiner Karte vom Jahr 158 1 als Erfinder dieser Projection.
Breusings Verdienst ist es , Mercator als den Erfinder auch der
Postel'schen Projection erkannt zu haben.
Von Herzen schliessen wir uns bei dieser Gelegenheit einer
Mahnung Breusings an die darstellenden Geographen an, dass sie
nämlich auf den Landkartentiteln in Zukunft jedesmal den Namen
der Projectionsart beisetzen sollten. Wollen sie obendrein den
deutschen Namen zu Ehren bringen , so sollten sie bei allen auf-
gezählten Beispielen die Worte hinzufügen : „erfunden von Gerhard
Mercator." Wie unendlich viele Karten in Stielers Handatlas in
Mercators Netzentwürfen gezeichnet sind, das hat Breusing allent-
halben fleissig aufgezählt.
Bisher haben wir immer nur von mercatorischen, noch nicht
aber von der Mercatorsprojection gesprochen. Sie allein erhebt
den Erfinder unter die genialsten Männer seiner Zeit, und vielleicht,
wie wir beifügen möchten, zeigt nichts besser die Grösse dieser
Erfindung als dass sie zuerst platt zu Boden fiel, weil das Ver-
ständniss der Zeit noch nicht hinlänglich reif dafür war. Man
wusste mit ihr nichts anzufangen , und doch war sie so wichtig,
dass Breusing die Geschichte der Nautik in drei Zeiträume theilt,
bezeichnet durch die Erfindung des Schiffscompasses, der See-
kar tenprojection und der Spiegelsextanten.
Die Mercatorprojection ist ein walzenförmiger Entwurf. Die
Erde wird nicht mehr als Kugel, sondern als Cylinder gedacht.
Denkt man sich die Achse der Walze so lang wie den Drehungs-
pol, und ihren Durchmesser wie den Durchmesser der Erde, so
erhalten wir durch Abrollen ein zu verjüngendes Rechteck, noch
einmal so breit als hoch , auf dem die Mittagskreise gleichabstän-
dige senkrechte, die Breitengrade gleichabständige wagrechte Linien
Lebensbeschreibung und Würdigung Gerhard ^lercators. 12;
bilden, durch deren Kreuzungen lauter Quadrate abgeschnitten
werden. Auf der Kugel sehen wir dagegen, dass die Abstände
der Mittagskreise, die in der Nähe des Aequators fast genau den
gleichwerthigen Abständen der Breitenkreise entsprechen, je mehr
wir uns den Polen nähern, immer schmäler , und am Pole selbst
Null werden. Um nun beim Entwürfe in der Ebene den Gang
dieses Gesetzes auszudrücken , behielt Mercator die gleichen Ab-
stände für die Mittagskreise bei , verlängerte aber dafür die Ab-
stände der Breitenkreise in entsprechender Weise, und gab dadurch
dem Bilde eine streng symmetrische Auflockerung von dem
Aequator nach den Polen. Der einzige unvermeidliche Uebelstand
dieses Entwurfes ist nur, dass er nicht gut über den 80. Breite-
grad ausgedehnt werden kann , weil in grösseren Polhöhen die
Breitenabstände zu rasch, jenseits von lat. 89° aber ins un-
endliche wachsen müssen. Die Vortheile dieses Entwurfes sind
sonst gar nicht zu überschätzen, denn in allen zwischen zwei
Breitenkreisen eingeschlossenen Vierecken bleiben die Verhältnisse
richtig, nur dass der Massstab sich mit jedem Breitenkreise ändert.
Einzig auf einer Karte nach Mercatorprojection lassen sich die
Himmelsrichtungen, in welcher irgend ein irdischer Punkt zu allen
andern irdischen Punkten hegt, streng einsehen, weil alle Himmels-
richtungen als gerade Linien durch das Bild laufen. Ohne Mer-
catorprojection war den Seeleuten eine strenge Ermittelung ihres
Curses ebensowenig wie eine schärfere Berechnung des zurück-
gelegten Weges, ausser durch astronomische Ortsbestimmung,
möglich. Für alle thermischen, für erdmagnetische, für pflanzen-
oder thiergeographische , für Fluthbewegungs-, überhaupt für alle
physilcalischen Karten ist die Mercatorprojection unerlässlich,
sie ist mit einem Worte der Stein der geographischen Weisheit
geworden.
Mercator war aber nicht bloss mathematischer Geograph,
sondern ein vortrefflicher kritischer Darsteller. Namentlich sehr
hoch müssen wir die Verbesserung der Längenbestimmungen in
Europa stellen. Das Mittelmeer, welches sich von Gibraltar bis
Iskenderun über 42 Grade verbreitet, war von Ptolemäus bis zu
62 Graden ausgedehnt worden, und Europa hatte dadurch eine
krankhafte Verzerrung erlitten. Mit einem Zuge heilte Mercator
diesen Fehler bis auf 52 Grad, also um die Hälfte. Mehr als
hundert Jahre aber mussten vei streichen , ehe die Kartenzeichner
120 Zur Geschichte der Geographie. Lebensbeschreibung etc.
sich dem genauen Werth annäherten. Die spätem Geographen
hatten aber leichte Arbeit, denn die Ermittelung astronomischer
Ortsbestimmungen war ihnen vorausgegangen , während Mercator,
wie Breusing richtig sagt, sein eigener Geodät sein musste.
Wie unsere Leser aus den Zeitungen erfahren haben werden,
soll in Duisburg dem grossen Manne ein Denkmal errichtet werden
vom deutschen Volke zur eigenen Erbauung an der Grösse seiner
geistigen Zierden. Möge dieser kurze Abriss dazu dienen , dem
nationalen Unternehmen manchen Beistand zu gewinnen.
13. Zur Geschichte der holländischen Co-
lonien und überseeischen Entdeckungen.
(Ausland 1869. Nr. 6. 6. Febr.)
Zwei neue bibliographische Arbeiten '), die eine in französi-
scher, die andere in englischer Sprache verfasst, enthalten wichtige
Beiträge für die Geschichte der Erdkunde und ganz besonders die
zweite, die sich auf die „Neuen Niederlande" bezieht, hat nicht
bloss als ein unentbehrlicher Leitfaden für den Raritätenjäger auf
dem Büchermarkte, oder für den Historiker von Fach als ein
höchst erwünschter Rathgeber zu gelten, sondern enthält auch in
ihrer Einleitung sowie in einzelnen Abhandlungen des Textes
wichtige und neue Aufschlüsse zur Geschichte der holländischen
Niederlassungen in Nordamerika. Der Name des Verfassers, G.
M. Asher, von dem die Hakluyt-Gesellschaft in London bereits
eine Monographie über Henry Hudson gedruckt hat, war an sich
schon Bürgschaft für eine vollendete Leistung.
Wenn am Ende des 16. oder am Beginn des 17. Jahrhun-
derts Holland aus geschichtlicher Dunkelheit plötzlich als Macht,
ja als Grossmacht zur See aufleuchtet, so bedarf dieses Wunder
einer nähern Ergründung, denn Staatengrösse pflegt sonst nicht
über Nacht zu entstehen. Das Wunder erklärt sich aber sehr
einfach dadurch, dass die Spanier aus Belgien nicht weniger als
100,000 protestantische Familien nach den freien Generalstaaten
vertrieben hatten. Mit einem Schlage wurde auf diese Art der
i) P. A. Tiele, Memoire bibliographique sur les journaux des navigateurs
neerlaiidais. G. M. Asher, Dutch Books and Pamphlets relating to New-
Netherland. Amsterdam, 1567. 1868. Frederik Muller.
128 Zur Geschichte der Geographie.
Reichthum, die Kenntniss, der Gewerbfleiss, der Unternehmungs-
geist und die Handelsverbindungen Flanderns, Gelderns und Bra-
bants den häringsfischenden Holländern in die Arme geworfen.
Belgische Auswanderer haben die Holländer nach Indien und
Amerika geführt. Denn die ehemahgen Kaufherren von Ant-
werpen kannten genau die schwachen Stellen des spanisch - portu-
giesischen Reichs, in welchem die Sonne nicht unterging, und
Wilhelm Usselincx, einer der Vertriebenen war es, der 1592 den
Plan zu überseeischen Eroberungen entwarf, obgleich, so weit die
gedruckten Urkunden reichen, Usselincx erst 1606 ans Licht tritt.
Die belgischen Emigranten hatten indessen als einziges und letztes
Ziel vor Augen, als Sieger zurückzukehren nach ihrer Heimath.
Sie wollten der spanischen Macht ihre Sehnen abschneiden, um
der geschwächten das geliebte Vaterland zu entreissen. Natürlich
war den Holländern an einem solchen Ausgang wenig gelegen,
denn war Belgien einmal frei, so hätten sie die reichen Prote-
stanten wieder verloren. So kam es, dass Oldenbarnevelt und
seine Partei die Anschläge der Belgier für Schwärmereien der
Emigrantenphantasie ausgaben und jener Staatsmann musste zuvor
das Blutgerüst besteigen, sein grosser Anhänger Hugo Grotius erst
eingekerkert werden, bevor alle Pläne eines Usselincx zur Aus-
führung gelangten. Oldenbarnevelts Partei waren die Patricier der
Städte, Arminianer ^) ihrem religiösen Bekenntnisse nach, dann
aber auch Föderalisten oder Particularisten, welche gegen jede
strengere Emheit sich wehrten. Die Belgier dagegen bekannten
sich zu einem strengen Calvinismus und begeisterten sich für eine
demokratische Monarchie , sie stützten sich selbst auf die Volks-
massen in den Städten und unterstützten wiederum das Haus
Oranien, begünstigten überhaupt alles, was die Kräfte des Volkes
centralisiren konnte. Mit Oldenbarnevelts Hinrichtung 16 19 siegte
die demokratische Partei, aber noch war für Usselincx Pläne nicht
die rechte Zeit gekommen, denn im Jahr 1609 hatte Oldenbarne-
velt eine zwölfjährige Waffenruhe mit Spanien geschlossen , das
Meisterstück staatsmännischer Weisheit eines Parteimannes , denn
i) Es war weniger die Lehre von der Prädestination, die Arminias ver-
trat, die ihn bei der Patricierpartei in Gunst setzte, als seine Behauptung,
dass die Geistlichen der weltlichen Obrigkeit, also der herrschenden Partei Ge-
horsam zu leisten hätten.
Zur Geschichte der holländischen Colonien und überseeischen Entdeckungen. 129
an eine Rückeroberung Belgiens oder an eine neue Plünderung
überseeischer Colonien war in der Zwischenzeit nicht zu denken,
zugleich wurde das Haus Oranien verhindert durch neue Waffen-
erfolge sich im Herzen des holländischen Volkes zu befestigen.
Erst mit dem Ablauf des Waffenstillstandes im Jahr 162 1 durfte
daher die „Westindische Handelsgesellschaft" begründet werden.
Wie der bereits bestehenden Ostindischen Conipagnie das
ausschliesshche Recht gewährt worden war, Handelsfahrten nach
Asien zu unternehmen und dort Niederlassungen zu erobern oder
zu stiften, so fiel jetzt Amerika und Afrika (Guinea) der westin-
dischen Compagnie zu. Das ursprüngliche Gesellschaftscapital be-
stand aus 6 Mill. Gulden, wovon ^/g allein auf Amsterdam fielen.
Während die ostindische Compagnie von Patriciern gegründet, der
Oldenbamevelt'schen Partei zugethan war und von Directoren
heimlich und fast unbeschränkt verwaltet wurde ohne genügende
Aufsicht der Actionäre, vertrat die westindische Compagnie die
Interessen der Belgier und verstattete ihren Actionären grosse
Theilnahme an der Einsicht in die Verwaltung. Die ostindi-
sche Compagnie bereicherte sich fast nur durch Handel, die west-
indische betrieb einen geringfügigen Waarenumsatz, denn ihr erster
und letzter Gedanke war eine Beschädigung und Schwächung der
spanischen Macht. Anfangs gingen ihre „Geschäfte" glänzend,
denn sie zahlte zwischen 25 und 75 Procent Dividende, und wenn
sie Mühe gehabt hatte ihr Stammkapital von 6 Z^Iill. Gulden auf-
zubringen, so gelang es ihr später leicht, es um 12 Millionen zu
vermehren.
Wenn sie aber keinen Handel trieb, fragt wohl mancher Un-
geduldige, wovon zahlte sie dann ihre Gewinne? Die richtige Ant-
wort erräth jeder rasch, der die damaligen Zeiten kennt, denn das
Handwerk, welches sie betrieb , würde man heutigen Tages See-
raub nennen, nur passen Begriffe des 19. nicht auf die des 17.
Jahrhunderts. Die glänzenden Geschäfte der westindischen Com-
pagnie bestanden beispielsweise 1624 in der Eroberung und Plün-
derung von Bahia, im Abfangen der spanischen Silberflotte 1628,
vor allem aber 1630 in der Eroberung von Pernambuco. Die
Silberflotte, die 1628 vom Admiral Pieter Heyn theils in den
Grund gebohrt, theils weggenommen wurde, gewährte eine Beute
von 14 Mill. Gulden oder von 75 Procent des damaligen Actien-
capitals.
Peschel, Abhandlungen. 11. 9
l'tQ Zur Geschichte der Geographie.
Zu allen Zeiten haben auf der See \iel rohere Zustände ge-
herrscht als zu Lande, denn aller Seehandel beginnt mit Seeraub
und behält auch längere Zeit einen Piratengeschmack bei. Wie
lange ist es überhaupt her, dass die Rechte der sogenannten Neu-
tralen während eines Seekrieges anerkannt werden? Der Papst
vertheilte 1494 allen aussereuropäischen Handel zwischen Spanien
und Portugal ; Spanien erhielt die westliche, Portugal die östliche
Erdhälfte und die Theilung wäre streng vollzogen worden, wenn
man nur mathematische Hülfsmittel besessen hätte , die Grenzen
wirklich festzustellen. Wagte sich unter einer andern Flagge irgend
ein Kauffahrer auf spanische oder portugiesische Gewässer, so
wurde er wie ein Pirat behandelt. In Kriegszeiten war ohnehin
jedes feindliche Handelsschiff gute Beute, wie sich diess noch jetzt
wiederholen kann bei einem Seekriege mit den Vereinigten Staaten.
Von 1636 bis 1642 fällt der höchste militärische Glanz auf die
Compagnie, doch hatte sich bereits etwas früher schon eine Ver-
mögenszerrüttung kund gegeben. Ihren Untergang beschleunigte
es, dass 1641 Portugal das spanische Joch, unterstützt von den
Holländern, wieder abwarf, denn einen Bundesgenossen durfte man
nicht länger plündern. Die Portugiesen hatten obendrein im Haag
einen sehr befähigten Botschafter, der tief eingeweiht in die Par-
teibewegungen, der westindischen Compagnie daheim die schlimm-
sten Feinde auf den Hals hetzte. Rasch ging es nun abwärts mit
ihr, zumal seit der Prinz oder Graf Moritz von Nassau, der von
1636 — 1644 in der neuen Welt der Compagnie glänzend gedient
hatte, voll Ueberdruss und Kummer Brasilien verliess, welches
Land die Compagnietruppen zehn Jahre später räumen mussten.
Wiederum zehn Jahre später, 1664, wurde der Gesellschaft das.
,,Neue Niederland" von den Briten entrissen. Viel früher schon
hatte Usselincx der Compagnie den Rücken gekehrt. Er ging
nach Schweden zu Gustav Adolph und betrieb dort die Errich-
tung der sogenannten Süd -Compagnie, welche auch unter dem
Kanzler Oxenstjerna später zu Stande kam und als Mitbewerber
am Pelzhandel in Nordamerika der westlichen Handelsgesellschaft
einige Unbequemlichkeiten zufügte, übrigens aber nach kurzem
Dasein unrühmHch erlosch.
Ueber Usselincx' Laufbahn herrscht noch jetzt die grösste
Ungewissheit. Wir wissen weiter nichts, als dass er ein brabanter
Kaufmann war, der nach Zeeland auswanderte. Für die Ge-
Zur Geschichte der holländischen Colonien und überseeischen Entdeckungen, i ^ i
Schichtschreibung ist er weder geboren noch gestorben, und wenn
er heute plötzlich wieder auftauchte , bemerkt Asher launig , so
hätten wir kein Recht uns über etwas anderes dabei zu verwun-
dern, als dass er ein paar Jahrhunderte alt geworden sein müsste.
Im Jahre 1636 kehrt er als schwedischer Gesandter nach Holland
zurück und nocii im Jahre 1647 übergiebt er den Generalstaaten
eine Denkschrift zu den unzähligen Denkschriften, die er bereits
verfasst hatte. Diess ist das letzte Lebenszeichen von dem grossen
Mann. Herr Asher lässt uns merken, dass er noch einige bisher
unbekannte Beiträge zur Lebensgeschichte dieses Staatsmanns lie-
fern könne, aber er wolle kein Stückwerk bringen und daher be-
schränkt er sich vorläufig auf eine Darstellung der Schriften des
thätigen und feurigen Belgiers, die classisch in ihrer Art, nicht
bloss geschichtlich bedeutsam dastehen, sondern auch durch die
weit ihrer Zeit vorauseilenden staatswirthschaftlichen Grundsätze
uns üben-aschen.
Was nun Neu-Niederland insbesondere betrifft, so verstanden
die Holländer darunter die Ostküste der heutigen nordamerika-
nischen Union von lat. 38° bis lat. 42°, oder mit andern Worten
etwa die Staaten New-York, New-Jersey, sowie Stücke von Penn-
sylvanien, Maryland und Rhode-Island. Der Ruhm, die Küste von
Nordamerika entschleiert zu haben, gebührt vier Seefahrern , die
sämmtlich fremden Mächten dienten , nämUch dem Venetianer
Giovanni Gabotto, der unter britischer Flagge fast den ganzen
atlantischen Ostrand Nordamerika's 1498 befuhr, sodann dem Flo-
rentiner Verrazzano, der 1524 im französischen Dienst einen Theil
dieser Küsten wieder sah, und eine sehr ungenaue Karte davon
heimbrachte, ferner 1525 Estevan Gomez, einem Portugiesen in
spanischem Dienst, der eine recht genaue Karte entwarf, auf der
auch der Hudsonfluss als Rio de Gamas oder Damhirschfluss
deutlich wahrnehmbar ist, endlich Henry Hudson 1609, einem
Engländer im Dienste der Niederlande. • Wie alle seine genannten
Vorgänger suchte Hudson eine nordwestliche Durchfahrt nach
China. Jetzt wo wir von Jugend auf Erdkugeln und Weltkarten
vor uns haben, kostet es uns einige Mühe, den Eifer der Nord-
westfahrer zu begreifen. Damals aber war die Hoffnung , einen
kurzen Seeweg nach Ostasien auf der nördlichen Erdhälfte zu fin-
den völlig berechtigt, ja wenn man die Schriften aus jener Zeit
liest , stösst man sogar auf Aeusserungen wie etwa die , dass es
9*
1^2 Zur Geschichte der Geographie.
wenig Vertrauen in die Weisheit der Vorsehung beweise , wenn
man an einer Nordweststrasse zweifle, denn so gut wie es im
Süden eine Magalhäesstrasse gebe, müsse im Norden auch eine
Meerenge sich finden, die neue Welt müsste ja gar zu ungeschickt
geghedert sein, wenn sie sich zur Verhinderung des Seehandels
zwischen Europa und Asien ausbreiten sollte. Hudson befuhr den
Strom, der seinen Namen trägt, bis zur Höhe, wo seine Schiff-
barkeit aufhört. Ihm folgten dorthin 1611 holländische Schiffe,
die mit Indianern Tauschgeschäfte trieben, 16 14 wurde der Name
Neu-Niederland geschaffen und 16 15 entstand ein befestigtes
Magazin, der erste Keim von Neu-Amsterdam, der grössten Stadt
der neuen Welt, die wir jetzt kennen.
Die innere Geschichte der Colonie ist höchst unerquicklich,
denn sie besteht aus Misshandlungen der Rothhäute, auf welche
die Vergeltung nicht ausblieb, Reibungen mit den britischen An-
siedlern in ,,Neu-England", Anklagen der Verwaltung von Seiten
der Colonisten bei der Nordwest-Compagnie sowie der Nordwest-
Compagnie bei den Generalstaaten. Die Regierung der Colonie
stand unter einem ,,Director", einem Vicedirector , einem rechts-
kundigen Secretär (fiscael) und aus kleineren Canzleibeamten. Nur
wenn der Director die Verantwortung eines Beschlusses von sich
abwälzen wollte, berief er einen Rath aus den Colonisten.
Von vornherein war kein rechtes Bleiben für die Holländer
in den Vereinigten Staaten, denn sie wurden nur von den Briten
geduldet, die nach damaligem Völkerrecht als Entdecker auch die
Eigenthümer des Landes waren. Die niederländischen General-
staaten unterstützten die Ansprüche der Compagnie nicht kräftig,
sondern erkärten sogar am 25. October 1634, dass sie sich in
den Rechtsstreit zwischen der Nordwest-Compagnie und der eng-
lischen Krone nicht einmischen würden. Ueberhaupt waren die
überseeischen Unternehmungen der Holländer keine nationalen
Thaten, sondern nur Privatspeculationen , wie ja auch die ostin-
dische Compagnie der Engländer lange Zeit nur eine Actiengesell-
schaft geblieben ist.
Was die Reibungen mit den Rothhäuten betrifft, so bestätigt
Asher abermals, dass die ursprüngliche Verschuldung auf Seite der
Europäer lag. Erstens verheerte das Hornvieh der Holländer die
unbeschützten Maisfelder der Indianer, dann wurden die letzteren
ohne weiteres besteuert und der nächste Nachbarstamm, der sich
Zur Geschichte der holländischen Colonien und überseeischen Entdeckungen.
13:
um Schutz flehend vor einem feindUchen Stamme auf holländisches
Gebiet geflüchtet hatte, schonungslos mit Weib und Kind von den
Colonisten ermordet, weil etliche Zeit zuvor einer der Indianer
«inen weissen Ansiedler, jedoch nicht olme gerechte Ursache er-
schossen hatte.
Die Insel Manhattan war den Rothhäuten um 60 Fl. abge-
kauft worden, jetzt wird bisweilen für einen Quadratschuh das
Zehnfache gezahlt. Von der ursprünglichen Stadt Neu-Amsterdam
giebt es vier bildliche Ansichten, die älteste stammt aus dem
Jahr 1649 und ist von Asher wieder reproducirt worden'). Sie
zeigt ein Fort mit zerstreuten Häusern, im Vordergrund den
Galgen. Nach dem zweiten Bilde aus dem Jahr 1656 war Neu-
Amsterdam schon zu einem sittsamen Städtchen erwachsen, und
1667, auf der dritten Ansicht, konnte es sich als Stadt mit andern
Städten in Holland vergleichen. Seitdem jst es fortwährend
langsam gewachsen, im Geschwindschritt dagegen in den letzten
30 Jahren. So hat Gerstäcker kürzlich in seinen neuern Reisen
das ältere New-York, wie er es 1837 sah, verglichen mit dem
neuen, wie er es 1867 wieder fand. Statt der kleinen Backstein-
häuser am Broadway fand er Marmorpaläste wieder und welchen
Verkehr in den Strassen? Früher sass fast jeder zu Pferde und
vor den Schenken befanden sich hölzerne Gestelle mit eisernen
Haken, um die Zügel "der Pferde darüber werfen zu können.
Jetzt sieht man fast keinen Reiter mehr in den Strassen , dafür
unzählige Omnibusse und überall obendrein Schienengeleise. Aber
auch der Schmutz ist gewachsen und die Marmorpaläste spiegeln
sich bei nassem Wetter in dem grundlosen Strassenbrei.
Den Namen New-York erhielt die Stadt erst 1664, als sie
am 5. September ohne vorheriges Blutvergiessen sich den Neu-
Engländern übergab. Geschichtlich neu ist Ashers Bemerkung,
dass der Hauptanstifter des Krieges von 1664 — 1667 zwischen
Holland und Grossbritannien der englische Gesandte im Haag
Sir George Downing gewesen sei, ein geborner Neu - Engländer
und einer der frühesten Zöglinge von Howard College. Die neuen
Niederlande wurden im Frieden zu Breda 1667 förmlich an
England abgetreten, und wenn sie auch 1673 durch eine nieder-
«
i) Es ist die nämliche, von der sich ein Holzschnitt im Ausland 1866,
1221; befindet.
I'S^ Zur Geschichte der Geographie.
ländische Flotte abermals erobert wurden, so fielen sie doch schon
im nächsten Jahre wieder durch den Friedensschluss von West-
minster an die Engländer zurück.
Interessant ist die Bemerkung Ashers: dass die ältesten Kar-
ten der neuen Niederlande von 1614 und 1616, jetzt noch in
Handschrift vorhanden , den später gestochenen sämmtlich als
Muster gedient haben , durch höhere Genauigkeit sich aber vor
diesen merklich auszeichnen. Wir pflegen in der Regel zu sagen
und zu denken, dass kein menschhches Werk, also auch kein
kritischer Katalog als vollendet betrachtet werden könne. Es ist
daher ein grosses Wort, mit dem Asher seine Einleitung be-
schliesst: „Da wir alles durchsucht haben, wo Suchen verstattet
war, dürfen wir mit grösster Sicherheit behaupten, dass, ausser
den von uns angeführten, keine gedruckte Urkunde in Bezug auf
die Geschichte Neu-Niederlands ferner mehr entdeckt zu werden
vermag."
Das andeire Buch von Tiele gleicht weit mehr einem Katalog,
der den Samrnlern die genauen Titel und Kennzeichen der ge-
suchten Schätze angeben will , denn von allen Büchern , deren
Inhalt bereits Camus zergliedert hat, beschränkt sich der Verfasser
nur auf bibliographische Bemerkungen, dennoch finden wir bei
einzelnen Raritäten werthvoUe historische Erörterungen eingeschal-
tet. Auch besitzt der Band eine chronologische Tafel der wich-
tigsten Reisen und - überseeischen Unternehmungen der Holländer,
die etwa bis Abel Tasmanns Zeit hinaufreicht. Hauptsächlich
aber werden uns Aufschlüsse über die De Bry'schen und Hulsius-'
sehen Sammelwerke geboten.
Nicht zu übersehen ist eine Notiz über die 22 Ausgaben der
Reisen von Le Maire und Schouten. Ihre Fahrt um die Welt
gehört in die Jahre 16 15 — 16 17 und wurde unternommen in den
Schiffen Eendracht und Hoorne. Vor dieser Reise dachte man
sich , dass das heutige Feuerland als Theil zu einem geräumigen
Continent rings um den Südpol gehöre, mit dem auch das heu-
tige Australien zusammenhängen sollte. Daher kannte man ausser
der Magalhaesstrasse keinen Zugang zum stillen Meer. Jene
Fahrt wurde auf Kosten unternehmender Kaufleute der Stadt
Hoorn ausgeführt, und als die Holländer an die Ostspitze von
Feuerland gelangten , fanden sie zwischen dieser und der Insel
Zur Geschichte der holländischen Colonien und überseeischen Entdeckungen, j -j r
Staatenland , die von ihnen ihren Namen erhielt, eine ganz neue
Strasse in die Südsee. Sie waren die ersten Seeifahrer, welche
<lie Südspitze der neuen Welt umsegelt, und ihr den Namen ihrer
Vaterstadt gegeben haben, daher wir streng genommen Cap Hoorn
statt Cap Hörn schreiben müssen. Das Gespenst eines Südpolar-
landes verschwindet desswegen noch nicht, denn wie früher Feuer-
land, so wurde die kleine Insel Staatenland jetzt als die Nord-
westecke des antarktischen Continents betrachtet. Die Strasse
selbst bekam und führt noch heute den Namen von Jaques le
Maire. Ueber die Fahrt selbst giebt es zwei Berichte, einen von
le Maire und einen unter Schoutens Namen, letzterer von diesem
jedoch verleugnet und missbilligt. Schon damals war der Neid
über Namensverzweigung so giftig wie heutigen Tages, und so
wird denn im zweiten Berichte behauptet, die Strasse hätte Schou-
tenstrasse genannt zu werden verdient, denn nur dem nautischen
Talent seines Steuermannes verdanke le Maire seine Erfolge.
Umgekehrt wird in dem Berichte, der le Maire's Namen trägt,
Schoutens Benehmen missbilligt und seine Person ins Lächerliche
gezogen. Man gewahrt daraus, dass auf dem Schiffe Eendracht
die Eintracht nicht stark gewesen sem kann. Unser Verfasser
führt übrigens näher aus, dass jedenfalls die Anregung und der
Gedanke jener Erdfahrt von le Maire und nicht von Schouten
ausgegangen war.
Dankenswerth sind auch einige Notizen über Hessel Gerrit
oder Gerritsz nach holländischer Schreibweise (so viel wie Gerrits,
Gerard' s Sohn). Er war ein Kartenstecher und Herausgeber
geographischer Mittheilungen, so dass wir ihm und Linschooten,
sowie de Veer die besten Aufschlüsse über die Unternehmungen
der Holländer zur Aufsuchung einer nordöstlichen Durchfahrt,
also der Fahrten nach Nowaja Semlja und durch die Weigats-
strasse verdanken. In jene Zeit (1596) fällt auch die Entdeckung
von Spitzbergen durch Jacob van Heemskerk und Willem Barent.
Barent segelte von Spitzbergen bekannthch um die Nordspitze
Nowaja Semlja's, der erste und einzige Seemann, dem diess bis
jetzt gelungen ist, überwinterte dort, musste jedoch sein Schiff
zurücklassen und in einem Boote heimkehren; unterwegs ereilte
ihn der Tod. Ueber diese Reise besassen wir eine wichtige
Urkunde, nämlich in Pontanus Geschichte von Amsterdam eine
120 Zur Geschichte der Geographie.
Karte, gestochen von Hondius, einem Zeitgenossen des Barent, die
den Curs seines Schiffes im Jahre 1596 angab. Wir erfahren jetzt
von Tiele, dass eine Originalkarte von Barent selbst, gestochen
1598 nach seinem Tode, vorhanden ist, die Hondius nur wieder-
holt hat mit Hinzufügung ethcher Punkte, die Hudson 1609 be-
suchte, sowie der apokryphen Objecte Matsin und Sir Hugh
Willoughby's Land.
14. Die grossen Entdeckungen in den
Jahren 1849—1856.
(Deutsche Vieiteljahrsschrift. 1858. Heft I. Xr, LXXXI.)
Die Räume auf der Oberfläche unseres Planeten, welche noch
unbetreten von Europäern oder völlig unbekannt geblieben sind,
haben im Laufe von acht Jahren ausserordentlich an Flächeninhalt
verloren, und es scheint beinahe, als sollten wir bald das stolze
Wort auszusprechen vermögen, dass überhaupt kein Punkt der
Erde ihren Bewohnern unerreichbar sei. Räume in der Nähe des
Nordpols , auf Avelchen das Siegel des arktischen Winters ruhte,
und angeblich leblose , von den Sonnenstrahlen leer gebrannte
Flächen grosser Continente sind beschritten worden. Namentlich
Afrika, welches noch vor kurzem das räthselhafte Festland
genannt wurde, kann trotz seiner Massenhaftigkeit bald als be-
wältigt betrachtet werden. In früheren Zeitaltern und noch jetzt
waren und sind es zwei grosse Triebfedern , welche zur Bereiche-
rung der Erdkunde führten, die Handels- und die Bekehrungslust.
Auf den Fus"Stapfen des Missionairs folgte der Kaufmann und
mit den Handelsgütern wanderten die Religionen. Weit seltener
geschahen Entdeckungen durch Heer- oder Raubzüge. Von der
ersten Art ist die grösste der Zug des Macedoniers nach Indien,
den man, wenn man zu idealisiren liebt , als eine bewaffnete geo-
graphische Expedition betrachten kann, von der zweiten Art ist
die Niederlassung normannischer Seeräuber auf Island berühmt ge-
worden, weil ihr die Ansiedlungen auf Grönland, die Fahrten nach
dem Weinland (Vereinigte Staatenküste) und nach den grossen
arktischen Sunden folgten. GewöhnHch ist jede solche That von
unberechenbaren sittlichen Folgen begleitet, sowohl für das vor-
dringende, wie für das aufgesuchte Volk. Für das erstere erweitert
1-7 8 Zur Geschichte der Geographie.
sich der Kreis der Erkenntnisse, die Anzahl der Thatsachen, und
mit dieser Anzahl die Wahrnehmung neuer Wahrheiten, für das
andere beginnt bei der ersten Berührung mit einer andern Civili-
sation eine neue Zeitrechnung, oft genug sogar eine Abrechnung
mit der Zeit. Wo der weisse Mensch seinen Fuss in ein Land
setzt, welches nicht durch ein feindseliges Klima vor dem An-
kömmling gesichert ist, da verschwindet gewöhnlich die Urbe-
völkerung oder das , was wir so nennen. So ist der Europäer
manchen Nationen schon zum Todesengel geworden. Siebzig
Jahre nach Ankunft der Europäer waren alle Bewohner Cuba's,
Haiti's, der Bahamainseln, Puerto Rico's und Jamaica's ausgestorben.
Die alten Stämme der Rothhäute im Osten der Vereinigten Staaten
sind längst, man möchte sagen von der europäischen Civilisation
in den Boden gepflügt worden, oder irren zersprengt und schatten-
haft in der Nähe des grossen westlichen Gebirgsdammes umher.
Dort erreicht sie die halbverwilderte Vorhut der westlichen Staaten,
der Pelzjäger und Pelzhändler, der sie mit Branntwein vergiftet
und zur Büffeljagd antreibt. Allein alle guten Dinge der Erde
erreichen ihr Ende und die fruchtbaren Büffelheerden fangen an,
sich zu verdünnen, seit ihnen rastlos nachgestellt wird. Der Büffel
ist im Aussterben begriffen, und durch die Indianerstämme dringt
die prophezeihende Wehklage, dass der rothe Jäger mit diesem
Jagdthiere von der Erde scheiden werde. Gleiche Erscheinungen
zeigen sich in der Südsee. Seit wir statistische Ermittelungen über
einige Inselgruppen besitzen, wird die rasche Entvölkerung der
Sandwich- und Gesellschaftsinseln erschreckt wahrgenommen und
wir werden bald die Stämme dieser heitern Völkerschaften im
„Wochenblättchen lesen" können. Es liegt etwas tödtliches im
Dunstkreis europäischer Civilisation für unreif gebliebene Menschen-
stämme. Wo sich Europäer niederlassen, bringen sie die Krank-
heiten der alten Welt und die Laster der Civilisation mit sich.
Die durchschnittliche Dauer des Lebens scheint sich nach der
europäischen Berührung zu verkürzen , während die Frauen auf-
hören, durch Fruchtbarkeit die Verluste zu ersetzen. Solche trübe
Gedanken verkümmern die Freude an dem grossen Werke der Ent-
deckungen. Selbst der grosse afrikanische Entdecker Livingstone,
der mit wahrer evangeUscher Liebe an den von ihm zuerst besuchten
Völkerschaften Südafrika's hängt, äussert an einer Stelle seine
Wehmuth darüber, dass seine Entdeckungen den Untergang manches
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. jßg
begabten Menschenschlags nach sich ziehen werden. Das Er-
scheinen des weissen Mannes und seiner Civilisation ist für alle
unentwickelten Völker unheilvoll gewesen, und ein merkwürdiges,
unergründliches Verhängniss will es, dass das Evangelium, sonst
4ie Botschaft des Lebens, hier zur Todesverkündigung wird, nicht
der Lehre wegen, sondern weil mit der Lehre der tödtliche euro-
päische Hauch die schwächeren Menschenracen hinwegrafft.
Diese zerstörenden Kräfte unserer Civilisation richten sich
nicht bloss gegen die Geschöpfe der eigenen Art, sondern sie sind
der ganzen belebten Natur bedrohlich. Wohin der Europäer den
Fuss gesetzt hat, da kündigt er der Herrschaft des Pflanzenreiches
den Krieg an. Unser eigener Welttheil ist schon völlig kahl ge-
worden, und das Klima hat sich dadurch beträchtlich geändert.
Völlig ihres Waldschmuckes beraubt wurden Madeira, die Canarien,
die Antillen, und in grösstem Massstab schreitet die Zerstörung
in Nordamerika vor. Freilich lassen sich ungeheure Ländermassen
nicht im Lauf weniger Geschlechter lichten, allein bei dem hastig
anschwellenden Wachsthum des amerikanischen Volkes multipli-
ciren sich täglich die zerstörenden Kräfte. Ist hier nur eine Ver-
armung an Individuen zu fürchten, so ist die Natur auch einer
Beraubung ihrer Arten durch das streitbarste ihrer Geschöpfe aus-
gesetzt. In Europa sind mit geringen Ausnahmen beinahe alle
reissenden Thiere aus der Natur in die Kästen der Menagerien
gedrängt worden. Das fruchtbarste Geschlecht und das frucht-
barste Element, Fische und See, sind den Nachstellungen des
weissen Menschen nicht gewachsen. Der Lachs, einst an allen
Seeküsten Europa's so häufig, dass alte Dienstbotenordnungen
deutscher Hansestädte den Herrschaften verboten , öfter als zwei-
mal die Woche ihren Leuten diese Nahrung aufzudringen, hat die
Seltenheit eines Leckerbissens erreicht und der schwindenden An-
zahl wird , weil die Marktpreise steigen , gerade desshalb mit um
so grösserer Aufmerksamkeit nachgestellt , so dass ein Aussterben
dieser Art aus der Statistik der schottischen und britischen Fischereien
noch in diesem Jahrhundert für europäische Gewässer eintreten
möchte. Selbst der Häring, der sich mit einer incommensurablen
Kraft vermehrt, beginnt seltener, die Häringszüge dünner zu werden.
Die Entwickelung der Fische vom Ei bis zur Mannbarkeit ist so un-
endlichen Gefahren ausgesetzt, dass die Natur aus Berechnung sie
mit tausendfältiger Fruchtbarkeit begabt hat. So vermochte sich,
I^O Zur Geschichte der Geographie.
den unzähligen Verheerungen zum Trotz , dennoch die Art zu
erhalten. Nur eins schien die Natur bei ihrem Calcul nicht völlig
erwogen zu haben, die grenzenlose Mordlust des Menschen, dessen
tückische Garne der fruchtbaren See mehr Bewohner entziehen,
als alle gefrässigen Raubthiere dieses Elementes. Wenn selbst
Fischarten dieser Katastrophe entgegeneilen , wie hülflos sind da-
gegen andere Bewohner der See , Wallfische , Wallrosse und See-
hunde! Grosse Küstenstrecken sind bereits ihrer Strandbewohner
gänzlich durch den Robbenschlag beraubt worden und die Seehund-
jäger müssen immer neue noch unberührte Küsten aufsuchen, um
ihr Zerstörungswerk fortzusetzen. Der wunderliche Archipel des
Feuerlandes, von dem wir noch keine vollständige Karte besitzen,
wird alljährlich von Schiffen durchspäht, welche neue Sunde und
Buchten entdecken , um dort Ernte zu halten und sie entvölkert
zurück zu lassen. Der atlantische und pacifische Ocean ist all-
mählich arm geworden an Wallfischen. Die Wallfischjäger sind
gezwungen , bis zu den höchsten arktischen und antarktischen
Breiten vorzudringen, um neue noch nicht entvölkerte Jagdgründe
aufzusuchen. Auf den Spuren der edlen Franklinsucher sind die
kühnen Jäger in früher völlig unbekannte Sunde vorgedrungen,
aber auch diese werden, wenn die Jagd ergiebig gewesen, all-
mählich ihre Bevölkerung verlieren. Eine ähnUche Verödung
erreicht mit beinahe rascheren Schritten die grossen Jagdgebiete
der Pelzthiere. Der ,, Vetter" des rothen Mannes, der kluge Biber,
ist vor der ,, westwärts fliehenden Weltgeschichte" zurückgewichen.
Er liebt ohnediess nicht das Geräusch der Civilisation und das
Klingen der Axt im Hochwald. Je seltener er wird, desto theurer
bezahlt man seine Haut, desto eifriger wird ihm nachgestellt, desto
näher rückt seine Todesstunde. Der Ertrag der Pelzausbeute
nimmt jährlich ab, sowohl in den Hudsonsbaigebieten, wie im
russischen Ostasien. Die letzten russischen Entdeckungen haben
ein neues Jagdgebiet im Norden des Amur aufgeschlossen, wo der
Verbreitungsbezirk des Tigers zusammentrifft mit dem der Pelz-
thiere und wo sich noch Zobel und anderes seltenes Wild in
uranfänglicher Fülle finden. Einmal entdeckt, wird auch diese
noch unangetastete Provinz rasch ausgeräumt sein.
Am tödtlichsten aber wirkt das Erscheinen des weissen Mannes
auf die Dickhäuter, namentlich auf die Elephanten. Die afri-
kanischen Reisenden Andersson und Livingstone stiessen noch auf
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. j^j
zahlreiche Elephantenheerden. Nach der Beschreibung des letzteren
glichen die grossen Grassteppen in der Nähe des Zambesi voll-
ständig einem Bilde des Paradieses in den ersten Schöpfungstagen.
Heerden gehörnter Thiere und Elephanten grasten in grösstem
Frieden durch einander und flohen noch nicht scheu vor der An-
näherung des Menschen. Dem Elephanten wurde bisher fast nur
wegen seines Fleisches nachgestellt, denn die Zähne verwendete
man höchstens zu Grabornamenten , ohne Ahnung, dass sie einen
gesuchten und theuer bezahlten Artikel an der Küste darstellten.
Sowie aber ,Livingstone am Ngamisee erschienen war, wurde
Elfenbein Geld und Gut, und die schlauen, handelslustigen Stämme
von dem Werth ihres Landesproductes unterrichtet , hielten ihre
Habe fest, da sie allein nur mit Elfenbein die vielbegehrten euro-
päischen Waaren zu bezahlen vermögen. So lange indessen der
Elephant nur den schwachen Waffen der halbnackten Eingebornen
ausgesetzt blieb, war seine Ezistenz nur wenig bedroht, aber mit dem
ersten Büchsenknall ist der paradiesische Frieden unterbrochen. Ein
einziger Jäger, Herr Oswell, Livingstone's mehrfacher Begleiter, hat
in einem Jahr mehr Elephanten erlegt, als ein ganzes Geschlecht der
Stämme am Ngamisee. Die Vernichtung jener grossen Heerden
würde in früheren Zeiten einen langsameren Gang genommen haben,
allein bei der grossen Uebervölkerung der Länder unserer Gesittung
und bei den ausserordentlichen Leistungen unserer Civilisation
gränzen die Entdeckungen und ihre Folgen so nahe zusammen,
wie Körper und Schatten. Kaum war das Gold in Cahfornien
gefunden, so gab es auch einen Staat an der Südsee, einen Stern
mehr im Banner der Union. Die Versetzung ganzer Bevölkerungen,
der Aufbau von Städten , die Cultivirung von Einöden , die Grün-
dung neuer Gesellschaften sind jetzt das Werk weniger Jahre. Wo
der Entdecker seinen Fuss hinsetzt, da rückt auch die europäische
Civilisation nach und behauptet ihre Gegenwart ununterbrochen,
und wäre es auch nur durch die Repräsentation ihrer Gewerbs-
producte. Die Einführung des Feuergewehres folgte unmittelbar
der Entdeckung des Ngamisees , der zwei Jahre nach Livingstone
bereits von europäischen Hausirem besucht wurde. Seitdem sind
die Stämme am See mit Schiessgewehren bewaffnet worden , und
dieser Umstand hat bereits grosse politische Folgen gehabt. Wir
erwähnen ihn aber nur hier, um auf die Folgen für das Thierreich
aufmerksam zu machen, denn natürlich muss, sobald sich Nach-
142
Zur Geschichte der Geographie.
frage und Absatz nach Elfenbein einstellt, nothwendig die ver-
heerende Jagd auf die Dickhäuter beginnen und der Elephant
dort so selten werden, wie in allen vom europäischen Verkehr
erreichten Räumen Afrika's.
Wir haben diese Bemerkungen vorausgeschickt , um auch die
Nachtheile der Entdeckungen zu zeigen und damit man nicht ver-
gesse, welches Verhängniss jeder Europäer dorthin trägt, wohin er
seinen Schritt setzt, dass sein Erscheinen sogar den physischen
Besitz ganzer Welttheile bedroht.
* *
*
Die beiden grossen arktischen Entdeckungen , der nordwest-
lichen Durchfahrt und des offenen Polarmeeres an der Westküste
Grönlands, verdanken wir dem traurigen Geheimniss von Sir John
Franklins und seiner Gefährten Ende. Am Anfange unseres Jahr-
hunderts bis zum Jahre 1818 kannte man von den zwischen dem
Nordrande Amerika' s und der Westküste Grönlands liegenden Inseln
und Sunden nur die Baffinsstrasse und die Wasserverbindungen,
welche nach der Hudsonsbai führten. Selbst im Jahre 1818 noch
kehrte John Ross der ältere von einer arktischen Entdeckungsreise
mit dem trügerischen Ergebniss zurück , dass die Baffinsbai rings
von Land eingeschlossen sei und nur eine einzige Mündung, die
Davisstrase, besitze. Obgleich wir jetzt drei andere Ausgänge,
nach Norden den Smithsund , nach Nordwesten den Jonessund,
nach Westen die Barrowstrasse kennen, so haben doch die reichUch
vorhandenen Erfahrungen arktischer Seefahrer uns belehrt, dass
wir die Irrthümer des Kapitän Ross sehr verzeihlich finden, denn
manche dieser Sunde sind nur bisweilen offen , bisweilen ver-
schlossen, und es hält dann ausserordentlich schwer, zu bestimmen,
ob man am Ausgang einer zugefrorenen Strasse oder eines zu-
gefrorenen Golfes sich befinde. Besonders begünstigt war daher
Barry, der 18 19 aus der Baffinsbai durch den Lancastersund und
die Barrowstrasse in das grössere Becken des Melvillesundes ein-
drang und im Norden dieses Gewässers an der von ihm entdeckten
Melvilleinsel im Winterhafen seine Schiffe einfrieren Hess. Dreissig
Jahre verstrichen, ehe dieser Punkt je wieder erreicht wurde.
Eine neue Reihe arktischer Fahrten eröffnete Sir John Franklin
mit dem Erebus und Terror am Beginn des Jahres 1845. Ge-
sehen wurden diese Schiffe in der Baffinsbai zum letzten Male im
Juli 1845. Die späteren Franklinsucher stiessen dann auf das
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — '856. i^-^
Winterlager der Schiffe bei der Beecheyinsel in der Barrowstrasse,
wo man den Leichenstein eines Matrosen fand, der am i. Januar
1846 am Bord des Terror gestorben war. Das Geschwader muss
dann im Sommer 1846 die Winterstation in der Barrowstrasse ver-
lassen haben und nach Westen vorgedrungen sein. Da von den
Franklinsuchern der arktische Archipel beinahe völlig erforscht und
nirgend Spuren der Schiffe entdeckt worden sind, so bleiben jetzt
nur zwei Möglichkeiten für den späteren Curs der Schiffe nach
den noch unbekannten Räumen dieser Inselwelt übrig. Entweder
das Geschwader erreichte den Melvillesund und wurde an die
Nordküste des Landes oder der Inseln getrieben , die wir jetzt
an ihren verschiedenen Punkten Prinz Albert, Prince of Wales,
Victoria- oder Wollastonland nennen, wo sie dann einfroren, oder
FrankUn ging am Thore des Melvillesundes durch die Peelstrasse
gegen Süden nach dem noch unerforschten Victoriacanal. Dort
lagen seine Schiffe eingefroren oder liegen sie noch heutigen Tages,
denn an einen völligen Untergang durch Quetschung (nip) von
Eisbänken ist desswegen nicht zu denken, weil sich etliche Personen
der Mannschaft später noch retten konnten. Es ist leicht möglich,
dass die Schiffe noch heutigen Tages eingefroren liegen, allein es
kann diess nur in der Nähe jener Küsten und Strassen geschehen
sein, denn alle übrigen Punkte haben eine strenge Visitation er-
litten. Es ist aber auch möglich, dass die eingefrorenen Schiffe
in einem spätem Sommer wüeder erlöst wurden und mit der Eis-
bank, die sie einbettete, von den Strömungen durch den Lancaster-
sund in die Baffinsbai und in das atlantische Meer getragen, bei
Neufundland gesehen werden konnten. Wie lange Franklin und
seine Gefährten bei den eingefrorenen Schiffen ausharrten, bleibt
den Vermuthungen überlassen; jedenfalls wurden die Fahrzeuge
vor dem Winter 1850 verlassen, \vo ein Jahr früher bereits die
ersten Franklinsucher unter James Ross ganz in der vermuthHchen
Nähe der Katastrophe den nördlichen Theil der Peelstrasse durch-
sucht hatten. t)r. Rae war der erste, der 1854 auf seiner Reise
an den Nordküsten des Festlandes in der Nähe von Boothia Felix
bei Eskimos HabseHgkeiten einer Franklin'schen Schaar entdeckte.
Die Eskimos erzählten, dass im Winter 1850 vierzig weisse Männer
von King Williams Land auf Schlitten nach dem Festlande über-
zusetzen versuchten. Sie haben auch wirklich den Continent
erreicht und der Ort ihres Untergangs ist die Landspitze t)gle
■j^AA Zur Geschichte der Geographie.
und die kleine Insel Montreal im Golfe, welcher Backs Grossen
Fischfluss aufnimmt. An diesen Oertlichkeiten fand eine Land-
expedition unter James Anderson, welche den grossen Fischfluss
mit indianischen Booten abwärts gegangen war, in den Eskimo-
hütten Gegenstände der Franklin'schen Fahrzeuge, wie auch Com-
modor Collinson in der Victoriastrasse auf Schiffstrümmer gestossen
war, welche höchst wahrscheinlich vom Erebus oder Terror her-
rührten. Diess ist das magere Ergebniss der FrankUnforschungen,
welche im Jahre 1853 schon mehr als eine Million Pfund Sterling
gekostet hatten, und die noch heute fortgesetzt werden würden,
wenn nicht schon allzuviel Menschenleben bei den edlen Anstren-
gungen verloren gegangen wären.
Die Nachsuchungen, welche seit 1848 begannen, wurden jedes
Jahr in grossartigem Massstab erneuert, besonders aber beschäf-
tigten sich seit 1850 mehrere Geschwader damit. Zu diesen
gehörte auch die Entreprise und der Investigator unter Capitän
CoUinson und Commander Mac Clure, welche von der Südsee
aus durch die Behringsstrasse , also von West nach Osten, der
grossen Franklinflotte im arktischen Archipel sich nähern , und
wenn es eine nordwestliche Durchfahrt gebe, sich mit ihr vereinigen
sollten. Die Erlebnisse dieser beiden Schiffe sind bekannt genug,
dass wir sie nur kurz anzudeuten brauchen. Mac Clure's Schiff
segelte so schlecht, dass CoUinson in der Südsee vorauseilte und
die Sandwichinseln zum Vereinigungspunkt bestimmte. Mac Clure's
Investigator erreichte aber Honolulu erst am i. Juli, als Collinson
bereits abgesegelt war. Vier Tage später waren alle Einkäufe
am Bord und Mac Clure unterwegs nach der Behringsstrasse, auf
die er, aller Gefahren dieses Pfades ungeachtet, direct nach Norden
zusteuerte. Am 16. Juli erreichte er die Aleuten, am 29. war er
schon durch die Behringsstrasse in den Polarkreis eingetreten,
und am 31. August kam man in Sicht von Cap Bathurst im
Norden des grossen Bärensees. Der Investigator befand sich jetzt
an der Küste von Nordamerika zwischen 70 und 71 Grad nörd-
licher Breite. Was gegen Norden lag , waren völlig unbekannte
Räume, denn der nächste bekannte Punkt, die von Parry erreichte
Melvilleinsel , lag 5 Grad höher gegen Nordost. Die ,, Saison"
neigte zu Ende , denn gewöhnlich erst gegen Ende Juli beginnt
das Eis wieder flott zu werden, und schliesst sich dann wieder vor
Mitte September, wenn es überhaupt aufgeht, denn in manchen
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. j^c
Jahren tritt gar keine Saison ein. Das Vordringen der Seefahrer
erleichtert aber das sogenannte L a n d w a s s e r , ein offener Meeres-
saum, der sich frühzeitig zwischen der Küste und der zusammen-
hängenden Eisdecke der See bildet, oft etliche Meilen breit, oft
aber auch bis auf hundert Ellen, ja bisweilen so stark verringert,
dass das Schiff mit seinen Segelstangen nur knapp hindurch-
schlüpfen kann. Die Eisdecke steht auch nicht immer fest, die
Winde und die Fluthen bewegen und treiben sie bisweilen und
die Massen drücken dann gegen das Ufer, wo die nächsten Eis-
ränder sich hoch emporschieben. Wo aber die Küste seicht ist,
kann sich das grosse Eis wegen seines Tiefganges nicht nähern,
sondern folgt in grösseren oder geringeren Abständen den) Ufer.
Die arktischen Seefahrer unterscheiden ohne Schwierigkeit ver-
schiedene Eisbildungen, namentlich das junge vom alten Eis,
welches immer mehr oder weniger abgelebt, von Wind und Wellen
und von dem Kampfe mit anderem Eis verunstaltet aussieht.
Diese Unterscheidung ist desshalb wichtig, weil man nach der
Gegenwart von altem oder jungem Eis beurtheilen kann, ob ein
Sund oder eine Bucht alljährlich, oder nur bisweilen, oder selten
aufgeht. Dem westlichen Theil der arktischen Gewässer fehlt eine
Erscheinung gänzlich, welche der Baffinsbai und ihrer Verlängerung
nach Norden eigenthümlich ist, nämlich die Eisberge, die ganz
andere Geschöpfe sind, als die Eisschollen oder Eisbänke, die nur
rauhe Hügelkämme (hummocks) bilden, wo sich die Eistafeln in
die Höhe schieben und dann erstarren. Die neuesten arktischen
Erfahrungen haben ferner bewiesen, dass hohe und niedere Tem-
peraturen wenig abhängig sind von den Breiten, es ist vielmehr
häufig wahrgenommen worden, dass man gegen Norden sich be-
wegend mildere Räume erreichte. Als allgemeine Erfahrung darf
es ausgesprochen werden, dass, unabhängig von der Breite, die
Südküsten der arktischen Inseln milder sind, als die Nordküsten,
die Ostküsten milder, als die Westküsten. Die verhältnissmässige
Erwärmung dieser Räume scheint erklärlicher Weise von der
Gestaltung der Länder abzuhängen. Je enger nämlich ein Sund
oder eine Wasserstrasse ist, desto früher wird sie durch Treibeis
verstopft. Findet das Eis dann keinen Ausweg, so erstarrt auch
vor diesem Canal die bis dahin bewegliche Masse. Nun ist es
begreiflich, dass die verlängerte (Gegenwart von Eismassen die
Temperatur der belagerten Küste erniedrigen muss. Daraus ergiebt
Peschel, Abhandlungen. II. lO
lAß Zur Geschichte der Geographie.
sich, wie wichtig für die atlantische Welt die Functionen der ark-
tischen Inselwelt sind. Sie bildet gleichsam ein Netz zum Auf-
fangen und Festhalten der Eisbänke. Wären diese Inseln nicht
vorhanden, so würde nach dem Aufbrechen das arktische Eis
durch die Davisstrasse den atlantischen Ocean erreichen und dort
auf Kosten unserer Temperatur eingeschmolzen
werden. Der grösste Feind des arktischen Eises sind aber die
gewaltigen mechanischen Kräfte, welche das Meer bewegen; die
Strömungen sowohl wie die Flutherscheinungen. Die Fluth bricht
immer wieder die Eisdecke entzwei und die Strömungen entführen
beständig wieder Eis an mildere Ufer. Dieser Kampf dauert oft
länger als einen Monat, bis endlich das Eis zum Stehen kommt
und der wahre arktische Winter anbricht.
Von Cap Bathurst verfolgte Mac Clure den Nordrand Ame-
rika's immer gegen Osten bis zu Cap Parry, welches am 6. Sep-
tember erreicht wurde. An diesem Tage hellte sich das Wetter
auf und gegen Nordosten kam eine gebirgige Küste zum Vorschein,
die sich noch nicht auf den Karten fand. Nach diesem neuen
Lande fuhr man über und behielt seine mit Vegetation geschmückte
Küste zur Linken. Man ahnte noch nicht, dass es das Banksland
sei, dessen Nordküste Parry schon 1819 gesehen hatte. Die Ost-
küste dieser Insel, an der man jetzt sich bewegte, hatte eine
ausserordentlich günstige Richtung, nämlich gegen Nordost. Im
Nordosten aber lag, wie man wusste, der Melvillesund (Barrow-
strasse) und die Melvilleinsel. Zur grossen Bestürzung der See-
fahrer kam aber am 9. September auch zur Rechten Land zum
Vorschein und man befürchtete jetzt, dass die beiden Küsten
endlich zu einem Golf sich zusammenschliessen würden. Sie
näherten sich aber nur zu einem Spalt, dessen Achse gegen Nordost,
also in verl^eissungsvoller Richtung, lief. Allein die Jahreszeit war
zu weit vorgerückt. Am 11. September änderte sich das Wetter.
Es fiel Schnee und Nordwinde verwehrten das Vordringen. Am
15. September hatte man wieder Südwind, das Eis in der von
Mac Clure getauften Prince of Walesstrasse trieb wieder dem
Melvillesunde zu und am 17. wurde der höchste nördliche Punkt
(73° 10') erreicht. Das Schiff fror jetzt mitten zwischen den Eis-
bänken der „nordwestlichen Durchfahrt" ein und es verstrichen
ein paar ängstliche Wochen, wo das Schiff hülflos auf dem Eis-
felde von Ebbe und Fluth hin- und hergetragen wurde, bis die
Die gros^^en Entdeckungen in den Jahren 1S49— 1856. ja-j
Strasse völlig erstarrte. Gegen Ende October brach Mac Clure
zu einer arktischen Schlittenfahrt auf. Diese Art der Verkehrs-
mittel ist in der Zeit der Franklinsucher zu einer staunenswerthen
Vollkommenheit ausgebildet worden. Ausserordentliche Leistungen
hat man namentlich durch Schlitten mit Hundegespann erzielt,
allein die meisten der arktischen Reisenden besassen solche Thiere
nicht, sondern der Schlitten diente nur als Transportmittel für die
Mundvorräthe und andere Reisebedürfnisse, Die eigentliche Jahres-
zeit für Schhttenexpeditionen ist der spätere März oder Anfang
April, weil sie gewöhnlich im Mai oder Anfang Juni ihr Ende
nehmen müssen, denn wenn auch um diese Zeit die Eisdecke noch
fest steht, so drückt doch an vielen Stellen der Schnee die Schollen
unter Wasser und es zeigen sich dann grosse Lachen und Seen
über dem Eise. Im Herbst werden gewöhnhch nur Excursionen
gemacht, um für die künftige Frühlingsreise Magazine zu bauen
und diese mit Lebensmitteln zu füllen, damit die arktischen Aben-
teurer auf diese Punkte sich zurückzuziehen vermögen, und auf
ihrem Rückweg überall Vorräthe finden. Eine Schlittenexpedition
besteht gewöhnlich aus mehreren Fahrzeugen, von denen immer
eines nach dem andern umkehrt, so bald seine Lebensmittel-
vorräthe zu Ende gehen. Der letzte Schlitten, der bisher von den
Vorräthen der früher umgekehrten gezehrt und seine Lebensmittel
unangetastet bewahrt hat, ist dann derjentge, welcher am weitesten
vordringt.
Mac Clure's Schlittenfahrt währte nur sehr kurze Zeit. Als
der Morgen des 26. Octobers anbrach, hatte der Entdecker einen
Berg von 500 Fuss am Nordrande des von ihm entdeckten Prince
Albertlandes erreicht, und unter ihm lag die erstarrte Fläche des
Melvillesundes oder der erweiterten Barrowstrasse. Die nord-
westUche Durchfahrt war gefunden, wenn auch der eigentliche
verbindende Meeresarm vom Eise verstopft worden war.
Der erste arktische Winter verstrich ziemlich günstig. Der
Scorbut tritt gewöhnlich erst dann ein, wenn das Schififsvolk den
Humor verliert. Jeder morahsche Druck beschleunigt und steigert
das Uebel. Diessmal aber hielt die Freude über die glänzende
Entdeckung und die Spannung auf die Thaten des nächsten
Sommers die Gemüther frisch. Erst zwischen dem 10. und 14.
Juli wurde das Schiff von der Eisbank erlöst , allein vergeblich
hoffte man auf ein Freiwerden der Durchfahrt nach dem Melville-
j,^ Zur Geschichte der Geographie.
sunde. Man näherte sich der Mündung bis auf sechs deutsche
Meilen, allein weiter vermochte man nicht vorzudringen, sondern
musste am i6. August 185 1 umkehren. Mac Clure ging die
Prince of Walesstrasse wieder gegen Süden, um zu versuchen, ob
er nicht auf der Westseite von Banksland in den Melvillesund
eindringen könnte. Die Fahrt dauerte vom 16. August bis
23. September. Der Investigator hielt sich dabei immer ganz
dicht an der Küste im Land w asser, welches, je weiter er vor-
drang, immer schmäler wurde. Unterwegs fürchtete er schon
zwischen Land und altem Eise einzufrieren, aber ein starker Wind
störte wieder die Eisbildung und der Investigator befreite sich
durch Sprengungen mit Pulver von einigen Eismassen, so dass er
endlich im Melvillesunde oder in der Barrowstrasse sich befand,
und sich jetzt von Nordwesten her der Mündung der Prince of
Walesstrasse näherte, so dass nur noch eine kleine Strecke an
der gänzlichen Umseglung von Banksland fehlte. Das Fahrwasser
glich an manchen Stellen einem wahren Hohlweg. Zur Linken
emporgeschobene Eiswände, zur Rechten eine steile Küste, und
zwischen beiden oft nur eine so schmale Kehle, dass die Segel-
stangen aufgerichtet werden mussten , damit sie nicht seitwärts
anstiessen. Am 23. September 185 1 wurde endlich die Gnaden-
bucht auf der Nordküste von Banksland erreicht, und dort liegt
wahrscheinlich noch heutigen Tages der Investigator eingefroren.
Der zweite arktische Winter wurde schon mit grösseren Be-
schwerden überstanden, doch war die Schiffsküche immer ergiebig
mit Wildpret versorgt, besonders nachdem die Uebung gute
Schützen bildete. Als aber die Jahreszeit 1852 verstrich und man
nicht aus dem Eise der Gnadenbucht erlöst wurde, gestaltete sich
die Lage des Schiffsvolkes bedenkhch und der Scorbut trat ge-
fährlich auf. Man rüstete bereits zu einer Expedition im Frühling
1853, um auf Schlitten in zwei Abtheilungen die Mannschaft
theils nach dem Festlande, theils nach den Quartieren der atlan-
tischen Franklinsucher im Osten der arktischen Inseln zu schicken.
Sie wären sicherlich auf dieser Fahrt umgekommen, wie Sir John
Franklins Gefährten, da, selbst wenn sie das Festland erreicht
hätten, sie dort in die Hände diebischer Eskimo's gefallen wären,
die sie mindestens ausgeplündert haben würden , wenn sie nicht
stark genug gewesen wären, um Gewalt zu brauchen. Glücklicher-
weise sollte die Rettung von einer andern Seite kommen. Mac
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. 14g
Clure hatte bei den Schlittenfahrten im FrühUng 1852 die Mel-
villeinsel besucht und dort an einem kenntlichen Sandsteinblock
des Winterhafens, den Parry mit einer Inschrift ausgezeichnet hat,
eine Depesche über seine Entdeckung und die Lage von Schiff" und
Schiffsvolk hinterlassen. Er selbst fand dort nur eine schrifthche
Anzeige einer Schlittenpartie, Avelche von den atlantischen Franklin-
suchern bis zu jenem Punkte vorgedrungen war. Mac Clure hatte
gehofft, auf der Melvilleinsel überwinternde Franklinsucher anzu-
treffen. Jetzt schien es, als sei er allein von Eis umringt in dieser
starren Oede, und als habe die Heldenschaar der arktischen See-
fahrer den Kampf gegen die winterliche See aufgegeben. Allein
in der grössten Nähe des Sandsteinblockes der Melvilleinsel hatten
im Herbst 1852 zwei Schiffe des Geschwaders unter Sir Edward
Belcher Anker geworfen, und ihre Schlittenexpeditionen fanden
Mac Clure's Depesche bei dem Parrydenkmal. Sobald daher der
Frühhng kam', wurde von dem Geschwader bei der Melvilleinsel
ein Schlitten quer über den Melvillesund geschickt, um dem
„Investigator", d. h. der Mannschaft des so benannten Schiffes
Nachricht von der Nähe des Geschwaders zu geben. Der Ueber-
bringer der rettenden Kunde, Lieutenant Pim, vormals auf dem
Herald, war dem Schlitten vorausgeeilt, als er des Takelwerks des
Investigators ansichtig wurde, und stiess auf Mac Clure, der sich
ausserhalb des Schiffes befand. Pim hatte sich das Gesicht mit
schwarzer Farbe bestrichen, ein Schutzmittel gegen Kälte , dessen
Gebrauch man von den Eskimo's gelernt hatte, und er glich, völlig
in Pelze eingehüllt, eher einem Wilden als einem Europäer. Der
Retter kam in einem kritischen Augenblicke, denn am Tage vorher
hatte man den ersten Kameraden beerdigen müssen , und die
Stimmung war äusserst gedrückt. Bei der Grabrede des Matrosen
hatte Mac Clure zur Ermuthigung seiner Mannschaft auf eine
Wolke mit einem Silbersaume gedeutet, welche den arktischen
Himmel verhüllte. Prophetisch setzte er hinzu, dass jede Wolke
mit solchem Glanz endige, und auch der Wolke des Unglücks,
die über dem Investigator schwebe, der Silbersaum nicht fehlen
werde. Als daher am andern Tage der Rettungsschlitten des Re-
solute erschien, sagte er seiner Mannschaft: „Habe ich es nicht
gesagt, dass jede Wolke mit glänzendem Saume endige?" Die
Entdecker der beiden nordwestlichen Durchfahrten, nämlich der
Prince of Walesstrasse und des Weges nach der Banksstrasse
ICQ Zur Geschichte der Geographie.
(zwischen Banksland und Melvilleinsel) , gingen nun über den
erstarrten Melvillesund zu den Ueberwinterungsplätzen der atlan-
tischen Franklinsucher, und kehrten mit diesen nach Europa zurück.
Es giebt wahrscheinlich noch eine dritte Durchfahrt östlich
von der Prince of Walesstrasse zwischen Prince Albert oder Vic-
torialand und Boothia FeHx. Man kann nämlich von der Barrow-
strasse durch den Peelsund die Halbinsel Boothia erreichen, während
ein pacifischer Franklinsucher von Osten her die Victoriastrasse
entdeckte, welche Victorialand von Boothia trennt und sich wahr-
scheinlich bis zum Peelsund verlängert. Es geschah diess auf der
Fahrt des verdienstvollen, leider aber sehr unglücklichen Capitän
Colhnson, unter dessen Befehl Mac Clure bei der Abfahrt gestan-
den war. Collinson hatte mit der Entreprise nur wenige Tage
später als Mac Clure die Behringsstrasse passirt, aber dieser Zeit-
verlust vereitelte seine Fahrt. Er befand sich am 1 1 . August erst
bei der Barrowspitze und das Packeis verwehrte ihm jedes Vor-
dringen gegen Westen, so dass er umkehren und die Saison als
verloren aufgeben musste. Erst im nächsten Sommer 1851 gelang
es der Entreprise zeitig auf dem Theater ihrer nautischen Aufgabe
zu erscheinen und Cap Bathurst am 26. August zu erreichen.
Mac Clure hatte um diese Zeit bereits die Prince of Walesstrasse
verlassen und befand sich auf seiner Küstenfahrt um Banksland.
Beide Schiffe also kamen in grosser Nähe an einander vorüber,
ohne sich zu sehen. Collinson entdeckte jetzt, wie Mac Clure,
Banksland, die berühmte Prince of Walesstrasse und fand überall
Zeichen, dass sein kühner Vorgänger schon dort gewesen war.
Die Entreprise ging jetzt die Prince of Walesstrasse hinauf, wo sie
bis 73° 30', also bis dicht an die Mündimg am 30. August vor-
drang. Ein Jahr vorher an demselben Tage war Mac Clure noch
bei Cap Bathurst gewesen und es schien damals, dass, wenn er
nur zwei Tage früher eingetroffen wäre, er vielleicht die Durch-
fahrt offen gefunden hätte. Allein Collinson, der eine volle Woche
diessmal voraus hatte, musste ebenfalls umkehren, denn er fand die
Strasse wie Mac Clure durch Eisbänke geschlossen.
Dieser einfache Thatbestand entscheidet über den praktischen
Werth der Entdeckung. Die Mündung des engen Sundes ist den
Nord- und Nordostwinden ausgesetzt, welche Eisbänke vom Nor-
den her vor die Strasse treiben, so dass sie wahrscheinlich höchst
selten, bei anhaltenden Südwinden und dann nur auf kurze Zeit
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — ^856. j ej
frei wird. Eben so unbrauchbar ist der zweite Weg durch die
Banksstrasse. Der Investigator gelangte dort wohl bis an die
Schwelle des Melvillesundes, aber dort bHeb er zwischen der Eis-
decke und dem Lande eingeklemmt drei Jahre lang und liegt
wahrscheinhch noch dort. Dass bisweilen offenes Wasser sich im
Melvillesunde findet, kann sicher behauptet werden, denn auf den
Inseln im Norden des Melvillesundes fanden Franklinsucher Treib-
holz, welches vom Mackenziestrome aus dem Innern Nordameri-
ka's entführt worden war. Auch hat man Wallfische in der Nähe
der Behringsstrasse erlegt , in deren Leib man Geschosse fand,
die ihren Marken nach Schiffen angehörten, welcke kurz zuvor in
den atlantischen Theilen des arktischen Meeres gekreuzt hatten.
Die angeschossenen Thiere mussten daher längst eine nordwest.
liehe Durchfahrt gekannt haben, da der Wallfisch nie den Aequa-
tor kreuzt und die borealischen mit den australischen Wallfischen,
obgleich von derselben Art, keinen Verkehr besitzen. Es bleibt
demnach denkbar, dass ein Schiff jene Wasserverbindung der
beiden Oceane vielleicht einmal benutzen könne. Eine Reihen-
folge heisser arktischer Sommer, verbunden mit günstigen Winden,
welche die Entfernung grosser Eismassen begünstigen, könnte die
grossen Wasserstrassen der arktische^i Welt eine Zeitlang völlig
öfifnen. Da bereits die Wallfischfänger jenseits der Behringsstrasse
zu jagen pflegen, so könnte man sich denken, dass ein solches
Fahrzeug, welches an der Nordküste Amerika's überwintert hatte,
frühzeitig in den Gewässern erschiene, um die günstige Conjunctur
zu einer Fahrt nach dem atlantischen Meere zu benutzen. Eine
solche Gelegenheit wird sich, nach allen Erfahrungen, höchstens
zwei oder dreimal in einem Jahrhundert ereignen. Ausserdem
aber wird, selbst in sehr günstigen Fällen, der arktische Seefahrer,
welcher die Durchfahrt benutzen wollte, ein oder zweimal einwin-
tern müssen, ehe er von der Behringsstrasse das atlantische Meer,
oder umgekehrt die Behringsstrasse erreichen könnte. Eine solche
Fahrt ist aber für ein einzelnes Schiff mit solchen Gefahren
verbunden , dass von zehn Versuchen wahrscheinlich neun einen
düstern Verlauf nehmen würden. Die Franklinsucher haben frei-
lich weit kühnere Thaten ausgeführt, als Mac Clure's Fahrt ge-
wesen ist, allein man vergesse nie, dass diese grossen Entdeckun-
gen durch ganze Flotten ausgeführt wurden, deren einzelne Schiffe,
staffelartig aufgestellt, sich die Hände reichten, vom atlantischen
IC 2 Zur Geschichte der Geographie.
Meer aus beim Eintritt der Saison aus dem Mutterland wieder
Succurs erhielten, und dass für diese Expeditionen, wenn man
einrechnet, was die Amerikaner beitrugen, mehr als 20 Millionen
Gulden ausgegeben wurden. Die arktische Welt wird also wahr-
scheinlich völlig in ihre Einsamkeit zurückkehren, sobald der
Cyklus der Franklinfahrten geschlossen sein wird. Es war ein
kurzer vergänglicher Zeitraum , wo die stille Grossartigkeit der
arktischen Natur durch die Anwesenheit unserer Civilisation unter-
brochen wurde, wo sich in grauenhafter Oede Menschen und
Menschen begegneten, wo — ein einziges mal — bei der Rettung
des Investigators von Ost und West her europäische Seefahrer
sich die Hände reichten. So hegt es nahe, das Wort auszu-
sprechen, dass die Entdeckung der nordwestlichen Durchfahrt
niemals einen nautischen und mercantilen, also auch keinen civi-
lisatorischen Werth erlangen kann.
Allein der Mensch ist ein kurzsichtiges AVesen :
Wo so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht,
Stellt es sich gleich das Ende vor.
Man sollte daher sich gewarnt sein lassen, das Wörtchen Nie-
mals niemals auszusprechen, denn es hat nur Kraft und Sinn
auf übermenschlichen Eippen. Wir wissen nicht , welche Mittel
der Ortsbewegung ein künftiges Jahrhundert besitzen wird. Ein
Schiff wie der Great - Eastern würde sich allein in die arktische
See wagen können, und seine Kraft ist so ungeheuer, dass der
eiserne Koloss leicht grosse Eisbänke spalten oder vor sich her-
treiben könnte. Zwar ist der Unhold an dem Tage, wo wir
schreiben, noch nicht flott, allein gewiss ist sein Register von
28,000 Tonnen nicht das letzte Wort des modernen Schififsbaues.
Die Wallfischjäger haben bisher von allen arktischen Entdeckun-
gen Nutzen gezogen, sie erscheinen jetzt schon im Lancastersund
und in der Nähe der Barrowstrasse , und man weiss nicht, wie
weit sie ihr Handwerk noch treiben wird.
Nach allen Beschreibungen ist die Polarwelt arm an irdischen
Gütern. In den zahlreichen artkischen Beschreibungen wird nicht
Eines Productes erwähnt, welches denkbarer Weise die Nachstel-
lungen der Menschen belohnen und sie für das Wagniss und den
Aufwand von Polarreisen entschädigen könnte. Allein auch hier
dürfen wir von einem Niemals nicht reden. Die Erfindungen
unseres Jahrhunders folgen sich so rasch, dass Steine sich über
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849- -1856. le?
Nacht in Gold verwandeln. Wir erinnern hier nur daran, wie vor
ganz kurzer Zeit noch die Guanoinseln völHg werthlos waren und
jetzt zu baarem Gelde geworden si«d. So kann es leicht ge-
schehen, dass man in etlichen Jahren schon mineralischen Dün-
gungsniitteln nachspürt, und dass diese vielleicht sich gerade in
besonders günstigem Zustande in irgend einem vernachlässigten
Erdenwinkel finden. Die Entdeckung vervollkommneter Darstel-
lungsarten eines edlen Metalles, de^ Aluminium, hat dem Kriolith.
von dem sich grosse Quantitäten nur in Grönland finden , plötz-
lich einen Handelswerth gegeben. So ist die neuere Wissenschaft
und der Forschungstrieb des Menschen immer darauf gerichtet,
dem Vernachlässigten und Unscheinbaren zu Rang und hohen
Functionen in der menschlichen Gesellschaft zu verhelfen, und
welche Schätze vermag nicht die arktische Welt einzuschliessen,
an denen man bisher mit blöder Verachtung vorüberging? Wenn
also die arktischen Entdeckungen niemals von mercantilem Nutzen
erklärt wurden, so soll man diese Aeusserung nur bedingungs-
weise gelten lassen, als ob damit gesagt wäre, dass vorläufig
keine praktische Bedeutung der Lösung des grossen Geheimnisses
beigemessen werden kann.
Unmittelbar an Mac Clure's interessante Fahrt schhessen sich
die wenig bekannten und mit Unrecht verdunkelten Entdeckungen
von Sir Edward Belchers Geschwader, welches die Schiftsmann-
schaft des Investigators rettete. Fünf Schiffe : Assistance, Pioneer
l^Dampfer), Resolute, Intrepid (Dampfer) und North Star bildeten
diese Flotte und liefen im Jahre 1852 nach den arktischen Ge-
wässern aus. Ein einziges davon kehrte wieder zurück, denn vier
Schifte Hess man eingefroren im Polarmeere, wesshalb Sir Edward
und seine Officiere bei ihrer Rückkehr vor ein Kriegsgericht ge-
stellt wurden, Diess ist die Ursache, wesshalb man über die Thaten
dieser Seefahrer so wenig erfahren hat, denn das Preisgeben von
Schiften wird, wenn auch meist mit Unrecht, dem nautischen
Ruhme als nachtheilig angesehen. Sir Edward Belcher erreichte
am 21. August 1851 die Beecheyinsel, wo Franklin 1845 — 1846
überwintert hatte und wo der North Star zurückblieb. Die andern
Schiffe theilten sich. Zwei davon, Resolute und Intrepid, drangen
durch die Barrowstrasse zur Melvilleinsel, damals noch das West-
ende der arktischen Welt, vor und wählten dort die Dealyinsel
zum Ueberwintern, ein wenig östlich von Parry's berühmtem
154
Zur Geschichte der Geographie.
Winterhafen. Die beiden andern Fahrzeuge unter Sir Edward
Belcher und Osborn gingen von der Beecheyinsel gegen Norden
den Wellington canal hinauf. Die Franklinsucher des vorigen
Jahres hatten nämlich die Küsten im Norden der grossen arktischen
Querstrasse , welche wir von West nach Ost Banksstrasse , Mel-
villesund, Barrowstrasse, Lancastersimd nennen, durchsucht und
waren dort überall auf neue nach Norden führende Ausgänge
gestossen, oder mit andern Worten, die Nordküsten der grossen
Querstrassen hatten sich zu Inseln aufgelöst. Zu gleicher Zeit
hatte man auch von der Baffinsbai eine neue Strasse gegen Nord-
westen, den Jonessund, entdeckt. Hinter den von Parry gesehenen
Küsten gegen Norden lag ein zweites Meer, zu dem es eben
so viele Zugänge gab, als Inseln zwischen ihm und der Barrow-
strasse lagen. Bis zu diesem Meere selbst war noch kein See-
fahrer vorgedrungen, allein die arktischen Entdecker brachten die
Nachricht mit, dass dieses Meer vergleichsweise offen scheine.
Verschiedene andere Umstände führten auf die Vermuthung, dass
im höchsten Norden sich nicht mehr Land , sondern ein Ocean
befinde, und dass dieses Wasser, wenn es Wasser war, nie vöUig
zufriere oder längere Zeit einen offenen Spiegel biete. Um nicht
aufmerksame Leser im voraus zu täuschen, müssen wir bemerken,
dass die Gegenwart eines solchen offenen, also auch warmen Po-
larmeeres noch nicht mit Sicherheit ermittelt worden ist, und dass
nur sehr viele Vermuthungen für die Gegenwart eines solchen
Meeres sprechen.
Einer der engen Sunde , welche aus der Barrowstrasse nach
Norden führen, heisst in seinen verschiedenen Theilen: Welling-
ton-, Königincanal, Pennystrasse. Dort gingen Belcher und Osborn
hinauf und suchten sich im Northumberlandsund einen Winter-
hafen. Dieser Sund ist eine durch Inseln geschützte Bucht (76°
45' nördUcher Breite, 99° westlicher Länge, Paris) des Grinnell-
landes, und Grinnellland eine grosse arktische Insel, welche durch
eine schmale Spalte vom Norddevonlande getrennt ist. Jener
Hafen wurde am 17. August 1852 erreicht, leider aber die Fahrt
gegen Norden mit den Schiffen nicht fortgesetzt, obgleich die
Jahreszeit noch sehr günstig war. Gegen Nord und Nordwest lag
Meer, und zwar das Polarmeer, was man aus den freien Bewe-
gungen von Ebbe und Fluth schliessen durfte. Aus imverantwort-
licher Aengstlichkeit Hess man die kostbaren Tage ungenützt ver-
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. jce
Streichen, obgleich die See gegen Norden frei war, und nur 24
Mann mit Schlittenbooten versuchten eine Excursion gegen Norden.
Sie befuhren mit diesen Fahrzeugen das Polarmeer im Norden
von Grinnellland , entdeckten dort ein paar kleine Inselchen und
eine grössere Insel, North Cornawall , die sich bis zum 78. Grad
nördlicher Breite zu erstrecken schien. Ausser dieser vereinzelten
Insel war gegen West und Ost, gegen Nordwest und Nordost
nur Meer zu erblicken. Die Fluth bewegte sich in diesem
Theile der See von Ost nach West, ein Beweis, dass diese Ge-
wässer mit dem Jonessunde und der Baffinsbai in Verbindung
standen. An der Nordküste von Grinnellland stiess man unter
77° nördlicher Breite auf Ruinen von Gebäuden, die
so regelmässig gemauert waren , dass man zweifelte , ob sie von
den heutigen Eskimo's herrührten. Die Vegetation war vergleichs-
weise üppig und bestand aus Gras, Moos und Sauerampfer, wäh-
rend die arktische Thierwelt sich zahlreich überall zeigte.
Im Frühling 1853 begannen von den beiden Winterstationen
aus die grossen Schlittenexpeditionen. Es ist hier nicht der Ort,
einen historischen Bericht über diese Unternehmungen zu liefern,
ihre Ergebnisse aber sind deutlich auf der Karte zu sehen , welche
die britische Admiralität nach diesen Reisen veröffentlichen konnte.
Es bestehen demnach die Länder im Norden der Barrowstrasse
und des Melvillesundes , der sogenannten nordwestlichen Durch-
fahrt, aus vier grösseren Inseln, nämlich (von Ost nach West) aus
dem Doppelpaar Northdevon und Grinnellland, Cornwallissinsel,
Melvilleinsel, Prinz Patrickinsel, heutigen Tages die Ultima Thule
der Polarwelt. Die Nordspitzen dieser Inseln nähern sich alle
beträchtlich dem 77. Grade nördlicher Breite, aber nur die Pa-
trickinsel überschreitet diesen Breitenkreis bedeutend bis über 37'.
Was die Küstenlinien auf der Karte betrifft, so gewähren sie nur
dort überall ein sicheres Bild, wo sich das Ufer hart am Meere
steil erhebt, während überall da, wo die Küste seicht verläuft,
die Grenze zwischen Land und Meer sich schwer oder gar nicht
unterscheiden lässt, weil über beide Schnee und Eis ein täuschen-
des Niveau augebreitet hatten. Eine dieser Expeditionen ging von
dem Ankerplatze im Northumberlandsunde an der Nordküste der
Cornwallisinsel und an der Sabinehalbinsel (Melvilleinsel) vorbei
nach der Station der andern beiden Schiffe und wieder zurück.
Von dieser letztern Station aus wurden zwei verschiedene Expe-
11-6 Zur Geschichte der Geographie.
ditionen nach der Patrickinsel gesendet, eine um die Nordspitze,
die andere um die Südspitze dieser Insel , so dass beide Expedi-
tionen die Westküste von Prinz Patrickinsel erreichten , und sich bis
auf einen sehr geringen Zwischenraum näherten. Eine dieser
Schlittenreisen unter Commander Richards dauerte 94 Tage und
die von ihm zurückgelegte Strecke betrug 808 nautische Meilen,
während Osborn seine Schlittenreise auf 1208 Meilen berechnet,
so dass alle früheren Leistungen dieser Art durch diese beiden
verdunkelt wurden. Wir beschränken uns hier auf die merkwür-
digsten Beobachtungen dieser Reisen, welche völlig ohne
den geringsten Unfall abliefen. So fand Sir Edward
Belcher, welcher ostwärts vorgedrungen war, dass GrinnelUand
durch eine enge Strasse (Arthursund) von dem geschwisterlichen
Northdevon getrennt werde Als er an der Nordküste (76° 27'
nördhcher Breite) den 92. Grad westlicher Länge (Paris) erreichte,
sah er am 20. Mai 1853 ein offenes Meer gegen Osten,
welches mit dem Jonessund im Zusammenhang gedacht werden
musste. Diese Entdeckung erhält ihre Bedeutung erst, wenn man
sich erinnert, dass alle Seefahrer, die von der Behringsstrasse, also
von der asiatischen Seite her, in den arktischen Archipel vor-
dringen wollten, selbst im August, dem Culminationspunkte des
Polarsommers, noch unbewegliche Eismassen unter dem 72. oder
doch unter dem 73. Grad nördlicher Breite antrafen. In der
Pennystrasse und im Norden des Byam Martincanals wurden Spal-
tungen des Eises und aufsteigendes Wasser bereits im Mai wahr-
genommen. Die Buchten der Nordküsten waren aber mit Eis
erfüllt, welches deuthch ein hohes Alter verrieth, so dass man
annehmen kann, dass alle solche geschützte Golfe nie frei werden.
Ebenso bemerkte Lieutenant Mecham, welcher den grössten Theil
der Westküste von Patrickinsel untersuchte, dass das Packeis oder
die vergleichsweise dauernde Bedeckung des Oceans bis dicht an
die Küste heranreichte. Dort scheint daher alles in ewiger Er-
starrung zu liegen, wenn auch die Wirkung des Sommers und
mechanische Gewalten bisweilen Spalten und Wasserzungen für
kurze Zeit in der Eisdecke öffnen mögen. Sehr glücklich hat sich
unlängst H. W. Dove geäussert: ,,Wenn die nähere Untersuchung
der Gletscher gezeigt hat, dass die auf festem Grunde liegenden
Eismassen, welche für den ersten AnbUck das Bild einer impo-
santen Ruhe darstellen, doch in stetiger Bewegung begriffen sind,
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. iry
SO wird die Annahme gerechtfertigt erscheinen, dass feste Eisbar-
rieren auf dem Meere noch weniger die Bedingung einer absoluten
Ruhe in sich tragen." Nur ein einziges Zeichen von der Nähe
einer Polarsee wurde an der Westseite von Prinz Patrickinsel
beobachtet; der Himmel war nämlich gegen Norden und Westen
mit Gewölk beschwert , während im Osten der sogenannte Eis-
schimmer (Ice-blink) ihn erhellte. Die arktischen Seefahrer be-
haupten nämlich übereinstimmend, am Himmel selbst erkennen zu
können, ob die Luftschicht in gewissen Himmelsrichtungen auf
flüssigen oder erstarrten Oberflächen ruhe, und sie unterscheiden
daher einen E i s h i m m e 1 von einem Wasserhimmel. Die
Thierwelt schien in einzelnen Räumen völlig zu fehlen, sie war
wenigstens an den Nordküsten sehr spärlich vertreten. Dagegen
wurde an dem Westrande der Melvilleinsel eine Raupe- ge-
funden und später auch eine schwarze Spinne. 31 verschiedene
Arten von Vögeln wurden auf diesen Entdeckungsreisen angetroffen,
allein das nördliche Vordringen dieser Thiere erklärt sich leicht,
da sie, an keine Heimath gebunden, mit dem Winter wieder heim-
ziehen. Von vierfüssigen Arten gab es acht, den Eisbär, den
Wallfisch, den Seehund, den Eisfuchs, den Polarhasen, das Renn-
thier, den arktischen Maulwurf oder Lemming (Georychus lemmus)
und den Bisamstier. Das Vorkommen dieses Thieres ist ganz
besonders merkwürdig, denn Bos moschatus verlässt im Winter
den Archipel nicht. Auch wurde er in zahlreichen Heerden an
der Südwestspitze der Melvilleinsel angetroffen , wo diese Thiere
vor den erstaunten arktischen Wanderern sich zu Geschwadern
ordneten und mit den Hörnern gegen den Feind gekehrt, förm-
Hche Bewegungen wie Schwadronen ausführten. Eines dieser
Stücke lieferte 150 Pfund Fleisch und in einer Entfernung von
zwei deutschen Meilen wurden »nicht weniger als 150 Stück ge-
sehen und gezählt. Aus diesem Reichthum von Thieren darf
man auf eine vergleichsweise üppige Vegetation unter höheren
Breiten als 75° schliessen. Dort würden sich natürlich auch
Menschen zu ernähren vermögen, und wenn Sir John Franklin in
ein solches arktisches Paradies gerathen wäre, so hätte er Jahre
lang sein Leben zu fristen vermocht. Auf manchen Schiffen der
arktischen Seefahrer gab es fünf Tage in der Woche frisches Wild-
pret, so ergiebig war die Jagd, obgleich die Seeleute meist zum
erstenmale sich in dem edlen Waidwerke versuchten und gewöhn-
ic8 Zur Geschichte der Geographie.
lieh nur sehr wenige bis zu einer gewissen GeschickHchkeit ge-
langten. So steht denn der Ausdruck Kane's fest, dass, soweit
unsere Kenntnisse reichen, wir in der arktischen Welt keinen
Punkt zu bezeichnen vermögen, von dem aus auf lo deutsche
Meilen im Radius es nicht ausreichende menschliche Nahrung
gäbe. Erinnern wir noch einmal daran, dass unter 77° nördlicher
Breite am Grinnellland Bauten steinerner Häuser angetroffen wur-
den. Die menschliche Natur besitzt eine solche Fähigkeit, fremd-
artigen Klimaten sich anzubequemen, dass zuletzt auch die Frank-
linsucher sich an die niedrigen Temperaturen gewöhnten. Die Leute
unter Sir Edward Belcher versichern uns , dass sie bei 2 ° R.
Wärme sich ermattet fühlten, wie in der Heimath bei schweren
Gewittern, und als Kane mit seinen Begleitern die ersten europäi-
schen Wohnungen nach einer Fahrt von etlichen Wochen in offe-
nem Boote erreichte, vermochten sie nicht mehr die Stubenluft
auszuhalten, sondern übernachteten im Freien.
Die letzte Fahrt dieses vortrefflichen Mannes, welcher im
Jahre 1857 in Habana starb, bildet den glanzvollen Abschluss der
grossen Epoche der Franklinsucher. Der Schauplatz seiner Thaten
lag sehr fern von dem Ort der Katastrophe des Erebus und Ter-
ror , wie es überhaupt das Verhängniss dieser grossartigen Unter-
nehmungen sein sollte, die arktische Welt durch und durch zu
erforschen und nur die schmalen Räume nicht, wo die nautischen
Seehelden umkamen, obgleich das ahnungsvolle Herz der Lady
I ranklin immer und immer richtig die Stelle bezeichnet hatte, wo
die wackern Seeleute ihren Untergang fanden. Dr. Elisha Kent
Kane verliess mit der Brigg Advance und 17 , später 19 Mann,
Newyork am 30. Mai 1853. Er ging die Baffinsbay hinauf und
hielt sich beständig an der Westküste Grönlands. Dass die Baf-
finsbay nach Norden nicht verschlossen, nicht streng genommen
eine Bay, sondern ein See sei , wusste man seit Capitän Ingl^fields
Fahrt im Jahre 1852, welcher am 27. August 78° 30' nördl. Br.
erreichte und sich damals zwischen dem arktischen Gibraltar Cap
Alexander (Grönland) und Cap Isabella (Grinnellland) befand.
Er entdeckte also, dass die Baffinssee durch den Smithsund nach
Norden mit noch unbekannten Meeren in Verbindung stehe, und
fand damals ein völlig eisfreies Wasser, welches dem Vordringen
nach dem Pol keine Gränze zu setzen schien. Minder begünstigt
war Kane im folgenden Jahre. Auch er drang zwar durch die
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1S49 — 1856. jeg
„Herkulessäulen des Polarmeeres", allein im Norden der Smith-
strasse begann sogleich der Kampf mit Eisflächen und Eisbergen
— ein Kampf auf Leben und Tod.
Die Eisberge sind meistens die Kinder Grönlands oder wenig-
stens der grönländischen Seestrassen. Die Eisberge bestehen nicht
aus gefrornem Meerwasser, sondern sind süsse meteorologische
Producte. Ihre blaue Farbe unterscheidet sie von andern Eisbil-
dungen, jedenfalls sind sie die SprössHnge des festen Landes. Die
Westküste Grönlands unter jenen Breiten fällt in einer steilen Stufe
oft senkrecht in die See, und die Höhe dieser Wände wird durch-
schnittlich auf 7 — 900 Fuss angegeben. Von dem Innern Grön-
lands kennt man nur sehr wenig, aus dem wenigen aber hat
Kane geschlossen , dass die Insel oder der kleine Continent von
Grönland bedeckt sei mit Gletschern , ein einziges , zusammen-
hängendes Mer de glace, welches überall da, wo Spalten am
Rande der Küste es erlauben, seine erstarrten Katarakten zum
Meere herabsendet. Die Gletscher gehören daher zu den gewöhn-
lichen Erscheinungen an der Westküste dieses Landes. Weiter
gegen Norden ist sogar ein einziger mächtiger Gletscher, der jetzt
weltbekannte Humboldtgletscher, über einen seichten Sund von
Insel zu Insel , von Grönland nach Washingtonland gewachsen.
So wenigstens schildert Kane selbst die Erscheinung, doch bedarf
es der Vorsicht vor der Verführung seiner dichterischen Prosa.
Die Küste von Grönland beginnt nämlich von 78*^ 30' bis 79^
5' nach Ostnordost zurückzuweichen und verschwindet endlich
völlig vor den aus dem Innern herausquellenden Eismassen des
Humboldtgletschers, dessen senkrechte Wände sich 15 Meilen nach
Norden ziehen , wo der Fuss des Gletschers auf dem niedrigen
Saume einer gegen Westnordwest strebenden Küste ruht, welche
Kane das Washingtonland nennt. Ob dieses Land eine Insel sei
oder mit Grönland zusammenhänge , ist nicht ermittelt worden,
ob der Humboldtgletscher also wie eine Krystallbrücke das
Washingtonland an Grönland befestige, oder ob er nur den Golf
einer und derselben Küste ausfülle, soll erst noch untersucht
werden.
Der Gletscher selbst gewährt das Bild einer nur scheinbaren
Erstarrung. Das ganze Jahr über brechen aus seinen Spalten
Quellen hervor und er selbst ist in geheimnissvoller Thätigkeit
begriffen. Er stösst beständig grosse Stücke Eises von sich hin-
j^O Zur Geschichte der Geographie.
weg, die, man erfährt nicht genau, wie? in das Meer zu seinem
Fusse rücken und dort auf der Eisfläche zu Hunderten zerstreut
liegen. Diese Eisberge sind 150 und bisweilen sogar 300 Fuss
hoch und bieten je nach ihrem Alter und ihrer Lage wunderliche
Formen: bald Würfel, bald Pyramiden, bald Kegel, bald aber
auch, wenn sie vom Thau an ihrem Fusse beleckt worden sind,
schirm- oder pilzartige Gestalten, bis endlich der Eispfeiler sein
Dach oder seine Tafel nicht mehr zu tragen vermag und diese
zusammenbricht. Solche Eisberge gelangen von den Gletschern
auf ihrer Wanderschaft allmählich in die offene See und werden
von den Strömungen bis ins atlantische Meer getragen, wo sie
sogar die Linie der britisch-amerikanischen Postschiffe kreuzen.
Als die Brigg Advance die arktischen Herkulessäulen hinter
sich hatte, riethen die Officiere zur Umkehr, allein Kane setzte
seine Fahrt im Treibeis gegen Norden fort, während hinter ihm
die Strasse zufror, so dass jetzt das Schiff an der Küste Grönlands
wie in einem Käfig sass, den nur ein milder Sommer wieder
öffnen konnte. Allein im Jahre 1854 blieb die Smithstrasse ge-
schlossen und ebenso im Jahre 1855. Nach zwei furchtbaren
arktischen Wintern, welche die Seefahrer zuletzt nöthigten, Theile
ihrer Brigg zu verbrennen , um sich ein warmes Obdach zu ver-
schaffen, bheb Kane und seinen Begleitern nichts übrig, als die
Advance dort zu verlassen, wo sie im August 1853 eingefroren
und seitdem nicht wieder erlöst worden war, nämlich in der Rens-
selaer Bay 78° 38' nördl. Br. an der Westküste Grönlands. Es
wurden drei Boote auf Schlitten gesetzt und im Frühjahr 1855
über die Eisfelder der Smithstrasse geschoben, bis man das offene
Wasser der Baffinssee und die nördlichste dänische Niederlassung
in Grönland erreichte, wo ein von den Vereinigten Staaten aus-
gerüsteter Rettungsdampfer bald nachher die Heimkehrenden auf-
nahm. Die Erlebnisse dieser abenteuerlichen Fahrt bilden zwei
stattliche Bände einer spannenden Erzählung voll von ,,haarbrei-
ten" Rettungen, wie die Engländer sich ausdrücken. Der gefähr-
lichste Feind aber bUeb immer der Scorbut, der am hartnäckig-
sten in den Monaten Januar, Februar und März auftrat, bis die
Jagd wieder eröffnet werden und mit den frischen Nahrungsmitteln
den Patienten geholfen werden konnte.
Die merkwürdigste Entdeckung der Reise bleibt jedoch immer
die Gegenwart von Menschen mitten in dieser arktischen Oede.
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1S56. jöj
Frühzeitig im ersten Winter wurde die Brigg von Eskimos besucht,
deren Ortschaften ein wenig landeinwärts von der Rensselaer
Bucht lagen. Hier zeigt sich die volle Elasticität der menschlichen
Natur, welche selbst dem härtesten Klima zu widerstehen vermag.
Die durchschnittliche jährliche Temperatur jener Küstenstelle ist
— 15. 65° R., des kältesten Monats (März) — 30. 23°, des
wärmsten (Juli) 2, 84°; allein Kane versichert uns, dass an ge-
schützten Stellen der Process des Frierens das ganze
Jahr über währt. Es ist also natürlich, dass es dort nur eine
kümmerliche und zarte Vegetation geben kann. Was Holz und
was Bäume sind, wissen die Eskimos nicht, sie sahen diese Dinge
zum erstenmal, als die Advance erschien. Ihre Hütten richten sie
aus S'teinen auf, deren Ritzen mit Moos verschlossen werden.
Den Eingang zu diesem Bienenkorb bildet ein langer Tunnel,
durch den man kriechen muss, und welcher den Zutritt der Kälte
gut verhindert. In den Hütten entsteht durch Fettlampen und die
eigene Wärmeentleerung der Bewohner bald eine solche Tempe-
ratur, dass sich die Eskimos ihrer Bärenpelze entledigen und völHg
nackt, wie die Würmer und wie diese zusammengepackt, ihre
häuslichen Stunden zubringen. Nahrung gewinnt dieses merk-
würdige Volk nur durch die Jagd. Hauptsächlich ist es das Wall-
ross, auf dessen Gegenwart die Existenz menschlicher Gesell-
schaften unter jenen Breiten beruht. Das Wallross ist das ganze
Jahr über jagdbar mit Ausnahme der drei Wintermonate vom
Januar bis ]\Iärz. Es wird k> den übrigen Monaten mit Harpunen
gejagt, wobei die Jäger gewöhnlich ihr Leben auf das Spiel setzen,
weil das verwundete Thier die Eisdecke zu zertrümmern sucht,
auf welcher sich seine Verfolger ihm genähert haben. Die Eski-
mos wären die glücklichsten Menschen, wenn sie ein wenig Oeko-
nomie besässen. Mit arktischem Hunger aber wird gewöhnlich
die Jagdbeute rasch aufgezehrt, die Vorräthe gehen zur Neige,
ehe die Jagdzeit wieder beginnt, und das Ende des Winters endigt
beinahe regelmässig mit einer Hungersnoth, wenn nicht die Bären-
jagd einige Aushülfe gewährt. Der Eskimo greift dieses Thier
beherzt an, wenn er sich auch ganz allein befindet. Seine Waffe
ist ein Speer, sein Gehülfe aber der Hund. Sobald sich die
Bestie zum Angriff aufrichtet, bohrt ihm der Jäger seine Waffe in
die Brust, doch sind natürlich Katastrophen dabei sehr häufig.
Im Sommer giebt es Nahrung in Menge, besonders wenn die Vögel
Peschel, Abhandlungen. II. 1 1
l52 Zur Geschichte der Geographie.
erscheinen. Buben, mit Schmetterlingsnetzen bewaffnet, klettern
an steile Felsenwände, wo Wolken kleiner Meerschwalben umher
schwärmen und wo ein Kind in kurzer Zeit Hunderte solcher
Thiere mit seinem Netze zu fangen vermag. Alle Geräthe, selbst
die Schlitten dieser Leute, sind aus Thierknochen verfertigt, die
ineinander gefügt und zusammengebunden alle begehrten Dienste
leisten. Das Eisen freilich gelangt nur durch den Handel mit
südlichen Völkern in den Besitz dieser Stämme, deren grösster
Reichthum in der Anzahl ihrer Hunde besteht, die, zum Ziehen
und Jagen abgerichtet, ihnen unersetzliche Dienste leisten, bei
eintretender Hungersnoth aber gewöhnlich geschlachtet werden
müssen.
Dieses nämliche merkwürdige Menschengeschlecht ist niclat
bloss in der Rensselaerbucht, sondern noch höher unter 8i° nördl.
Br. neun Grad vom Nordpol angetroffen worden, wenigstens fand
man dort das Bruchstück eines ihrer Schlitten. Diess geschah auf
der äusserst merkwürdigen Expedition im Juni 1854, welche den
Entdeckungen des Dr. Kane so ungewöhnlichen Werth verliehen
hat. Zwar konnte das Oberhaupt selbst diese Schlittenreise nicht
ausführen, da seine Gesundheit noch zu geschwächt war, sondern
musste die Aufgabe William Morton, einem Matrosen, übertragen,
allein die Zuverlässigkeit dieses Mannes hatte Kane auf seiner
ersten Franklinfahrt erprobt, und Morton besass nicht nur einige
nautische Fertigkeiten, so dass er mit Hülfe des Compass und des
Sextanten eine Karte des zurückgelegten Weges anfertigen konnte,
sondern er hat auch über seine Erlebnisse einen so klaren Bericht
abgefasst, dass wir Alles, w-as er beobachtet hat, so sicher glauben
dürfen, als hätte Kane es selbst gesehen. Morton hatte einen
einzigen Begleiter , den christlichen Eskimo Hans . den man in
Dänischgrönland für die Entdeckungsfahrt angeworben hatte, der
aber nicht mit Kane zurückkehrte, sondern kurz vor dem Rückzug
der Schiffsmannschaft verschwand, eine Desertion, die Kane durch
eine Liebschaft unter 79° nördl. Br. zu entschuldigen sucht. Diese
beiden Männer gingen mit einem Hundeschlitten nach Norden
hinauf. Sie hatten zu beiden Seiten Küste, rechts Grönland in
einer Entfernung von 12, links eine arktische Insel GrinnelUand ')
in einer Entfernung von 40 englischen Meilen. Am sauersten
[) Nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Insel im Wellingtonkanal.
Die grosssen Entdeckungen in den Jahien 1849 — 1856. 163
war die Reise vor dem Humboldtglelscher, wo eine grosse Stadt
von Eisbergen stand, durch deren schmale Gassen sie ihren Weg
suchen mussten, so dicht drängten sich die krystallenen Monu-
mente zusammen. Als sie wieder ins „Freie", das heisst aus dem
Labyrinth dieser Früchte des grossen Gletschers gelangten, fanden
sie zur Rechten eine neue Küste, das Washingtonland, welches
sich anfangs gegen Norden, dann gegen Nordost hinzog, aber
anfangs viel niedriger und offener war, als die Westküste des süd-
licheren Grönlands. Hier begannen aber sogleich meteorologische
Veränderungen unerwarteter Art sich einzustellen. Die Eisdecke
wurde trügerisch und offene Wasserstellen, welche von Federvieh
belebt wurden, kamen bald zum Vorschein. Man sah sich dess-
halb genöthigt, an der Küste die Reise fortzusetzen. Bald hatte
man eine blanke See zur Linken mit Fahrwasser für Schiffe jeder
Grösse, auf welcher sich dünne Eisschollen mit Ebbe und Fluth
gegen Nord und Süd bewegten. Die SchHttenreise erleichterte
ausserordentlich der sogenannte Eisfuss , das heisst ein mehrere
Fuss starker Eisrand dicht am Ufer im gleichen Niveau mit der
höchsten Fluth, welcher auch im Sommer Stand zu halten und
eine ^natürliche Chaussee zu bilden pflegt ; bald aber wurde auch
dieser mürbe, der Schlitten musste daher zurückbleiben und die
Wanderer am Ufer zu Fuss vorwärts dringen, bis endlich ein xov-
springendes Gap (Constitution) 81° 22' nördl. Br. ihren Schritten
ein Ziel setzte. Etwa 500 Fuss hoch gelang es Morton an der
Felswand hinaufzuklimmen, aber dreimal höher stiegen die Klip-
pen noch über ihm empor. Zwischen Nord und Nordnordost,
Avo die Aussicht endigte, war eine völlig freie See am 24.
Juni 1854, Den ganzen westlichen Horizont füllte die Küsten-
linie des mit blauen Bergketten geschmückten Grinnelllandes,
dessen fernster Kegel, Mount Edward Parry, zwischen 82 und
83° nördl. Breite liegen muss. Gegen Nordwesten lagerten
Regenwolken, eine Himmelserscheinung, die nicht beobachtet
worden, seit die Advance durch die arktischen Herkulessäulen
gesegelt war. Da das Thauwetter sich längst schon eingestellt
hatte, fehlte es nicht an einigem wenn auch spärlichem Pflanzen-
wuchs, um so schaarenreicher zeigte sich dafür die Thierwelt:
Eidergänse, MoUemocken, Elfenbeinmöven und Meerschwalben,
welche letztere sich von Seepflanzen nähren. Am Lande selbst
hatte man einen Eisbären erlegt und das Stück eines Eskimo-
II*
164 Zur Geschichte der Geographie.
Schlittens gefunden, so dass also die Gegend früher bewohnt, oder
wenigstens besucht gewesen sein muss.
Diese ausserordentlichen Thatsachen lassen zwei Erklärungen
zu. Die eine verführerische ist die Annahme einer eisfreien Po-
larsee, welche nie oder nur kurze Zeit erstarrt. Dazu ist es nöthig,
sich vorzustellen, dass im Norden von Washingtonland und den
vom Geschwader Sir Edward Belchers erforschten Inseln keine
beträchthchen Landbildungen mehr sich finden und dass der
warme Golfstrom zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlija, den
Pol umkreisend, in rückläufiger Bewegung nach jener offenen See
münde und ihr eine höhere Temperatur mittheile. Leider fehlen
aber für diese Hypothese untrüghche Belege, wie z. B. Wahrneh-
mung von Treibproducten , welche dem Golfstrom eigenthümUch
sind. So lange man auf diese nicht stösst, wird die erste Erklä-
rung höchst bestritten bleiben. Die andere Auslegung ist minder
verführerisch und daher für den kritischen Sinn behaglicher. Man
kann nämlich die von Morton gesehene See als eine locale Er-
scheinung betrachten, die ganz besonders günstigen meteorologi-
schen Conjuncturen verdankt wurde. Wie oft hatte man nicht
schon verkündigt, das freie Polarmeer gesehen zu haben! Und
eben so oft mussten andere Seefahrer an der nämlichen Stelle,
wo ihre berauschten Vorgänger ein befreites Fahrwasser gegen
Norden sahen , im folgenden Jahre eine erstarrte See antreffen !
Inglefield hatte 1852 eine völlig freie Durchfahrt durch das grön-
ländische Gibraltar erblickt , Kane fand 1853 schon grössere
Schwierigkeiten, 1854 und 1855 blieb die Smithstrasse geschlossen,
und wir wissen nicht, ob sie seitdem offen geworden ist! War
die See bei Washingtonland schon 1852 und 1853, war sie 1855
noch offen? Das Zufrieren und Oeffnen von Meerestheilen, nament-
lich von Sunden — und nach Kane's Karte zu urtheilen, sah man
vorläufig nur einen Sund des Polarmeeres — ist von grossen Zu-
fälligkeiten abhängig, namentlich von der Herrschaft günstiger ab-
wehrender Winde in der Zeit , wo die grossen Eisbänke sich wie-
der schliessen wollen. Immerhin aber bleibt die Erscheinung im
Jahre 1854 noch ein grosses Räthsel. Der kälteste Monat in der
Rensselaer Bucht war der März, während in der dritten Juniwoche
Mortons See schon völlig eisfrei gefunden wurde, so dass also der
Process des Thauens schon im Mai dort begonnen haben musste.
Zweitens ist der Kennedycanal zwischen Washington- und Grin-
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. 165
nellland nur 7 deutsche Meilen breit, dem Zufrieren daher leicht
ausgesetzt, und er gränzt unmittelbar an die mit Eisbergen be-
völkerte, wohl nie oder selten geöffnete Strasse vor dem Hum-
boldtgletscher, dessen erkältende Nähe gewiss sehr beträchtlich
die locale Temperatur beherrscht. Endlich weiss man nicht zu
erklären, welchen Weg die von Morton gesehenen Vögel genom-
men haben konnten, da sie an der Advance vorüber, überhaupt
in der Smithstrasse heraufziehend, nicht gesehen worden waren.
So bleiben uns denn durch diese Entdeckungen neue Zweifel
übrig und Mortons See wird jetzt gar Vielen ein werthvoUerer
Gegenstand des Nachforschens dünken, als die nun wirklich ge-
fundene, aber ihrer Opfer kaum würdige nordwestliche Durchfahrt.
Unsre neuen arktischen Entdeckungen haben uns dem Nordpole
nicht mehr genähert. Am nächsten kam ihm auf einer Schlitten-
fahrt im Norden von Spitzbergen Sir Edward Parry 1827 , im
Juli, bis 82° 45', also näher noch als der von Morton gesehene
äusserste Berg Mount Parry, und seitdem sind Grönlandsfahrer in
der See von Spitzbergen zu wiederholtenmalen bis 82° und selbst
82 ° 30' vorgedrungen. Mortons Leistung ist daher nur desshalb
so ungewöhnlich, weil westlich von Grönland dort eine höhere
arktische Breite als die Nordspitze Spitzbergens betreten wurde.
Kane's Ueberwinderungsplatz ist zwar bis jetzt die kälteste Stelle
im Polarkreise gewesen, wo bis jetzt Beobachtungen angestellt
worden sind, wenn man auf das Jahresmittel Rücksicht nimmt,
allein noch kältere Winter wurden in Jakutzk und Ustjansk be-
obachtet, nämlich nach Dove's Reductionen :
Ustjansk.
Jakutzk.
Rensselaer Bucht
Rea
u m u r.
Winter
— 30 20
— 30 53
— 27 36
Frühling
— 14 50
- 7 63
— 19 32
Sommer
6 57
II 73
0 44
Herbst
— 13 77
- 8 77
— 16 37
Jahr
— 12 98
— 8 80
- 15 65.
Nach diesen neuern Erfahrungen lautet das letzte oder viel-
mehr neueste Wort der Meteorologie, dass, da die mittlere Jahres-
temperatur in Madras 22. 36 R. beträgt, jeder Tag im Jahr in
dieser indischen Stadt um 38° im Durchschnitt wärmer ist
als in der Rensselaer Bucht.
l66 Zur Geschichte der Geographie.
Das wärmste Monats mittel ist bis jetzt in Massauwa für
den Mai (29° 78') gefunden worden. Verglichen mit dem nie-
drigsten Durchschnitt des wärmsten Monats in den Polargegenden
ergiebt sich ein Unterschied von 28° 29'. Setzt man aber das
wärmste Monatsmittel dem kältesten Monat in Jakutzk gegenüber,
so beträgt der Unterschied 63° 18', und er würde natürlich noch
grösser sein , wenn man die Extreme innerhalb der Monate ver-
gleichen wollte. Staunend aber gewahren wir schon , welchen
Ungeheuern Wärmeunterschieden die menschliche Natur sich anzu-
bequemen vermag. So vollständig ist es gelungen, die alte Irr-
lehre der alexandrinischen Weltweisen zu widerlegen , welche die
Erde nur innerhalb der gemässigten Zone belebt glaubten. Im
Norden wenigstens reichen die Spuren unseres Geschlechtes bis
zum 81. Grad, und wer darf noch sagen, dass der Pol selbst für
uns völlig unbetretbar sei?
Selbst in seiner völligen Erstarrung ist der höchste Norden
nicht arm an grossartigen Schönheiten. Der Lichtglanz des ge-
stirnten Polarhimmels wird von Kane voller Begeisterung geschil-
dert. Die zerklüftete Küste Grönlands mit ihren burgartigen Fel-
senwerken und ihren natürlichen Vendomesäulen, der majestätische
Humboldtgletscher und der Garten mit Eispyramiden auf der ge-
frornen Kanesee, verherrlicht durch die unverlöschliche Gluth der
ewig auf- oder ewig untergehenden arktischen Frühlingssonne, sind
unbegreiflich hohe Werke
Und herrlich wie am ersten Tag !
Reicher an praktischen Ergebnissen und ebenso gefahrvoll
für die Unternehmer war die grosse mittelafrikanische Mission,
deren letztes Mitglied — gegenwärtig für todt gesagt — noch
nicht zurückgekehrt ist. Durch den Tod des Chefs der Expedition,
Mr. Richardson, der im Anblick seines grossen Reisezieles am
4. März 1851, 42 Jahr alt, starb, ging auf den damals gerade
dreissigjährigen Barth die Leitung der Botschaft über. Wenig
mehr als ein Jahr verfloss, als sich Barth völlig allein sah, nach-
dem er den trefflichen Overweg, den ersten Beschiffer des Tsad-
sumpfes, am Rande dieses afrikanischen Wassers bestatten musste.
Damals aber hatte bereits Barth seine beiden brillanten Entdeck-
ungsreisen nach Adamaua und Baghirmi ausgeführt, deren histo-
rischer Verlauf in den bis jetzt veröffentlichten drei Bänden des
Reisewerkes vollständig enthalten ist. Zwar war der Tsadsee und
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. 167
das Reich Bornu bereits 1823 von Denham und Clapperton be-
sucht worden, doch ist jede Reise eines bedeutenden Gelehrten
eine Entdeckungsreise. Namentlich hat uns Barth die Quellen zu
einer Geschichte der innerafrikanischen Staaten geliefert, die uns
einen dauerhaften historischen Faden gewähren, wo früher nur
einzelne Bruchstücke von Arabern und arabischen Reisenden für
uns vorhanden waren. Seit wir diesen Schatz besitzen, werden
manche Irrthümer über die Umbildungsfähigkeit der sogenannten
schwarzen Race und über das scheinbar klanglos Erstarrtliegen
des gewaltigen Festlandes zerrinnen. Der Sudan Afrika's ist kein
geschichtsloses Land und die Neger keine Zwischengeschöpfe
zwischen dem weissen Menschen und der übrigen Thierwelt.
Adamaua, die von Barth zuerst besuchte Provinz des grossen,
aber lockeren Reiches der Fulbe (Fellatah) , liegt bekanntlich im
Süden des Tsadsees. Wir können den Reisenden nicht durch die
üppigen Kornfluren Bornu's, durch die frischen Weidelandschaften
und durch die unheimlichen Wälder Marghi's, durch gastliche und
ungastliche Ortschaften begleiten. Der Tag des Sieges war der
18. Mai 1851, wo Barth endlich die Ufer des Benue erreichte,
und zwar gerade bei seinem Zusammenfluss mit dem Faro , wo
luftige Berge, unter andern der angeblich 9000 Fuss hohe Alan-
tika, den Reiz des sonnigen afrikanischen Bildes erhöhen. Der
Anblick eines Flusses in einem so dürstenden Lande, wie Afrika,
wird von allen Reisenden als ein Genuss gepriesen. Unwillkürlich
schweifen die Gedanken am Ufer auf und nieder, nach der Mün-
dung und nach den Quellen. Der Fluss war an der Stelle, wo
ihn Barth kreuzte, wenigstens 1200 Schritt breit und im Strome
durchschnittlich 11 Fuss tief, doch Hessen andere Anzeichen auf
eine zeitweise Wasserfülle von 30 bis 50 Fuss schliessen. Der
Faro dagegen war nur 900 Schritt breit , damals zwei Fuss tief,
aber sehr reissend. Dieses herrhche Strompaar, mitten im Innern
des schwer zugänglichen Continentes , erhielt einen unschätzbaren
Werth in dem Auge eines Reisenden, welcher im Jahre zuvor alle
Beschwerden und Fährlichkeiten einer Reise durch die Sahara
bestanden und sich dabei überzeugt hatte, dass über diesen glühen-
den Boden kein Pfad führe, auf welchem sich die europäische
Cultur nach Innerafrika übertragen Hesse. Barth war von Kukaua
am 29. Mai abgereist und erreichte- mit seiner Karawane am
17. Juni die Gabel des Faro und Benue. Auf diesen für leichte
jgg Zur Geschichte der Geographie.
Schiffe zugänglichen Strömen könnten statt einer Wüstenreise von
mehreren Monaten jetzt europäische Frachten sich bequem den
Reichen Südafrika's und dem Tsadsumpfe bis auf eine massige An-
zahl von Tagereisen nähern. Zu Denhams und Clappertons Zeit
wäre der praktische Werth der Entdeckung wahrscheinlich ver-
dunkelt geblieben, denn der Niger und seine neue von Barth ent-
deckte östliche Seitenader, der Benue, sind den Segelschiffen nicht
zugänglich , weil die Reise rasch beendigt sein will , wenn nicht
das Schiffs volk vom Fieber hinweggerafft werden soll. Mit der
verunglückten grossen Nigerexpedition hatte man überhaupt das
Stromgebiet des vielnamigen Flusses für ein ungeeignetes Verkehrs-
mittel halten müssen. Seitdem hat sich aber die Dampfschififfahrt
über den Ocean und um Afrika heruragewagt. Mit dem neuen
Werkzeug änderte sich nothwendig auch der Werth der älteren
Verkehrsmittel, besonders seitdem es gelang, durch den Bau
seichter Dampfer Flüsse von unbeträchtUcher Tiefe zu befahren.
Kaum war daher Dr. Barths Bericht über seine Entdeckung des
Benue nach Europa gelangt, so überzeugte sich jedermann, dass
dieser Fluss derselbe sei, dessen Mündung in den Niger unter
dem Namen Tschadda') man bisher gekannt hatte. So kam 1854
die sogenannte Tschadda - Expedition zu Stande, die aus dem
leichten Dampfer Plejade bestand und vom Golf von Guinea aus
den Niger und Benue hinaufgehen sollte, um zu untersuchen, ob
der Fluss bis zu der von Dr. Barth berührten Stelle schiftbar sei.
Die Plejade gelangte unter Dr. Baikie's Führung bekanntlich in
die nächste Nähe von Yola, der Hauptstadt Adamaua's und der
Stelle, wo der Faro sich mit dem Benue vereinigt. Das wichtigste
Ergebniss dieser Fahrt aber war es, dass sie ohne Menschen-
verluste zurückgelegt wurde. Nur sehr wenige Seeleute an Bord
erkrankten, und alle kamen mit leichteren Fieberanfällen davon.
In Folge von Fahrlässigkeit fehlte es dem Dampfer frühzeitig an
Kohlen, man musste daher Holz am Ufer erst schlagen lassen,
und verlor darüber nicht nur so viel Zeit, dass die Wasser im
Flusse zu sinken begannen und zur Rückkehr nöthigten, sondern
es wurde auch die Gesundheit der Mannschaft mehr als nöthig
i) Dr. Barth behauptet, der Fluss führe diesen Namen nirgends, wesshalb
er jetzt von den Karten verschwinden muss, wie mau auch bisher irrthümlich
Binue statt Benue geschrieben hat.
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. 160
aufs Spiel gesetzt. Nachdem die Plejade den Benue verlassen
hatte, erreichte kurz nachher Dr, Vogel einen ihrer Ankerplätze,
wo er die Anwesenheit eines englischen Schiffes aus den Trümmern
von Sodawasserflaschen und überhaupt den Zusammenhang der
Expedition sogleich errieth. Man erzählt sich, dass man bei dem
Bau der Niagarabrücke zuerst einen dünnen Faden an einem
Drachen befestigt über den Fluss tragen liess. An dem dünnen
Faden wurden dann allmählich Schnüre, Seile und Ketten herüber-
geschafift. Einen solchen Faden hat auch Dr. Barth durch seine
Entdeckung des Benue aus dem Herzen Innerafrika's uns zuge-
tragen, und wir alle hoffen jetzt, dass daraus eine Brücke für
unsere Civilisation werden möge.
Vom Benue zog der Reisende ein wenig landeinwärts nach
der Hauptstadt Adamaua's, Yola, wenig gefasst auf den Empfang,
der ihm bevorstand. Adamaua ist die jüngste Eroberung der
äusserst merkwürdigen Fulbe oder Fellatah, und wurde von einem
Statthalter unter dem Sultan regiert , der abhängig war von dem
Emir el Mumenin oder dem Chahfen der Fulbe, der in Sokoto
(jetzt in Wumo) residirt. Dr. Barth bat den ersteren um Erlaiib-
niss , durch Adamaua hindurch nach dem indischen Ocean reisen
zu dürfen. Der afrikanische Continent, der bei uns noch immer
die Vorstellung von leblosen unwegsamen Ländermassen erweckt,
wird gleichwohl jährlich von grossen Schaaren im Sinne der Breiten-
kreise durchschnitten. In Südafrika sind, wenn auch spärlicher,
Reisen von der Mozambique- nach der Angolaseite nichts uner-
hörtes. Dr. Barth traf in Yola einen Araber aus Mocha, welcher
die Namen Bombay und Madras vortreffHch kannte, die Mozam-
biqueküste bis Sofala bereist hatte und dann quer durch das Fest-
land am Nyassasee vorüber nach Adamaua gelangt war. Eine
Reise durch das. äquatoriale Afrika nach dem indischen Ocean,
wenn auch von Fährlichkeiten umlagert, schien dennoch für einen,
dem KUma trotzenden Mann nichts Abenteuerliches , und welche
Ausbeute hätte die Wissenschaft vielleicht erhalten, wenn es Dr.
Barth gelungen wäre , den grossen Vorsatz auszuführen ! Allein
wenn man überlegt, an welchen Zufälligkeiten das Gelingen des
Unternehmens hing, so wird man Barths Reise nach Timbuktu,
und die Freude, den Entdecker wohlbehalten heimgekehrt zu sehen,
als vollwichtigen Ersatz betrachten. Der Statthalter Yola's zeigte
bei der ersten Audienz gegen Barth keinen üblen Willen, allein
j ij Q Zur Geschichte der Geographie.
dieser war in Begleitung eines Bornuesen gereist, der, wie es sich
ergab , höchst anstössige Aufträge seines Hofes bezügUch der
Herausgabe streitiger Gränzlandschaften überbrachte. So erhielt
denn Barth den Befehl, sammt seinem bornuesischen Geschäfts-
träger schleunig umzukehren, und es beharrte selbst später, als
sich die Stimmung gegen unsern Landsmann besserte , der Statt-
halter auf seinem ersten Wort, dass er ohne Ermächtigung des
kaiserlichen Hofes in Sokoto eine so grosse Person, wie Barth,
nicht durch seine Provinz ziehen lassen dürfe. Von dort möge
er also sich die Erlaubniss holen. Das Benehmen des Statthalters
erscheint uns durchaus nicht unbillig und zeugt von einem gewissen
politischen Schliff im Verkehr dieser Negerländer, deren materielle
Civihsation zwar kein europäisches Mass verträgt, die aber un-
endlich höher ist, als das falsche Bild, welches wir vor gar nicht
langer Zeit noch von dem Sudan besassen.
Adamaua ist die östlichste Provinz der schwarzen Eroberer
vom Stamme der Fulbe oder der Fellatah und zugleich die ein-
zige, welche ihnen ein Gebiet auf dem linken Benueufer gewährt,
denn dieser Strom ist in seinem unteren Laufe bisher die Schranke
ihrer Eroberungen geblieben, die nach und nach aufgeschwollen
sind , wie eine Seifenblase. Die sogenannte Tschaddaexpedition,
welche nur die Verheerungen der Fulbe sah, nur die Klagen der
ausgeplünderten und vertriebenen Heiden am Benue hörte, gewann
von dem Volke nur einen düstern Begriff. Der vierte Band von
Barth wird uns die besten und die neuesten Belehrungen über
die grosse Nation bringen. Jedenfalls ist der deutsche Reisende
sehr günstig für sie gestimmt. In Adamaua stehen unter den Mark-
grafen und Herrn der Fulbe nicht über 3 — 4000 ärmlich berittene
Reiter und etwa das zehnfache als Fussvolk. ,,Es ist von eigen-
thümlichem Interesse", bemerkte der Entdecker, „diese Eroberer
und Colonisten fortschreiten zu sehen ; sie zerstören und bauen
wieder auf, verwüsten ganze Strecken Landes, um sie auf ihre
eigene Weise nachher wieder zu bebauen. Was dabei an Be-
völkerung und menschlichem Lebensglück zu Grunde geht, wird
an politischer Einheit gewonnen ; denn das ist der entschiedene
Fortschritt bei den muhamn:edanischen Eroberungen, den Niemand
leugnen kann, dass sie die einzelnen Landschaften mehr mit ein-
ander vereinigen und grösseren Verkehr erschliessen, während den
heidnischen Stämmen scheinbar das Princip inne liegt, sich stets
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. j-ji
mehr und mehr abzusondern und zu zerspHttern". Einheimische
afrikanische Geschichte wird bisher den meisten Gebildeten , die
nicht Liebhaber von SpeciaHtäten waren, nur als eine unverdau-
liche geistige Beschäftigung erschienen sein. Allein durch die
neuern Forschungen unseres Landsmannes gewinnen wir an den
Fulbe das grösste Interesse, da sie jedenfalls eine edle historische
Rolle spielen. Ein hübsches Gemälde von ihrem Wesen entwirft
der Verfasser bei seinem Besuche Ssarau's in Adamaua noch diess-
seits des Benue: „Dort im Fulbedorfe leichte luftige Hütten, die
Gehöfte von reicher Vegetationsfülle belebt, alles sprossend und
freundlich , Menschen und Vieh in traulichster Gemeinschaft , die
Männer von geradem schlanken Wüchse und heller Hautfarbe, mit
offenen, lebensvollen Zügen, weissen sauber gewaschenen Hemden;
Frauen und Mädchen in den leichtesten anmuthigen Formen, das
Haar leicht in Locken auf den schlanken Nacken herabfallend,
den Hals mit Reihen bunter Perlenschnüre geschmückt, um den
Leib ein helles Gewand". Es sind sehr oft jugendlich frisch ge-
bliebene Nomadenvölker, die plötzhch zu Eroberungen entflammt,
grosse Ländermassen mit alternden poHtischen Bildungen wieder
verjüngen, bis die Söhne der Natur durch ihre Eroberungen und
Berührung mit verfeinerter Civilisation wieder entarten. So auch
die Fellatah. „Obgleich schon im Besitze einer grossen Herrschaft,
sind die Fulbe Adamaua's doch vorzugsweise noch geblieben, was
sie waren, Viehzüchter. Rindviehheerden sind nebst Sklaven noch
immer ihr Hauptreichthum , die Schafzucht ist, wie es scheint,
sehr gering. Von Industrie wissen sie noch gar nichts , und so
kann Handelsverkehr nur noch im Keime liegen ; dafür aber findet
man bei ihnen jene patriarchalische Reinheit und Einfachheit der
Sitten , die man in den grossen , von ihnen eroberten Verkehrs-
stätten Haussa's vergeblich sucht. Sie sind ein rüstiges, an Stra-
pazen und Entbehrungen gewöhntes Volk, wenn sie auch an Muth
dem Europäer weit nachstehen ; in ihrem religiösen Bewusstsein
folgen sie instinctmässig dem Triebe der Eroberung über jene
Heidenvölker. In der That bin ich überzeugt, dass bei der Mehr-
zahl dieser Leute das religiöse Bewusstsein noch immer stärker
ist, als die Gewinnlust, und dass sie sich nicht allein für berechtigt,
sondern selbst für verpflichtet halten , ihre Herrschaft stets mehr
und mehr auszubreiten."
Vorläufig hat die Eroberung dieser muhammedanischen Neger
172
Zur Geschichte der Geographie.
die sittliche Erziehung der Unterworfenen nur in einem Punkte
gefördert; sie zwingen ihre nackten Sklaven, durch einen Schurz
ihre Blosse zu bedecken und die Frauen wenigstens hin und wieder
sich zu verschleiern. Zu den völlig nackten Centralafrikanern
zählen z. B. die Marghi, ein mit den Musgu verschwisterter Volks-
stamm, über welche Barth bemerkt: „Die Männer sind im All-
gemeinen hochgewachsen und , so lange sie noch jung sind , von
schlankem Wuchs ; auch einige Frauen erreichen eine hohe Gestalt
und bilden dann mit ihren hängenden Brüsten und ihrer gänzlichen
Nacktheit einen wahren Gegenstand des Schreckens, besonders
wenn sie von röthHcher Farbe sind". Als Barth zum ersten Male
eine völhg entblösste Frau aus einem Brunnen aufsteigen sah,
scheute selbst sein Pferd vor dem ungewöhnlichen Anblick. Das
Interessanteste an den Eroberungen der Fellatah ist gewiss die
gleichzeitige Erweiterung der Herrschaft des Islam. Während wir
diese Religion gewöhnlich für alternd ansehen und sie bereits in
sichere Gränzen gebannt hielten, tritt sie in Afrika beständig als
Raum gewinnend auf, sie ist dort nicht bloss glücklicher als das
Christenthum , sondern hat dieses sogar im Norden siegreich ver-
drängt. Afrika war eine christHche Provinz vor dem Siegeszuge
des Islam nach dem Westen und das Evangelium herrschte sogar
im Sudan , ehe dorthin die Lehre des Propheten kam. Eine der
merkwürdigsten Entdeckungen Dr. Barths ist es, dass die Imoscharh
ihren europäischen Namen Tuarek den Arabern verdanken, welche
sie die Ueber getretenen nennen , und zwar traten sie vom
Christenthum zum Islam über, von welchem ersteren sie jedoch
noch einige deutliche Reste festgehalten haben. In welche späte
Zeit aber dieser Uebertritt fällt, mag man daraus entnehmen,
dass erst am Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts die Araber in
Fesan eingedrungen sind.
Weit früher kam das Volk und die Lehre des Propheten in
die reichen Länder südlich der Sahara. Aus Barths chrono-
logischer Geschichte Bornu's ergiebt sich, dass der erste muham-
medanische Fürst über dieses Reich zwischen 1086 — 1097 nach
Christus regierte. Es ist wohl erlaubt, diesem frühen Eindringen
arabischer Cultur und Religion die Gesittung im Sudan zuzu-
schreiben. Der Islam besass nämlich , ganz abgesehen von den
hohen sittlichen Wirkungen einer monotheistischen Lehre, ein un-
schätzbares Bildungsmittel in den alljährlich wiederkehrenden
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. j-jj
Pilgerfahrten nach Mekka. Der Sudan wird in seiner ganzen
Breite vom fernsten Westen durchzogen, und natürUch bringen die
heimkehrenden Hadschi aus einer verfeinerten Grossstadt wie
Mekka , wo sich das gebildete Morgenland zusammenfindet , eine
Welt von neuen Begriffen und Anschauungen, aber auch Bediirf-
nisse nach höheren Lebensreizen mit. Sie bringen auch die Pro-
ducte fremder Industrie, die Geräthe fremder Cultur, die Werk-
zeuge anderer Gewerbe mit heim, ja — selbst Bibliotheken. So
traf Barth mit Pilgern aus Massena am Djoliba, also des äussersten
Westens zusammen, unter denen ein Speculant eine beträchtliche
Anzahl Bücher mit heimbrachte. Ein anderer Pilger in Baghirmi,
mit welchem Barth sich gut auf arabisch unterhalten konnte, hatte
dreimal die heihge Stadt besucht und die Schiffe der Christen auf
dem rothen Meere angestaunt. Mit einem blinden Fellatah in
Massena 0, der logarithmische Mathematik studirt, und den Ge-
brauch des Astrolabiums in seinen lichten Tagen verstanden hatte,
durfte Barth über Plato und Aristoteles sprechen , welche er aus
den arabischen Uebersetzungen kannte. So werden die Völker
des Sudans nicht bloss auf die Ankunft einer höheren Civilisation
vorbereitet, sondern mit den Wallfahrern werden auch fremde ge-
bildete Einwanderer ins Land gezogen. Ein nicht unbeträchtlicher
Theil der Bevölkerung Bomu's sind die Schua arabischer Abkunft,
die vor 2^2 Jahrhunderten von Osten her in das Land einzogen
und nicht weniger als 20,000 Mann Reiter jetzt ins Feld stellen
können. Auch einzelne Abenteurer dieser auf den Festlanden all-
gegenwärtigen und reiselustigen Nation werden überall angetroffen.
So stiess in Yola Barth auf einen arabischen Architekten, der für
den Statthalter ein warmes Bad erbauen sollte, wie er kurz zuvor
dem Sultan von Wadai ein gleiches Gebäude errichtet hatte. Der
Araber ist daher für Afrika vollständig das gewesen, was der
Europäer für Amerika war, nur dass eine einzelne Nation nicht
leicht einen so massiven Welttheil völlig bewältigt. Es ist dess-
halb natürlich, dass die Araber überall antieuropäisch gesinnt sind,
und den abendländischen Reisenden gern Schlingen legen, gerade
so wie in Asien die Araber es waren, welche nach Auffindung
des indischen Seeweges gern die Europäer wieder aus den Ländern
vertrieben hätten, wo der Pfeffer wuchs. Christenthum und Euro-
i) Hier ist die Hauptstadt Baghirmi' s gemeint.
174
Zur Geschichte der Geographie.
päer haben einen schweren und sehr ungleichen Kampf in Afrika
zu bestehen , dessen KHma der östlichen Civilisation weit besser
zusagt, als dem nördlichen. Auch sind die Uebertritte vom Islam
zum Christenthum weit schwieriger, als die Uebertritte von diesem
zu jenem, schon wegen der Vielweiberei und der Sklaverei, welche
der Islam vorfindet, und denen er seine Weihe giebt, während
das Christenthum polemisch gegen beide auftritt.
Dass der Islam grosse sittliche Veränderungen bewirke, ergab
sich aus dem Vergleich mit den Zuständen in dem heidnischen
Musgulande, dem „afrikanischen Holland" im Süden des Tsadsee,
wohin Barth im Gefolge eines bornuanischen Heeres vordrang,
welches durch einen grossartigen Menschenraub den Finanzen des
Reiches ein wenig aufhelfen sollte. Dieses Marschland ist der
fruchtbarste Strich in Innerafrika , wegen seiner mannigfaltigen
Bewässerung. Die Flüsse selbst sind so fischreich , dass sich die
Bewohner nach feindlichen Verwüstungen ihrer Ernte vollständig
mit dem Fischfang zu ernähren vermöchten. Die Einwohner,
welche noch nicht im Gebrauch von Bogen und Pfeilen geübt
sind, vermögen den Heimsuchungen ihrer Nachbarn nicht zu wider-
stehen, die sie wegen ihres Fetischdienstes und ihrer Sittenroheit
tief verachten, denn die Musgu, Männer wie Weiber, gehen völlig
nackt, indem sie nur ein Bastseil um die Hüften binden und
zwischen den Beinen durchziehen. Von dem Musgufürsten Adischen
behaupteten die Bornuaner sogar, er lege sich des Abends zur
Erbauung seines Gesindes in völligem Deshabilld zu seinen Skla-
vinnen, von denen er 200 in seinem Vermögen zähle. Die Art,
wie sie reiten, charakterisirt sie als vollständige Wilde. Um sich
einen festeren Sitz auf dem ungesattelten Pferde zu verschaffen,
bringen sie den Thieren Fleischwunden bei und ritzen sich selber
die Schenkel auf, damit sie von dem Blute angeleimt werden.
Und dennoch sind auch diese Stämme nicht ohne eine gewisse
Industrie, die sich namentlich in den künstlichen Bauten ihrer
Thonhäuser offenbart. Zwar treiben sie den Luxus nicht so weit,
wie in Adamaua , wo Barth das Innere der Hütten sauber mit
Farben bemalt fand, so dass der Reisende sich äusserst bequem
und wohnlich unter einem solchen Obdach fühlte; dagegen waren
bei den Musgu die rundummauerten Hofräume mit glockenförmigen
Behausungen und diese wieder durch regelmässige architektonische
Ornamente geziert. Dieser künstlerische Trieb verrieth sich auch
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. jje
in den eigenthümlichen Grufthallen , denen selbst die irdene
Todtenurne nicht fehlte.
An das Musguland gegen Osten gränzt das muhammedanische
Baghirmi, mit seinen im Sudan berühmten und begehrten Frauen-
schönheiten , über deren Ruf nicht die beste Nachrede umlief
Barth erreichte dieses Land, als er den Gränzfluss Scliari über-
schritt. Allein kaum hatte er den Fuss ins Land gesetzt, so wurde
er wie ein Gefangener behandelt, weil sich das Gerücht verbreitet
hatte , der grosse Hexenmeister werde eine politische Revolution
in Baghirmi bewirken. Der Sultan war abwesend auf einem
Kriegszuge, sein Reichsverweser aber consignirte Barth in einer
kleinen Ortschaft auf der Strasse nach der Hauptstadt Massena
und Hess ihn sogar in Fesseln legen, als er eines Tages wagte, den
Rückweg anzutreten. In Massena, der Tamarindenstadt ^), wurde
er halb wie ein Staatsgefangener behandelt und musste es sich,
selbst nach des Sultans Rückkehr, für eine Gnade schätzen, wieder
aus Baghirmi entlassen zu werden, welches er von allen Europäern
zuerst betreten und wohin Denham vergeblich vorzudringen
gesucht hatte.
Fassen wir die Ergebnisse dieser Entdeckungen und For-
schungen zusammen, so bestehen sie in Folgendem. Es giebt im
Süden des Tsadsees, zwischen diesem und dem Benue äusserst
fruchtbare Länder, wo ein sorgfältiger Ackerbau betrieben wird
und die menschliche Industrie es bis zu einem gewissen Comfort
gebracht hat^). Es sind dort Bedürfnisse nach Handel und Verkehr
vorhanden, und die Völker, denen eine höhere Begabung nicht
abgeleugnet werden darf, haben seit dem Eindringen des Islam
eine Geschichte, einen geistigen Inhalt ihres Daseins bekommen.
In allen diesen Ländern wächst die Baumwolle gepflegt und un-
gepflegt, und sie vermöchten, wenn sie durch Verkehrsmittel zu-
gänglich würden, einen grossartigen Bedarf dieses vornehmsten
Welthandelsartikels zu decken. Für die Ausfuhr eignen sich ferner
Erdeicheln (Arachis hypogaea) , Pflanzenfibern , Wachs , Häute,
Elfenbein, Rhinoceroshörner , vegetabilische Butter etc. Die Er-
i) Diess ist die Bedeutung des Namens, wie Kukaua nach der Kuka oder
Adansonia digitata die Affenbrodfruchlstadt heisst.
2) In Bornu und Baghirmi besteht die umlaufende Marktmünze in Baum-
wollenstreifen und für grössere Zahlungen in Hemden. Ein bedeutungsvolles
Zeichen 1
J--6 Zur Geschichte der Geographie.
oberungen der Fellatah gewähren die Aussicht, dass man mit
diesem intelHgenten Volke Verträge schUessen und auf Billigkeit
in Handel und Wandel sich Hoffnung machen darf. Die vielen
und tiefen Wasseradern bieten Verkehrsmittel vom Tsadsee bis in
die Nähe des Benue, und wo sie fehlen, ist das Schiff der Wüste,
das Kameel, als Werkzeug des Verkehrs vorhanden. So mangelt
es nicht an Gliedern, um europäische CiviHsation mit dem Sudan
dauernd zu verketten !
Eine andere fremde Welt hat uns ein armer Missionär, David
Livingstone, eröffnet, der nach vieljährigen Missionsdiensten und
verheirathet mit der Tochter Moffats, der neben seinen Missionen
unter den Bitschuana durch schöne Entdeckungsreisen in Südafrika
sich ausgezeichnet hat, von Kolobeng aus, der äussersten Station
in der transvaalschen Republik, den Pfad der Entdeckung in Süd-
afrika betrat. Das weitere Vordringen in das Innere des Con-
tinentes von Süd nach Norden hatte bisher die Wüste Kalahari
verhindert, die, zwischen 29 und 21° südl. Br. gelegen, nur von
Buschmännern durchstreift und von vertriebenen Bitschuanastämmen
bewohnt wird. Allein diese Wüste ist nicht so unwirthlich und
unbelebt wie die Sahara , und würde von Kameelen, wenn dieses
Thier einmal eingeführt worden sein wird, leicht durchschritten
werden, da Livingstone selbst mit Ochsenkarren und einmal sogar
in Begleitung seiner zarten Kinder durch diese Wildniss gezogen
ist, die mit einer Wüste nur die Aehnlichkeit besitzt, dass sich in
dem sandigen Boden kein fliessendes Wasser findet. Wohl aber
bleiben kleine Teiche von einer Regenzeit zur andern unerschöpft
und an diesen vereinzelten Trinkschalen begegnen sich des Nachts
die durstigen Bewohner der Kalahari, die Zebra, die Giraffen, das
weisse und schwarze Rhinoceros, bis aus der Ferne sich die Säule
einer zahlreichen Elephantenheerde ankündigt, welcher scheu alle
übrigen Thiere den Platz räumen. Wo solche Sümpfe fehlen,
giebt es hin und wieder Stellen , wo sich wenige Fuss unter der
Oberfläche auf undurchdringlichen Schichten Wasser in solcher
Fülle sammelt, um Ross und Reiter kleiner Karawanen zu tränken.
Livingstone wusste längst, dass sich am Nordrande dieser mit
Graswuchs und Buschwerk locker bekleideten Sandebene der
Ngamisee befinde, und nach diesem Gegenstande war er in Be-
gleitung des afrikanischen Nimrod Oswell am i. Juni 1849 auf-
gebrochen. Die Entdecker stiessen zunächst auf einen Fluss, den
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — '856. jyy
Zouga, dessen Lauf nach Westen folgend, sie den Ngamisee am
5. August erreichten. Dieses Ziel befriedigte den Reisenden schon
nicht mehr, seit er am Zouga Kunde von einem reich bewässerten
Lande im Norden gehört hatte. Jenseits des 20. Breitengrades
Wasser und grosse Stromsysteme im Innern Afrika's anzutreffen,
war damals noch so überraschend , dass Livingstone am liebsten
sogleich nach dem Wunderlande aufgebrochen wäre. Allein nach-
dem der erste Versuch an dem Widerstand des Häupdings am
Ngamisee und ein zweiter durch Erkrankung von Livingstone^s
Kindern gescheitert war, glückte es erst 1851, den Tschobe, ein
Seitengewässer des grossen südafrikanischen Zambesigebietes, zu
erreichen, wo Livingstone und Oswell sehnsüchtig von einem
afrikanischen Monarchen und Eroberer, Sebituane, erwartet wurden,
der vielfach von den Europäern gehört, und bei dem sich die
Vorstellung befestigt hatte, dass alle seine politischen Wünsche
sich durch den Besitz von Feuergewehren, die er nur aus der
Beschreibung kannte , erfüllen liessen. Der plötzliche Tod dieses
Häuptlings unterbrach das weitere Vordringen und die Entdecker
kehrten nach dem Cap zurück, Livingstone mit dem Vorsatze,
seine grossen Entdeckungen jetzt weiter zu verfolgen.
Im Mai 1853 befand sich Livingstone wieder am grossen
Strom, welcher Liambye in seinem mittlem, Zambesi in seinem
untern Laufe heisst. Zwischen ihm und dem Ngamisee befindet
sich eine reich von Wasser durchschnittene Ebene von so völlig
horizontalem Charakter, dass zur Zeit der Hochwasser die ein-
zelnen Ströme untereinander durch Seitenzweige in doppelte Ver-
bindung gerathen und das Land von ihnen in Inseln getheilt wird.
Dieses fruchtbare Becken gehörte ursprünglich gutartigen und fried-
fertigen Negerstämmen, den Barotse, Banyeti und Balonda, welche,
hauptsächlich mit Ackerbau beschäftigt, auch etwas Industrie trieben,
namentlich Eisen schmelzen und nicht ohne Kunst ihre Geräthe
schnitzen. Allein Südafrika ist in neuester Zeit, vielleicht durch
das Vordringen der Europäer in die Capländer, einer Völker-
bewegung ausgesetzt worden. Die südlichen Stämme drängen
überall nach Norden. So haben an der Westküste die streit-
lustigen Namaquahottentotten die Damara völlig aus ihren Ursitzen
vertrieben und diese Stämme halb vernichtet nach Norden geworfen.
Im Westen ist ein Bitschuanastamm , die Matebele, bis zum süd-
lichen Ufer des Zambesi erobernd vorgedrungen. Die Makololo,
Pische}. Abhandlungen. II. 12
iy8 ^"1' Geschichte der Geographie.
ein anderer Bitschuanastamm , bewohnten ehemals die Ufer des
Kuruman , eines Seitengewässers des Orange Rivers , von wo sie
1824 durch die Griquas , d. h, die Mischlinge von Holländern
und Hottentotten , vertrieben wurden. Sie stellten sich damals
unter Sebituane's Führung, zogen nach dem Ngamisee und ver-
breiteten sich mife ihren Heerden in den nahrungsreichen Prairien
des Zambesi unterhalb des berühmten Victoriafalles , wo sie aber
von den Heeren des kriegerischen Matebeiekönigs Mosilikatse
wieder vertrieben wurden , und nun dem Flusse aufwärts folgend,
in das Thal der Barotseneger einfielen, die den speerwerfenden
Bitschuana's sich sogleich unterwarfen. Sebituane gründete hier
sein Reich, welches von 18 bis 14° südl. Br. über beide Strom-
ufer sich erstreckte. Die Zahl der Makololo war so gering, dass
sich nur eine oder zwei Familien der Eroberer in je einem Dorfe
der frohnd- und tributpflichtigen Barotseneger ansiedeln konnten.
Die jährlichen Ueberschwemmungen des südafrikanischen Nils, wie
der ernährende und fruchtbare Liambye genannt werden darf,
erzeugen böse Fieber, welche jährlich die Zahl der gelben Eroberer
zusammenschmelzen , so dass früher oder später die schwarze
Race wieder ihrer Herren ledig werden wird. Livingstone fand bei
seiner Rückkehr den jungen Staat am Rande eines Erbfolgestreites,
da ein Prätendent fürstlichen Geblütes dem Sohne des hingeschie-
denen Sebituane die Succession streitig machte. Dieser, Namens
Sekeletu , sah sein verdunkeltes Ansehen durch die Freundschaft
des weissen Mannes völlig gerettet und es gelang ihm , seines
Nebenbuhlers habhaft zu werden, der ohne Zeitverlust hingerichtet
wurde. Das Trachten des Makololofürsten ging nach Schiess-
gewehren, überhaupt nach Eröffnung von Handelsverbindungen
mit den Europäern. Diese waren auf drei Wegen möglich, ent-
weder vom Cap her oder nach Nordwesten mit den Portugiesen
in Angola oder gegen Osten mit den Portugiesen am untern
Zambesi. Der erste Weg erprobte sich bald als unerspriesslich.
Die Handelsleute, welche mit Livingstone gekommen waren, hatten
so beträchtlichen Aufwand für die Bewegung ihrer Güter, über
300 deutsche Meilen, zu bestreiten gehabt, dass sie nur wenig für
die Landesproducte geben konnten, die nur aus Elephantenzähnen
bestanden, der einzige Artikel, welcher die Fracht aus dem Innern
deckte. Von Nordwesten her aber hatten sich seit 1851 Mam-
bari, ein Negerstamm des portugiesischen Angola, mit Feuerwaffen
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. i-jg
und englischen Kattunen handeltreibend, am Liambye gezeigt.
Diese Leute begehrten aber als Rückfracht Sklaven , während
Sklaverei weder der Urbevölkerung noch den Makololo damals
noch bekannt war. Livingstone schlug daher vor, mit einer Kara-
wane von Makololo's einen Handelspfad nach der portugiesischen
Westküste zu suchen, wohin das Elfenbein des Barotselandes von
den Makololo abgesetzt werden könnte. Er hoffte dabai zu Wasser
auf dem Liambye so bedeutend gegen Norden vorzudringen, dass
er eine gleiche Breite wie die Mündung des Coanza gewinne, und
dann nach Westen abbiegend, in das Quellengebiet dieses Stromes
zu gelangen.
Im Herbst 1853 begann der Missionär mit 27 Makololo diese
neue Reise , die ihn durch völlig unbekannte Räume des Innern
führte. Er bediente sich dazu eines einheimischen Fahrzeuges
und fuhr den Liambye aufwärts, bis dieser gegen Osten in das
Innere zurückwich, während er einen von Norden herabkommenden
Seitenfluss, den Liba , verfolgte, von dessen Quellengebiete unter
1 1 ° südl. Br. er sich westnordwestlich wandte und bald auf Ge-
wässer stiess , die sämmthch nach Norden abflössen und dem
grossen adantischen Stromsystem des Zaire oder Congo ange-
hörten.
Je höher er im Liambyethal vordrang, desto dichter bewachsen
wurden die Ufer. Auf die sonnigen Prairien im Barotselande
folgten die dichten und feuchten Wälder der Balondastämme.
Diese friedfertigen, aber geizigen Völker, die sich, wenigstens was
den weiblichen Theil betrifft, noch in dem Zustande befanden,
wie ihre Mütter sie geboren hatten, treiben Ackerbau und viel
Bienenzucht, denn Vieh findet sich nur in wenigen Exemplaren
bei den Häuptlingen. Bei ihnen stiess Livingstone zuerst auf
Götzenbilder, denn die hochgearteten, mit Humor und Poesie be-
gabten Bitschuana's beten zu dem grossen Geiste, zur Sonne, und
verehren die Geister ihrer Vorfahren.
Von seinem Ausgangspunkt im Süden an bis zum Ziel seiner
Entdeckungen, von 25 bis 10° südl. Br., hatte Livingstone keinen
Berg und kein Thal gesehen, vielmehr ist die Ebene so flach,
dass die riesenhaften Ameisenhügel oder die künstlichen Hügel,
auf denen man, um vor Ueberschwemmungen sicher zu sein, im
Barotselande die Dörfer erbaut , die einzigen Bodenerhebungen
bilden. Die grosse Ebene besitzt 2500 bis 5000 Fuss Höhe über
12*
l8o Zur Geschichte der Geographie.
dem Meer, und zwar hat man sich zu denken, dass der Ngamisee
selbst die niedrigste Einsenkung im Mittelpunkte dieses an den Ost-
und Westrändern aufsteigenden tellerförmigen Plateau's bilde. Den
Westrand erreichte Livingstone plötzlich , als er aus den feuchten
und überschwemmten Wäldern der Balonda sich auf einmal am
Saume des jäh abstürzenden Tafellandes gewahrte und zu seinen
Füssen sicl^eine sonnige Ebene ausbreitete, gegen Westen begrenzt
von einem blauen Höhenzuge, der wiederum nichts andres war,
als der Absturz des Tafellandes, welches an jener Stelle hufeisen-
artig ausgenagt ist, um in seinem Zwischenraum dem stattlichen
Strome des Coango oder Congo Raum zur Entwickelung zu gönnen.
Als man in die Ebene hinabgestiegen war und verlegen umher-
suchte, wo man den Strom überschreiten sollte, erschien ein Senhor
Cypriano, ein Portugiese halber Kaste, und führte die Entdecker
nach einer nahen Fähre und über den Coango nach Cassange,
dem äussersten Vorposten der Portugiesen gegen Osten, wo
— seltsam genug ! — Livingstone's Pässe untersucht wurden.
Die grösste FährHchkeit der Reise war jedenfalls die Regenzeit,
in Folge welcher Livingstone vom Fieber nie verlassen wurde.
Mehr lästig als gefährlich war die drohende Stimmung der Völker-
schaften auf dem rechten Ufer des Coango zwischen den Balonda-
leuten und der portugiesischen Gränze. Sie begehrten nämlich
einen Transitzoll von Livingstone, und zwar: einen Mann als
Sklaven, oder einen Zahn, oder einen Ochsen. Wurde nichts
gewährt, so kamen sie mit Waffen und drohten die kleine Schaar
umzubringen. Es hat sich aber bei allen Fällen auf der Hin- und
Rückreise ergeben, dass diese Neger, wenn Ernst gemacht wurde,
sich leicht in Schrecken jagen Hessen. Ein einziges mal , und
zwar hart an der portugiesischen Gränze, sendeten sie ein paar
Kugeln den Abziehenden nach. Diese Ungebühr hat ihre einfache
Erklärung. Die Gebiete im Osten des Coango werden von Pom-
beiros , das heisst handeltreibenden portugiesischen Negern durch-
zogen, deren Frachten aus Sklaven bestehen. Da nun diese
Sklaven während des Transits immer Gelegenheit haben zu ent-
schlüpfen, so würden die Pombeiros ihre Waare verlieren, wenn
sie nicht den guten Willen der Häuptlinge durch Geschenke
erkauften. So sind denn durch diese Gewohnheit die Häupt-
linge auf den Gedanken gekommen, es gebühre ihnen überhaupt
ein Transitzoll. Obgleich nun Livingstone mit seinen speerkundigen
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. jgi
Makololo leicht hätte alle diese lästigen Raubstänime einzeln über-
wältigen können , so lag es doch nicht in seinem Sinne , seinen
Pfad durch Blut zu bezeichnen, denn er wollte ja einen friedlichen
Handelsverkehr zwischen der Küste und dem Innern vermitteln.
Sekeletu , der Fürst der Makololo , hatte in gleicher Absicht und
mit grosser Weisheit seinen Leuten verboten , ihre Schilder mit-
zunehmen , damit diese halbe Entwaffnung ihre leic^ erregbare
Streitlust bändige. So verstand sich denn Livingstone hie und da
als Transitgebühr zum Opfer eines Ochsen , von denen er ein
Dutzend aus dem Barotselande mit sich getrieben hatte.
Am 31. Mai 1854 erreichte der Entdecker St. Paul de Loanda,
den grossen portugiesischen Hafenplatz an der Ostküste Südafrika's,
wo seine Makololo sich an den Wundern der europäischen Civilisa-
tion satt sehen konnten. Im Herbst desselben Jahres, von dem
britischen Consul reichlich unterstützt und mit Frachten europäi-
scher Waaren versehen, wurde der Rückzug in das Innere auf
beinahe demselben Wege wieder angetreten; allein da die nord-
westliche Handelsstrasse nach der Küste nicht den Erwartungen
entsprach , so versuchte jetzt Livingstone aus dem Innern eine
Strasse nach dem indischen Ocean und der Ostküste auszuspähen,
indem er den Liambye (Zambesi) abwärts nach der Mündung zog.
Dieses Verkehrsmittel ist leider nicht sehr vollkommen, denn sein
Profil wird etwas unterhalb der Tschobemündung durch Katarakte
gebrochen. Es sind die jetzt weltbekannten Victoriafälle oder
Mosi oa tunya, der lärmende Rauch, wie die Makololo so
poetisch sie nennen. Man denke sich den ruhig fliessenden Rhein,
wenn er bei Kehl die Schift brücke erreicht, statt der Schiffbrücke
aber einen Spalt, so schmal, dass am Rand eine querfallende Palme
Wand und Wand überbrücken würde. Der Fluss, von diesem
Schlund verschluckt, schiesst dann, plötzlich zu einem schmalen
Bach verengt und seitwärts abgebogen, kochend in seinem Eng-
pass weiter. An dieser Stelle verliess ihn Livingstone mit seiner
Makololoschaar , um auf einem kürzeren Wege den Kafue oder
Bashukulompo , einen linken Seitenstrom des Zambesi , zu errei-
chen. Der Weg führte ihn hier durch äusserst fruchtbare park-
artige Prairien an den östlichen Tellerrand der südafrikanischen
Hochebene, wo er unzählbare Heerden von Zebras und Elephan-
ten in paradiesischem Frieden und zahm, wie in den ersten
Schöpfungstagen, weiden sah. Da dieser Rand der Ebene 5000
l82 Zur Geschichte der Geographie.
Fuss über dem Meere liegt und der Boden sehr trocken ist, so
verbürgt sich Livingstone, dass Europäer dort unter dem 15.**
südl. Breite und mitten im Innern ein heilsames Klima und das
fruchtbarste Land der Welt treffen würden. Dort wohnten die
Makololo, ehe sie das Borotsethal eroberten, und sie denken noch
mit Wehmuth der Fleischtöpfe dieses für Nomaden auserlesenen
Landes, leider vertrieb sie von dort die Streitlust des grossen,
jetzt hinfäUig gewordenen Matebeieherrschers Mosilikatse ; allein
eine kleine europäische Colonie vermöchte ihnen dort leicht wie-
der Schutz zu geben, und sie könnte das fette, aber durch seine
Fieber schädliche Barotsethal wieder verlassen. Dorthin ist Living-
stone jetzt im Begriff wieder abzugehen, indem er versuchen will,
den Zambesi mit einem Dampfer aufwärts zu befahren. Dieser
Strom, den der Entdecker bei seiner Vereinigung mit dem Kafue
zum erstenmale wiedersah, fhesst von dort in einem von hohen
Gebirgszügen eingeengten Thal bis zur Küste und wird nur noch
durch kleine Katarakte oberhalb der jetzt äussersten portugiesischen
Station Tete unterbrochen, wie Livingstone leider zu spät erfuhr,
da er gerade diese Stelle des Stromes durch einen Seitenmarsch
umgangen hatte. Der Zug des Entdeckers und seiner mit Elfen-
beinzähnen beladenen Makololo stiess auf sehr geringe Schwierig-
keiten. Als man, die Gränzen des Makololoreiches überschritt,
besorgte man auf feindlichen Empfang von Seiten der Batoka-
stämme zu stossen , die von Sebituane unterworfen , sich später
befreit hatten. Auch kam es in dem ersten freien Dorfe zu
drohenden Auftritten. Doch schon beim nächsten schwanden alle
Besorgnisse, da die Batoka sich der merkwürdigen Karawane
günstig erwiesen. Auch am untern Zambesi, und zwar abermals
hart an der portugiesischen Gränze, schienen sich die Eingebornen,
welche mit den Europäern kurz zuvor in Fehde gelegen hatten,
dem Vordringen Livingstones und namentlich seiner Kreuzung des
Flusses zu widersetzen ; allein als man erkannte, dass der Häupt-
ling des Zuges kein Portugiese sei, sondern zu der grossen neger-
freundhchen Nation der Britten gehörte, liehen die Eingeborenen
willig ihre Fahrzeuge zum Uebersetzen der Entdecker.
Livingstone's grossen Thaten verdanken wir plötzlich die Be-
kanntschaft einer Terra incognita von 15 geographischen Graden
von Nord nach Süd, und mindestens 10°, von West nach Ost
gerechnet. Er ist der erste europäische Reisende, welcher in die-
Die grossen Entdeckungen in den Jahren 1849 — 1856. 183
sem Sinne das Innere des Festlandes von einer Küste zur andern
durchzogen hat. Mit seinen Beobachtungen fallen die Vorstellun-
gen, als sei Afrika ein wasserloses , von der Sonne versengtes
Tiefland. Die Pracht der Vegetation und die Fülle animalischer
Belebung gleicht ganz dem Reichthum Brasiliens, Wie es nicht
anders zu erwarten war, stiess der Entdecker nur auf wenig ent-
wickelte Negerreiche, denen gegenüber selbst die Makololo wie
Civilisatoren erscheinen. Für die Zukunft vor allem wichtig ist
die Entdeckung eines hoch gelegenen gesunden Prairienlandes,
welches sich von dem Zambesi aus leicht und ungefährlich wird
erreichen lassen. Fassen dort Europäer erst Fuss, so wird kein
Raum des geheimnissvollen Festlandes für uns länger ein Räthsel
bleiben. Es ist jetzt überhaupt nur noch die schmale äquatoriale
Zone zwischen 5° nördl. und 10° südlicher Breite übrig, welche
noch als unbetretener leerer Raum auf unsern Karten erscheint;
aber während wir schreiben, wird von drei Seiten auch diese
letzte Domäne geographischer Geheimnisse eingeengt. Dr. Vogel,
über dessen angebliche Hinrichtung noch kein hinreichend glaub-
würdiges Zeugniss vorliegt , befand sich in Wadai , im Südosten
des Tsadsees, der Piemontese Brün Rollet ist auf dem Wege, die
westlichen Ursprungsgewässer des Nil jenseits des 4.° nördl. Br.
zu untersuchen, und der waghalsige Burton, welcher sich bis zur
Kibla in Mekka gedrängt und Härrar in Ostafrika zuerst erreicht
hat, befindet sich, mit einem Fahrzeuge bewaffnet, auf dem Marsch
von Sansibar ins Innere nach dem fabelhaften Binnenmeere Nyassa
oder Ukerewe, von dem so abenteuerUche Sagen in Umlauf gesetzt
wurden. Das ist auch immer die wichtigste Folge grosser Ent-
deckungen gewesen, dass sie unmittelbar zu weiteren Thaten
führten, besonders wenn grosse Reisende glücklich und ruhm-
bedeckt heimkehrten.
II.
Zur mathematischen und physischen
Geographie.
1. Ueber die Pluralität der Welten.
I.
(Ausland 1855. Nr. i. 5. Januar.)
Am Ende des Jahres 1853 erschien in J-.ondon unter obigem
Titel (Of the pluraHty of Worlds, an Essai) ein kleines Buch von
297 Seiten, welches lange unbeachtet blieb, bis man erfuhr, der
Verfasser sei der berühmte Whewell. Da die Schrift in antiplu-
ralistischem Sinne verfasst war, so erschienen bald darauf einige
Streitschriften gegen die Ansichten des berühmten Naturforschers,
und unter diesen war die bedeutendste von Sir. David Brewster
unter dem Titel: ,,Mehr als eine Welt - ein Glaubenssatz der
Philosophen und die Hoffnung der Christen." Man sollte nach
dem ersten Ueberlegen meinen, jeder Christ könne sich nur die
antipluralistische Entscheidung der Frage aneignen, und zwar aus
demselben Grunde , als die Kirche wohl mit Bedauern das Pto-
lemäische System durch Copernikus zertrümmert sehen musste.')
Die Erde war nicht mehr, wie im Mittelalter, das Centrum der
bewegten Welt ; nicht um sie herum kreisten Sonne, Mond und
i) Wenn man doch endlich aufhörte, das Verbot der Galileischen Lehren
der röniischen Kirche als ein Verbrechen des Obscurantismus vorzuwerfen. Co-
pernikus, der früher als Galilei die Sonne zum Stehen brachte und die Erde
bewegte, ist nie von der Kirchencensur getroffen worden. Warum nicht er,
sondern Galilei ? Offenbar desswegen, weil Galilei seine richtige Lehre benützte,
um sie gegen den Bibeltext in den Streit zu führen. Es waren also die pole-
mischen Stellen im Dialogo, welche Galilei die Verfolgung zuzogen. Man
proscribirte nicht den Lehrsatz, sondern die Folgerungen, zu denen er benutzt
wurde. Vgl. A. v. Reumont, Beiträge zur ital. Geschichte. Berlin 1853.
Bd. I. S. 306 ff.
jgg Zur mathematischen und physischen Geographie.
Planeten und die Sphäre der Fixsterne, sondern sie verlor sich
als ein unbedeutendes Individuum im Universum und erschien als
dienstbarer Körper innerhalb eines geordneten Systemes. Wenn
nun die neue Wissenschaft den Erdball als den wahrscheinlich im
Sonnensystem, und vermuthlich im Universum einzig bewohnbaren
Körper darstellt, so giebt sie ihm jene bevorzugte, ich möchte
sagen exclusive Stellung wieder zurück, die ihm seit Copernikus
abhanden gekommen war. Im kirchlichen Sinne sollte man also
dem AntipluraUsten im voraus Recht zuerkennen. Allein in
England denkt man anders. Man kann die Vorstellung von der
Pluralität der Welten nicht aufgeben , weil man das Bedürfniss
fühlt, deft Schauplatz eines zweiten höheren Lebens örtlich vor-
handen und wahrnehmbar zu denken. Nun trifft es sich aber
zufällig, dass der Antipluralist Whewell zu den streng Gläubigen,
Sir David Brewster aber mehr zu den sogenannten Freidenkenden
zählt. Im i8. Jahrhundert hatte Thomas Payne die vielbestrittene
Frage mit der Schärfe seiner Logik zerhauen : ,,die Annahme
einer Mehrheit von Welten, sagt er, zieht den überlieferten Glau-
ben ins Gemeine und LächerHche, und zerstäubt seine Trümmer
wie der Wind einen Federhaufen auseinanderjagt. Der eine und
der andere Glaube können nicht miteinander bestehen, und wer
zwei Welten zu gleicher Zeit denkt, der hat weder über die eine
noch über die andere nachgesonnen." Der Prediger Dr. Chalmers
dagegen versicherte in seinen astronomischen Vorlesungen, die er
im Jahre 1807 zu Edinburg hielt, in den siderischen Welten sei
jenes Paradies zu suchen, welches alle Theologen angenommen,
von Buddha bis auf Swedenborg ! Man wird sich noch mit einigem
Vergnügen erinnern, dass im Jahre 1836 in mehreren Sprachen
eine kleine Schrift erschien, worin der Name Sir John Herschels
missbraucht wurde. Der grosse Astronom sollte von dem Obser-
vatorium am Gap der guten Hoffnung durch seine Gläser Bewoh-
ner des Mondes entdeckt haben , die ein Mittelding zwischen
Mensch und Fledermaus vorstellten. Es fehlten der kurzweiligen
Mystification bekanntlich nicht illuminirte Abbildungen, und eine
Zeitlang gab es viele, die sich von der ersten Betroffenheit nicht
recht erholen konnten.
Der echte Gelehrte wird vielleicht mit einigem Widerwillen
auf die wiederholte Anregung jener philosophischen Streitfrage
blicken. Denn entschieden kann sie jetzt nicht werden, entschie-
Ueber die Pluralität der Welteu. igg
den wird sie vielleicht nie. Von der dialektischen Gewandtheit
der streitenden Parteien wird also der momentane Sieg über
schwankende Gemüther abhängen. Ein solcher Sieg aber bleibt
ohne Werth für die Wissenschaft. Indessen sollte man nicht
allzustreug dergleichen Bemühungen verurtheilen. Lockt auch am
Schlüsse nicht der Gewinn einer neuen Wahrheit, so übt sich doch
das 'Denken im Laufe des Processes und der Verstand gewöhnt
sich an den kritisch richtigen Gebrauch der Analogien.
Hören wir den Pluralisten Sir David zuerst, so lehrt er uns
vor allen Dingen, dass nur ,,wenn wir die Welten mit lebendigen
imd denkenden Wesen bevölkern, ihrem Dasein ein Zweck gegeben
werden könnte." ,,Das Leben sei beinahe eine Eigenschaft der
Körperwelt. Wo ein Körper sich findet, da rege sich auch Leben :
sinnliches Leben, um die Schönheit der Welt zu gemessen, Ge-
müthsleben zur Anbetung des Schöpfers , und Verstandesleben-,
um seine Weisheit zu verkündigen." ,,Wie könne man sich nur
vorstellen, dass die Erde , ein unbedeutender Punkt im All , ein
Planet, den nichts besonderes auszeichnet, der in unserem System
weder den Mittelpunkt bilde, noch in grösster Sonnennähe sich
befinde, der ausschliessliche und privilegirte Sitz des geistigen und
animahschen Lebens sei? Dürfe man behaupten, dass Jupiter zum
Beispiel nach seinen Massenverhältnissen ein Gigant, und in die
Mitte unseres Systems gestellt, keine uns ähnlichen Bewohner
tragen sollte? Sei man zu der Vermuthung befugt, dass die Fix-
sterne mit den Planeten, die sie begleiten, und ihren vermuthlichen
Satelliten ihre täglichen, jährlichen und säcularen Bewegungen voll-
ziehen, ungesehen und unbeobachtet eine Aufgabe erfüllen sollten,
welche der menschliche Verstand nicht zu erfassen vermöge? Man
denke sich Licht, das nichts erleuchte, Feuer, die nichts erwärmen,
Wasser, die keinen Durst stillen, Wolken, die nichts beschatten,
und Lüfte, die niemand erquicken !"
Es ist ein mächtiger Geist, den Sir David heraufbeschwört:
der menschliche Schauder vor dem Leeren. Und dieser Schauder
wird uns um so unerträgUcher bei der Vorstellung von der Un-
endlichkeit des Raumes und seiner Erfüllung mit bewegten oder
sich bewegenden Körpern. Aber es giebt noch etwas, was ebenso
unendHch ist als der Raum, nämlich die Zeit. Die Leere in der
Zeit und die Leere im Raum mögen auf unser Fassungsvermögen
die gleichen Eindrücke hervorbringen. Der Antipluralist hat daher
igo
Zur mathematischen und physischen Geographie.
einen geschickten Zug gethan, wenn er die Vorstellung von der
Unendlichkeit der Zeit als Zeuge gegen den Raum beschwört.
,,Was die räumliche Ausdehnung der astronomischen Ent-
deckungen betrifft, entgegnet Whewell, so bemerke ich nur, dass
ihnen die geologischen nichts schuldig bleiben. Sie breiten sich
in der Zeit aus, wie die astronomischen im Räume; sie tragen
uns zurück über MilHonen Jahre, das heisst hinter Millionen Erd-
umläufe, wie uns die Astronomie hinausträgt über Millionen Erd-
bahndurchmesser. Die Geologie füllt mit Begebenheiten das Ge-
biet der Dauer, wie die Astronomie das Gebiet des Raumes mit
Körpern füllt. Von der Wirkung zur Ursache zurückweichend,
rollt die Geologie vor uns auf die Unendlichkeit des Vergangenen,
wie die Astronomie die Unendlichkeit der äusserlichen Welt uns
entschleiert durch die Progression der geometrischen Formeln.
Die Astronomie wandert von einem Punkte des Alls zum andern
durch eine Verkettung von Dreiecken, die Geologie strebt zurück
von einem Abschnitt der terrestrischen Geschichte zum andern,
durch Verkettung der mechanischen und organischen Gesetze.
Wenn sich die eine auf geometrische Lehrsätze stützt, so steht die
andere auf den Axiomen des ursächlichen Zusammenhanges.
Der Mensch ist ein ebenso unbedeutendes Wesen im Vergleich zu
den Zeiten wie zum Raum. Das Menschengeschlecht füllt eben-
sogut nur ein Atom der Zeit aus, wie es nur ein Atom im Räume
erfüllt. Wenn unsere Erde, die Wohnstätte des Menschen, nur
ein Punkt im unendlichen All ist, so ist die Gegenwart der
Menschheit auch nichts weiter als ein Punkt am Ablauf einer un-
endlichen Zeit. Wenn wir nichts sind gegen die UnermessUchkeit,
die uns umgiebt, so sind wir auch nichts vor der Ewigkeit der
verflossenen Zeit, vor der Ewigkeit des verflossenen Lebens, das
vergangen war, bevor wir erschienen, als die Erde schon bestand
und Leben über ihre Fläche sich verbreitete. Wenn die Mensch-
heit nur eine kleine Familie bildet neben einer Unendlichkeit
anderer, möglich gedachter Familien auf den Welten, die uns
Gesellschaft leisten, so ist sie auch nur eine kleine Familie neben
den unzähHgen Geschwadern wirklicher Thiere, denen sie auf
der Erde nachgefolgt ist. Wenn die Planeten bewohnte Körper
sein können, so wissen wir mit Sicherheit, dass die Meere, aus
denen unsere Gebirge auftauchten , mit lebendigen Wesen bevöl-
kert waren."
Ueber die Pluralität der Welten.
191
Soweit gehen die dialektischen Beweise der AntipluraUsten.
Whewell ist übrigens zu besonnen, um trocken zu behaupten, es
kann keine bewohnte Welt ausserhalb der Erde geben. Er sagt
nur, man bringe keinen Beweis dafür, dass es bewohnte Welten
wirklich gebe. Wohl aber gäbe es Gründe, welche die Bewohn-
barkeit der uranologischen Körperwelt sehr bezweifeln Hessen.
Zuerst inüsse man ganz absehen von den Fixsternen. Wenn man
sie mit unserer Sonne vergleiche, so sei es eine ebenso wohlfeile
als voreilige Vermuthung. Kaum dass wir aus den Veränderungen
ihres Lichtes bei einer sehr kleinen Zahl wissen, dass sie irgend-
wie sich bewegen. Ob diese Sonnen auch Planeten haben, ist
noch Ungewisser. Der berühmte Astronom Struve hat nachgewie-
sen, dass mindestens ein Viertel, vielleicht sogar ein Drittel sämmt-
licher Fixsterne sogenannte Doppelsterne sind , also solche , die
sich um ihren geraeinsamen unsichtbaren Schwerpunkt drehen.
Es möchte aber sehr schwierig für unser Verständniss ihrer Be-
wegungen sein, wenn wir solche Sterne noch mit einem Planeten-
inventar ausstatten wollten. Auch A. v. Humboldt sagt im Kos-
mos entschieden, dass kein triftiger Grund vorhanden sei, sich die
Fixsterne in Begleitung von Planeten zu denken , ebenso wie die
Sonnenplaneten theils einsam, theils in Begleitung von Satelliten
auftreten.
Sir David denkt sich den dunklen Sonnenkörper dicht be-
völkert mit Wesen höherer GottähnUchkeit , die zum Zeitvertreib
durch die veränderlichen Oeffnungen des Sonnenlichtmantels (Son-
nenflecken) die Individuen des Weltalls betrachten. Die Sonne
strahlt aber von jedem Quadratfuss ihrer Oberfläche den sieben-
fachen Wärmewerth unserer stärksten Glühofen aus. Das specifi-
sche Gewicht der Sonne ist etwa so gross, als das des Wassers,
und beide Umstände müssen den Sonnengespenstem ihr Dasein
sehr heiss und schlüpfrig machen.
Nach der Analogie der terrestrischen Verhältnisse müssen wir
das Dasein von Organismen leugnen , wo sich nicht die Mütter
des organischen Lebens finden, nämlich Luft, Wärme und Feuch-
tigkeit. Um nun beim Mond zu beginnen , so zeigt er keine
Spuren von Anwesenheit des Wassers, und wenn er wirklich eine
Atmosphäre besitzt, so ist sie tausendfach dünner als die unsrige.
Nach Whewells Schilderung ist dieser Satellit nur ein ungeheurer
102 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Schlackenhaufen, eine Schichtung vertrockneten Schlammes und
erstorbener vulkanischer Trichter.
Unter den Planeten gewähren Neptun, Uranus, Saturn und
Jupiter wegen ihrer grössern Entfernung von der Sonne und ihrer
geringen specifischen Schwere den Organismen kein gastliches Obdach.
Denn wenn Neptun und Uranus so schwer, und Jupiter etwas
schwerer ist als Wasser , so würde Saturn auf dem Wasser hin-
schwimmen wie ein hölzerner Apfel. Nach Whewell ist Saturn
eine mit Wasser gemischte Nebelsphäre, und wenn sich wirkhch
Wesen dort linden, so müssten es wahre Schlamm- und Regen-
geister aus gallertartigen Substanzen sein.
Sir David Brewster hatte eine besondere Vorliebe für, Jupiter
gefasst, und er sucht den Jupiterianern das Dasein so erträgUch
als möglich zu machen. Bei seiner Entfernung von der Sonne
ist die Wärme, welche der Planet von dem Centralkörper em-
pfängt, viel zu gering, um organisches Leben zu erwecken.
Diesen Mangel deckt Sir David durch die Hypothese einer inner-
lichen starken Jugendwärme des Jupiters. Wenn man ihm ein-
redet, dass das Sonnenlicht, welches zum Jupiter gelange, fünfmal
schwächer sei als das unsrige, wesshalb Wesen unserer Art dort
in völliger Dämmerung umhertappen möchten, so versieht er be-
hend die Jupiterianer mit einer fünfmal grösseren Pupille und einer
fünfmal empfindlicheren Netzhaut. Zu solchen Thorheiten kann
ein geistreicher Mensch sich hinreissen lassen, wenn er beweisen
will, was er zu behaupten nirgends den Beruf besass ! Selbst die
Asteroiden , von denen manches nicht grösser ist als unser zur
Kugel geformter Montblanc, lässt Sir David nicht in Ruhe, son-
dern dringt ihnen seine Heerschaaren zur Miethe auf!
Von den innern Planeten der Erde muss zuerst die Unbe-
wohnbarkeit des Merkur wegen seiner allzugrossen Sonnennähe
und seiner specifischen Schwere, welche dem Golde gleich kommt,
anerkannt werden. So bleiben denn nur der innere und der
äussere Nachbar der Erde , Venus und Mars, als Wohnungen
übrig. Aber bei beiden sind doch grosse Unterschiede bezüglich
ihrer und der terrestrischen Atmosphäre vorhanden. Wir können
uns nicht versagen, aus dem uranologischen Theil des Kosmos
hier ein paar Worte einzuschalten. „Die Analogien, sagt Hr. v.
Humboldt, welche Mars mit der Erde darbietet, sind ganz mete-
orologischer Art. Ausser den dunklen Flecken, von denen
Ueber die Pluralität der Welten.
^93
einige schwärzlich, andere aber in sehr geringer Zahl, gelbroth
und von der grünlichen Contrast-Farbe sogenannter Seen
umgeben sind, erscheinen auf der Marsscheibe noch, sei es an den
Polen , welche die Rotationsaxe bestimmt , sei es nahe dabei an
den Kälte-Polen, abwechselnd zwei weisse, schneeglänzende Flecken.
Die weissen Flecken werden wechselweise grösser oder kleiner,
je nachdem ein Pol sich seinem Winter oder Sommer nähert.
In den physikalisch-astronomischen Beiträgen von Mädler und
Beer sind vortreffliche graphische Darstellungen der Nord- und
Süd-Halbkugel des Mars enthalten ; und diese merkwürdige , im
ganzen Planetensysteme einzige Erscheinung ist darin nach allen
Veränderungen der Jahreszeiten und der kräftigen Wirkung des
Polafsommers auf den wegschmelzenden Schnee durch Messungen
begründet worden. Sorgfältige zehnjährige Beobachtungen haben
auch gelehrt, dass die dunklen Marsflecken auf dem Planeten
selbst ihre Gestalt und relati^'e Lage constant beibehalten. Die
periodische Erzeugung von Schneeflecken, als meteorischen,
von Temperaturwechsel abhängigen Niederschlägen, — einige
optische Phänomene, welche die dunklen Flecken darbieten, sobald
sie durch die Rotation des Planeten an den Rand der Scheibe
gelangen, machen die Existenz einer Mars- Atmosphäre mehr als
wahrscheinlich."
Nichts erweckt wohl für unsere terrestrische Vorstellung ein
grösseres Gefühl der Heimathlichkeit beim Anblick des Mars, als
dass wir wissen, es gebe dort Wolken und Sonnenschein, Regen
und Schnee, heisse und kalte Zonen , Flüsse und Seen. Sind wir
aber desswegen berechtigt, dort das Dasein von Wesen zu ver-
muthen, die empfinden und begreifen wie wir?
Venus und Mars, sagt Whewell, liegen uns im Räume etwa
so nahe, als in der Zeit die zoologische Gegenwart der Erde der
tertiären Periode, und während dieser haben unzählige Massen be-
lebter '\^'esen existirt , ehe der Mensch erschien. Die Nachbar-
schaft zweier ähnlicher Planeten lässt vielmehr vermuthen , dass
die Erde gleichsam das Mittelglied der ganzen Kette bilde und
dass der vollkommenste Träger des organischen Lebens, nämlich
der Mensch, sich allein auf dem Erdball finde, während Venus
sich zu sehr der tropischen und Mars zu sehr der arktischen Zone
des Sonnensystems (wenn diese Ausdrücke erlaubt sind) nähert.
Der Schlusssatz des englischen Antipluralisten lautet daher: Die
Peschel, Abhandlungen. U. 1 1
194
Zur mathematischen und physischen Geographie,
Erde liegt in dem Mittelpunkt der gemässigten Zone des Sonnen-
systems , und sie ist innerhalb dieses Systems unter den Körpern
der höheren specifischen Schwere der beträchthchste ; sie allein
■war vorbereitet als häuslicher Herd im Weltall , und an diesem
Herd hat sich die Menschenfamilie niedergelassen.
(Ausland 1S55, Nr. 52. 28. Decbr.)
Wir haben des lebhaften Streites gedacht, der in England in
Folge einer anonymen Broschüre geführt wird , in welcher der
berühmte Geolog Whewell nachwies, dass, soweit unsere jetzigen
Kenntnisse reichen, wir weit eher berechtigt sind, unsere Erde als
den einzigen Träger lebendiger Wesen, als andere Gestirne für
bevölkert zu halten. Der Antiplurahst ist mit dieser Ansicht ver-
einzelt geblieben, während eine Fluth von Gegenschriften ihn zu
widerlegen suchte. Ausser Sir David Brewster ,,mehr Welten als
eine" hat der Professor der Geometrie an der Universität zu
Oxford, der Ehrw. Baden - Powell , eine ,, Einheit der Welten und
Philosophie der Schöpfung", und der Astronom der indischen
Compagnie W. S. Jakob „einige Worte mehr über die Mehrheit
der Welten" im ])luralistischen Sinne veröffentlicht. Zuletzt ist
auch noch das Edinburgh Review gekommen. Vor allen Dingen
muss man staunen über die Leidenschafdichkeit, womit der Streit
geführt wird. Einer der Essayisten verdächtigt sogar den grossen
Geologen, der, nebenbei gesagt, sehr orthodox ist, einer Art unsitt-
lichen Sophismus, und es fehlt wahrhaftig wenig, dass man den
anonymen Autor nicht geradezu der Ketzerei beschuldigt.
Nichts kann wohl klarer sein als , dass jeder Theolog der
antipluralistischen Theorie sich zuneigen wird. Ein Christ muss
sich sagen, dass Gott durch die Sendung seines Erlösers unser
Menschengeschlecht auf eine geradezu unerhörte Art ausgezeichnet
hat. Die Kirche und die Bibel vertrugen sich vortrefflich mit dem
aristotelischen System. Die Erde war der Mittelpunkt der Welt,
um den sich alle Gestirne drehten, Sonne und Planeten wandelten.
Kopernikus vernichtete dieses System, und die Erde wurde ein
untergeordnetes Glied eines Sonnensystems, welches allem Vermu-
Ueber die Pluralität der Welten,
'n
then nach wieder einem grösseren Ganzen angehört , das wieder
nichts für sich, sondern nur ein kleines Fragment unter den Welten
des Firmaments bildet. Wenn nun ein Philosoph die Kühnheit
hatte, unsern Erdball unter diesen Millionen Gestirnen als den
einzig bewohnbaren zu preisen, so konnte gewiss nichts orthodoxer
sein. Allein die Mehrzahl der Menschen denkt anders. Sie meint,
die Herrlichkeit Gottes und seiner Schöpfung nehme gleichsam
arithmetisch zu, wenn die Millionen Welten Millionen organischer
Schöpfungen trügen. Alle ihre Einwendungen laufen auch zuletzt
auf den Satz zurück : wozu wären jene Welten vorhanden , wenn
sie nicht bewohnt würden? Man sieht, es sind Zweckmässigkeits-
rücksichten, welche die Plurahsten zu ihrer Hypothese nöthigen.
Sie stellen sich den Schöpfer vor wie einen Häuserspeculanten,
der gewiss aus ökonomischem Instinct nicht so viel Wohnungen
errichtet haben wird , damit es ihm zuletzt an Miethbewohnern
fehle. Solche Egoisten sind wir! Wenn die Welten nicht für
Wesen unseres Schlages gebaut wären, welchen Zweck könnten sie
haben? Dass sie um ihrer selbst willen da seien, dass sie Zwecken
dienen können, die wir nicht begreifen , oder die nun einmal die
Natur sich vorgenommen hat, unserer Spürkraft zu verhüllen, das
fällt dem Völkchen nie ein.
Der Glaube an eine Bewohnbarkeit anderer Gestirne ist für
den Psychologen von ungewöhnlichem Interesse, denn man ertappt
gewöhnlich dabei die Menschen , ohne dass sie es wähnen , auf
Gelüsten einer Seelenwanderung. Die SentimentaUtät kann sich
nicht beruhigen bei dem ,, dummen Wort: vorbei!" Alle versagten
Lieblingswünsche sollen in irgend einem andern Dasein zur Er-
füllung kommen. Der unsterblichen Seele wird dann ein ,, lichte-
res Gewand" angezogen, als hätte sie noch Geschlecht und Leib,
sie erwacht dann zu einem „reineren Dasein", nicht zu jenem
Dasein, an welches der Christ allein glauben darf, sondern zu
einem zweiten verfeinerten, wie die Brahmanen voraussetzen. Für
diese zweite verbesserte Auflage sucht der empfindsame Mensch
diesen oder jenen funkelnden Stern, den Sirius, die Capella, die
Vega, oder einen andern Edelstein des Firmaments, oder auch
irgend einen obscuren dritter oder vierter Grösse, denn ,,Raum
ist in der kleinsten Hütte etc." Natürlich ist es ein höchst un-
populäres, also auch ein müssiges Unternehmen, wenn ein Natur-
forscher auftritt , upd den lieben Leuten verräth , es sei kein
13*
Iq6 Zur mathematischen imd physischen Geographie.
Quartier für sie auf irgend einem leuchtenden Punkt des strah-
lenden Himmels.
Gegen Whewells Gründe selbst hat man nicht ein einziges
stichhaltiges Wort vorgebracht. Doch wir irren vielleicht. Capitän
Jakob und der Essayist des Edinburgh Review haben den Anti-
pluralisten glänzend besiegt , nämlich durch folgendes Beispiel :
Man denke sich eine Urne, in der, wie man weiss , tausend
Kugeln einer unbekannten Farbe verborgen liegen. ¥.s zieht je-
mand eine Kugel, und diese Kugel ist schwarz. Nach allen
Lehren der Logik wird nun derjenige, welcher behauptet, dass alle
tausend Kugeln schwarz seien, die grösste Wahrscheinlichkeit für
sich haben. Kommt aber einer und sagt, ich vermuthe dennoch,
dass 999 Kugeln weiss, und die einzige, welche gezogen worden
ist , eine schwarze sei , so wird er aller Wahrscheinlichkeit nach
tausendmal eher Unrecht als Recht haben, weil es tausendmal
unwahrscheinUcher wäre, dass die einzige schwarze, statt einer der
999 weissen Kugeln gezogen worden wäre. Nichts kann richtiger
sein als diese Sätze, die kein Mensch bei gesunden Sinnen be-
streitet. Nun gestehen Pluralisten und Antipluralisten zu, dass sie
etwas sicheres über die Bewohnbarkeit von Planeten, Sonnen und
Gestirnen nicht wissen. Sie wissen allein, dass unter diesen Mil-
lionen Millionen Körpern der einzige bekannte die Erde und diese
Erde bewohnbar sei, dass also millionenmal millionenmal die
pluralistische Theorie wahrscheinhcher sein müsse, als die anti-
plurahstische.
Wir wissen nicht, was Whewell auf diesen Einwurf noch ant-
worten wird. Wir ahnen aber , dass tausend unserer Leser
sprachlos im ersten Augenblick bleiben werden, wo sie jenen dia-
lektischen Streich empfangen, wir besitzen aber das gute Zutrauen,
dass sie sich im nächsten Augenblick erholt haben und ausrufen
werden : das ist ja der glänzendste Beweis für Whewells antiplu-
ralistische Theorie ! Das Kugelbeispiel lehrt uns, dass es millionen-
mal millionenmal wahrscheinlicher ist, es verhalte sich mit der
Bewohnbarkeit anderer Himmelskörper genau so, wie mit der Erde,
als anderswie, und gerade das wollte ja Whewell beweisen.
Dass die Erde bewohnbar ist, wissen wir alle. Der Geolog
weiss aber noch mehr, er weiss, dass sie lange Zeit nicht bewohn-
bar gewesen sei. Er kann die Zeitdauer nicht ahnen , welche
verfliessen musste, ehe die geballte Dunstmasse , aus welcher die
Ueher die Pluralität der Welten.
[97
Erde entstand, sich verdichtete. Er vermag zu ahnen — aber
nur zu ahnen, nicht auszusprechen — welche Zeit mit der Bildung
der ältesten Gebirge verstrich. Er weiss schon etwas mehr über
die Schöpfungsdauer der geschichteten Gesteine. Diese Gesteine
ordnet er bekanntlich in grosse Zeitalter. Welcher Abstand in
Jahren aber uns von einem einzigen dieser Zeitalter trennt, ist
annähernd berechnet worden. Die Pflanzen der Steinkohlenperiode
bedurften einer mittleren Temperatur der Erde von 2 2 ° R. Die
Erde hat sich seitdem um 14° R. abgekühlt. Zu dieser Abküh-
lung aber waren nach den Versuchen über das Abkühlungsver-
hältniss der Laven und des geschmolzenen Basaltes 9 MiUionen
Jahre und für den Uebergang der Erde aus ihrem flüssigen in
festen Zustand 350 Mill. Jahre erforderlich. So schreitet der Geo-
log hinweg über untergegangene Pflanzen und Thiergeschlechter,
die jedes wieder einen unendlichen Raum in der Zeit füllen, ehe
er als letztes Geschöpf des Menschen habhaft wird. Gewiss ist,
dass die Menschheit viel älter ist als man sie früher gehalten.
Unser chronologisches Wissen reicht zurück bis 3000 Jahre vor
Christi Geburt, wo wir die Aegypter bereits in einem geordneten
Staatswesen, im Besitz der Baukunst, und, was wichtiger ist, eines
Kalenders finden. Welche Zeit musste verstreichen, ehe eine
solche Civilisation sich bildete? Man kann das Mass des erforder-
lichen chronologischen Raumes aber noch so weit ausdehnen,
sagen wir auf 30 Jahrtausende, was sind Jahrtausende gegen die
Zeitwerthe der Geologie? Die Erscheinung des Menschengeschlech-
tes auf dem Erdboden ist also der Zeit nach etwas ausserordent-
lich unbedeutendes, und nimmt im. Vergleich zur bekannten Ver-
gangenheit unseres Planeten kaum den Zeitraum ein, mit dem Ein
Blitz eine Nacht zu erhellen vermag. Die Pluralisten behaupten,
es empöre sich unser Verstand bei der Vorstellung, dass von den
Millionen Welten, die allmähUg am Firmament zum Vorschein
kommen, die Erde allein von vernünftigen Wesen bewohnt sein
solle. W he well entgegnet darauf, dass es eben so empörend sei,
die Erde sich durch Millionen von Jahrtausenden unbewohnbar
und dann nur so kurze Zeit bewohnt zu denken. Darauf hat
man nichts besseres zu erwidern vermocht, als dass der Geolog
die Dauer des Menschengeschlechts auf dem Erdboden nicht kenne.
Sir David Brewster hält sie sogar für unberechenbar. Allerdings
wissen wir darüber wenig oder nichts. Immerhin aber ist es
igg Zur mathematischen und physischen Geographie.
wichtig sich zu sagen, dass die Erde theilweise schon aufgehört
hat, für organisches Leben bewohnbar zu sein. Wir wissen längst,
dass einst das feste Land der arktischen und antarktischen Gürtel
eine reiche Vegetation bedeckte. Man hat sogar neuerdings, wenn
auch etwas voreilig, behauptet, dass die Mächtigkeit der Kohlen-
schichten von dem Aequator nach den Polen abnehme, gleichsam
als habe die Vegetation , also auch die Kohlenbildung , an den
früher erkalteten Polargegenden auch früher begonnen, als in der
damals für das Pflanzenleben noch allzuheissen tropischen Zone.
Man müsste sich also denken , dass die Erkaltung der Erde von
den Polen nach dem Aequator fortschreitet und dort einstmals das
organische Leben seinen Untergang finden werde. Dieser Process
wird natürHch ein äusserst langsamer sein , da bis jetzt eine Ab-
nahme der mittleren Temperatur auf der Oberfläche unseres Pla-
neten während der historischen Zeit noch nicht beobachtet werden
konnte. Allein ganz widersinnig ist es, dem Menschengeschlecht
eine ewige Dauer zuzutrauen, da uns die Geologie von dem
Untergang so vieler frühern Formen des organischen Lebens
berichtet.
Von einem einzigen himmlischen Körper , nämlich vom
Monde, wissen wir mit ziemlicher Sicherheit, dass er , weil ihm
jede Atmosphäre fehlt, eine ,, klanglose Einöde" sein müsse. Nicht
so der Pluralist im Edinburgh Review. Er beruft sich, aber mit
Unrecht, auf die Autorität Sir John Herschels, welcher es in Un-
gewissheit lässt , ob sich dennoch nicht etwas wie die Wirkung
einer Atmosphäre am Monde entdecken lasse. Wie sehr sich aber
die Pluralisten in ihrem Eifer Blossen geben , mag man aus dem
Einwand schliessen, den Prof. Baden-Powell gegen die Abwesen-
heit einer Mondatmosphäre vorgebracht hat. Er beruft sich auf
eine neue Entdeckung des Astronomen Hansen , welcher durch
seine Beobachtungen auf die Vermuthung gekommen ist, dass der
Schwerpunkt des Mondes von der Erde um 6 geogr. Meilen ent-
fernter liege als der geometrische Mittelpunkt des Mondes, so dass
also die Seite, welche der Mond uns zukehre, stärker gewölbt sei
als die abgewendete Halbkugel, woraus erklärt werden soll, wess-
halb der Mond, in derselben Zeit, als er um die Erde sich bewegt
gleichzeitig eine Umdrehung um seine eigene Achse vollbringe.
Der Oxforder Gelehrte meint nun : wenn sich das so verhielte,
so müsste nothwendig alle Luft und alles Wasser nach der De-
Ueber die Pluralität der Welten.
199
pression des Mondes, das heisst auf seine von der Erde abgewen-
dete Fläche laufen , und es sei möglich , dass während die uns
zugekehrte Seite des Mondes organisch leblos , ohne Luft und
ohne Wasser sei, die andere Hälfte unter Pflanzenwuchs strotze!
Mit solchen Phantastereien beantworten die ergrimmten Pluralisten
die nüchternen Sätze des grossen Geologen ! Es ist kürzlich von
uns erwähnt worden, dass der Tag auf dem Mond zwei Wochen
dauere und eben so lang die Nacht, dass daher ein so grosser
Unterschied von Kälte und Hitze an der Oberfläche des Mondes
entstehen müsse , dass das (nicht vorhandene) Wasser im Lauf
eines Tages auf dem Monde zu sieden und das Quecksilber in
der i4tägigen Nacht gefrieren müsse. Man stelle sich bei solchem
Wechsel der Temperatur einen strotzenden Pflanzenwuchs auf dem
Monde vor.
Darin ist aber Whewell vielleicht zu weit gegangen , dass er
die Bewohnbarkeit des Mars und der Venus bestritt. Wir wissen
über die Venus noch ausserordentlich wenig, indessen unsere besten
Autoritäten, die Herschel, Arago, Alex. v. Humboldt, Schröter,
Beer und Mädler, gestehen diesem Planeten wegen gewisser Er-
scheinung eines Däramerungslichtes eine Atmosphäre zu. Der
Mars endlich steht, wie es im Kosmos so schön heisst, der Erde
durch seine meteorologischen Aehnlichkeiten unter allen Planeten
am nächsten. Er ist mit Schnee an beiden Polen bedeckt, welche
vor den Wirkungen des kräftigen Polarsommers hinwegschmelzen.
Whewell meint dagegen, Mars gehöre schon der arktischen, Venus
der tropischen Zone unseres Sonnensystems an, und die Erde
allein bewege sich in dem temperirten Gürtel dieses Systems,
endlich lägen Venus und Mars uns im Raum etwa so nahe als
der Zeit nach die zoologische Gegenwart der Erde unserer tertiären
Periode. Hier hat Sir David Brewster wohl Recht , wenn er be-
hauptet, wir wüssten gar nicht, welche Wärme die Sonnenstrahlen
einem fernen oder nahen Planeten mittheilen könnten, und ob die
Temperatur, die sie erzeugten, im Quadrat der Abstände sich
-vermindere. Die eigene Wärme der Erde sei früher viel grösser
gewesen, und wir wüssten gar nichts über die eigene Wärme der
andern Planeten. Allein damit wird noch nicht der Grundgedanke
des grossen Geologen umgestossen, der in dem Satz besteht, dass
das organische Leben auf der Erde ein vergängliches sei, dass
die ehemals unbewohnbare Erde wieder unbewohnbar werden
200 '^"r mathematischen und physischen Geographie.
tnüsste, und dass diess analog auf alle übrigen Planeten bezogen
werden solle.
Vom Jupiter behauptet er ebenfalls, er könne schon desswegen
nicht bewohnt sein, weil das Sonnenlicht wegen der grossen Ent-
fernung dort niemals mehr als die Helligkeit eines Londoner Ne-
beltages zu erzeugen vermöge. Diess allein würde die Abwesen-
heit organischer Wesen nicht beweisen, nicht einmal dass ihnen
die Gabe des Gesichtes fehlte. Wir wissen nämUch, dass die Natur
durch Verschärfung der sinnlichen Organe solchen Mängeln leicht
abzuhelfen weiss. Bei der ehemaligen geringern Durchsichtigkeit
unserer Atmosphäre schuf die Natur Thiere mit so viel Augen,
dass sie sich auch in jener geologischen Dämmerung zurecht fin-
den konnten. Allein die Substanz der Jupitersoberfläche ist nur
etwas weniger dicht als das Wasser, während die Anziehungskraft
dieses Körpers so stark ist, dass ein menschlicher Körper, welcher
der Jupitersoberfläche nahe käme, mit der Geschwindigkeit des
Falles auf der Erde durch die Substanz des Jupiters hindurch nach
dessen Mittelpunkt gerissen werden würde. Wir müssten uns die
Jupitersbewohner, sagt Whewell malerisch, aus Gallerte geformt
denken, wenn sie auf jenem Planeten nicht einsinken sollten.
„Die uns gleichartigen Himmelskörper, die Planeten, bemerkt der
geistreiche Schieiden, bieten meistentheils so abweichende Verhält-
nisse dar, dass ein verständiger Mensch seine Phantasie zu etwas
besserem gebrauchen wird, als sich die Möglichkeit menschenähn-
licher Existenzen auf diesen Körpern zu entwickeln."
Es bleibt also noch die Sonne übrig , über deren Bewohn-
barkeit merkwürdigerweise wenig gestritten worden ist. Arago hat
der Hypothese einen vollständigen Paragraphen gewidmet. Man
sollte meinen, die hohe Temperatur vernichte dort jedes organische
Leben. Allein bekanntUch ist der eigentliche Sonnenkörper völlig
dunkel, und es ist nur seine gasartige Lichtsphäre, welche leuch-
tet und wärmt. Dieser Lichtmantel ist aber weit genug vom
Sonnenkörper entfernt, und es liegt auch zwischen beiden noch
eine dunstförmige Schicht, dass auf dem festen Kern der Sonne
eine sehr massige Temperatur herrschen kann , ja wir wissen aus
Erfahrung, dass sie wirklich herrscht, weil man thermometrisch den
Einfluss der Sonnenflecken und ihren erkältenden Einfluss gemessen
hat. Das Sonnenlicht selbst aber, meint Arago, möchte auf der
Oberfläche des Sonnenkörpers wegen der verhüllenden Dunst-
Ueber die Pluralität der Welten. 201
massen zwischen der Photosphäre und dem Centralkörper etwa der
Wirkung eines starken NordHchtes gleichkommen. Allein auch bei
der Sonne ist die geringe Dichtigkeit der Substanz, etwa ein Viertel
der der Erde , ein Hinderniss an ihre Bewohnbarkeit zu denken.
Von den Fixsternen wissen wir bekanntlich ausserordentlich
wenig. Wir wissen nur , dass ihr Licht nicht polarisirt sei und
darin dem Sonnenlicht gleiche. Wir kennen ferner die Abstände
von noch nicht einem Dutzend Fixsternen von der Erde, und
schliessen aus der Bewegung der Doppelsteme, dass auch sie den
Newton'schen Gesetzen gehorchen. Gleichen sie in allen Stücken
unserer Sonne, dann steht es sehr bedenklich mit ihrer Bewohn-
barkeit. Ob sie Planeten, Monde, Kometen, Zodiakallichter be-
sitzen, wissen wir eben so wenig. Der Analogie nach sollte man
es glauben, und die auf der British Association besprochenen
regelmässigen Störungen in den Bahnen von Doppelgestirnen
ermuthigen zu dieser Annahme. Dass sich auch dort die Vor-
bedingungen eines organischen Lebens , eine gewisse Temperatur,
eine gewisse Quantität Licht, Atmosphären und die Stoffe zur
Bildung organischer Wesen finden sollten, wer wird die Mög-
lichkeit bestreiten? Nur vergesse man nie, dass die Erscheinung
des organischen Lebens an die Zeit gebunden , eine ausserordent-
lich vergängliche ist. Nun wissen wir aber, dass das Licht, wel-
ches wir gleichzeitig am Firmament erblicken, chronologisch sehr
verschiedenen Ursprungs ist. Man hält sich überzeugt, dass Mil-
lionen Jahre verstreichen mussten, ehe das Licht von Sternen, die
weit von uns abstehen, unser Auge erreichte. Ehe der Lichtstrahl
zu uns kam, welche Veränderungen kann seitdem der leuchtende
Körper erlitten haben? Welche Veränderungen hat die Erde in
der Zeit erlitten, seitdem der Lichtstrahl entsendet wurde bis zu
dem Augenblick, wo er uns eiTeichte ? Das Licht, hat man vor-
trefflich gesagt, ist die älteste historische Urkunde vom Dasein der
Materie. Der Glanz eines Sternes lässt uns empfinden , was Mil-
lionen Jahre vor uns schon vorhanden war. Auch das Licht des
Firmaments hat seine Geschichte. Arago hat nach der Mehrzahl
der grünen Sterne auf der einen und andern Hemisphäre geschlos-
sen, dass die eine dem Verglühen oder Erlöschen näher sei als
die andere, wenn man nämlich annimmt, dass die farbigen Strahlen
sich langsamer bewegen als die weissen, Avas jedoch noch immer
eine Streitfrage geblieben ist.
202 '^"r mathematischen imd physischen Geographie.
Der zähe Glauben der Pluralisten flüchtet sich , wenn ihm
alle andern Einwendungen geraubt worden sind, gewöhnlich noch
zu der P'rage : ob es denn nicht möglich sei, dass jedes Gestirn
ein organisches Leben eigener Art haben könnte? Darauf lässt
sich freilich nur antworten : wir wissen so etwas nicht, wir wissen
nicht einmal, ob wir die Möglichkeit zugeben dürfen. Man ver-
suche, sich ein organisches Leben vorzustellen, ohne Atmosphäre,
ohne einen gCAvissen Grad der Dichtigkeit eines himmlischen
Körpers, ohne Licht, ohne Wärme, ohne die lebenbildenden Sub-
stanzen, ohne Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff.
Wir beneiden eine Phantasie, welche solche Schwierigkeiten über-
windet, denn wir selbst \ermögen uns bis zu dieser Höhe nicht
aufzuschwingen. Ein organisches Leben, welches wir nicht denken
und nicht uns Aorzustellen vermögen, möchte trotzdem vorhanden
sein ; vorhanden denken können wir es nicht, und was wir nicht
zu denken vermögen, kann für uns auch nie vorhanden sein.
2. Was ist eine Sonne?
(Ausland 1S65. Xr. 9. 4. März.)
Die Iiicas von Peru hatten ihre besondern Ansichten von
der Sonne. Sie wussten, dass die Sonne ein Gott und dass sie
zugleich der Ahnherr ihres Hauses sei. Aber auch unter den
Incas regten sich schon ketzerische Gedanken. Der vorletzte der
regierenden Monarchen von Peru zweifelte sehr stark an der Gött-
lichkeit seines Ascendenten , denn nach dem Einerlei ihrer Be-
wegungen , meinte er , gleiche die Sonne einem Stücke Vieh an
einer Leine. Solche ehrenrührige Dinge äusserte ein Inca in Peru
über die oberste Gottheit seines Reiches , als bereits die Spanier
den Rand der Südsee erreicht hatten ! Hätten die Spanier damals
schon einem dieser gekrönten Kinder der Sonne das photographische
Facsimile eines Sonnenfleckens mit den Nasmyth'schen ,, Weiden-
blättern" vorgelegt, dem Inca wäre gewiss bange geworden beim
Anblick seines Grossvaters , und er hätte vielleicht sich gedacht,
dass auch dort etwas faul sein müsse im Staate Dänemark.
Die meisten Sonnenflecken bestehen aus einem schwarzen
Kern (Umbra) und aus einem Schattenrande (Penumbra) um
diesen Kern, der dunkler als der Lichtmantel (Photosphäre) der
Sonne und heller als der schwarz erscheinende Fleckenkern ist.
Lange Zeit sti-itt man sich darüber, ob die Flecken Erhöhungen
oder Vertiefungen in dem Lichtmantel seien. Lalande meinte
noch , das Lichtmeer der Sonne erleide eine Bewegung wie Ebbe
und Fluth , und bei starken Ebben würden Felsen und Klippen
entblösst und erschienen uns wie schwarze Flecken.
Schon Galilei hatte bemerkt, dass wenn zwei Sonnenflecken
neben einander stehen und durch eine Lichtbrücke getrennt werden.
204 ^"'" "mathematischen und physischen Geographie.
dieser Isthmus bei der Bewegung vom Mittelpunkte nach dem
Rande der Sonne schmaler werden , ja gänzlich verschwinden
müsste , Avenn die Flecken der Sohne Anschwellungen des Licht-
mantels wären. Da jenes nicht der Fall ist, so schloss er, dass
die Flecken Vertiefungen sein müssten. In demselben Sinne sprach
Alexander Wilson die Ansicht aus, dass die Sonnenflecken trichter-
förmige Einsenkungen sein könnten. Der Kernflecken (Umbra)
würde also den inneren Mund, der Schattenrand (Penumbra) die
Wand des Trichters vorstellen. Sah man senkrecht in den Trichter
hinein, so war der Kernflecken von einem gleich breiten Schatten-
saum links und rechts , oben und unten umgeben ; bewegte sich
der Flecken hierauf nach dem rechten Rande der Sonne, so blieb
die rechte Trichterwand fast so breit wie sie war, die linke wurde
aber mehr und mehr verdeckt, wie es die Gesetze der Perspective
verlangen. Diese Lehre wurde jedoch bestritten , denn es kam
nicht immer vor, dass sich beim Fortrücken nach dem Rande
der Sonne die linke Seite des Schattenrandes schmälerte, sondern
sie blieb bisweilen so gross wie sie gewesen war. Der Astronom
Faye, dem wir die neuesten Arbeiten über die Sonne verdanken,
ist zu dem Ergebniss gelangt, dass unter loo Erscheinungen von
Sonnenflecken 8 1 die Lehre Wilsons bestätigen , 1 9 ihr Avider-
sprechen. Er selbst aber hat sich dafür entschieden , dass die
Sonnenflecken Vertiefungen sein müssen, Avenigstens machen gute
Stereoskopien der Sonnenflecken diesen Eindruck.
Die Sonnenflecken sind am häufigsten in der Aequatorialzone
der Lichtkugel, sie fangen an bei 30° heliocentrischer südlicher
oder nördHcher Breite selten zu werden und fehlen in den Polar-
räumen. Wenn wir irdische Vorgänge auf die Sonne übertragen
dürften, so könnten wir sagen, die Flecken kämen in der Passat-
zone der Sonne zum Vorschein. Dieser Ausdruck verführte Sir
John Herschel zur Ansicht, in den Flecken die Wirkung von
Passatströmungen auch in der Sonne zu vermuthen , auch auf ihr
heissere und kältere Gürtel anzunehmen. Diese geistreiche Hypo-
these ist in der neuesten Zeit von der Sonne selbst verläugnet
worden. Unsere Passate wehen zwar immer von Ost nach West,
aber doch mit einer leichten Abbiegung nach dem Aequator. Die
Sonnenflecken müssten sich also , wenn es Sonnenpassatflecken
wären, stets dem Sonnenäquator zu nähern suchen, oder was
dasselbe sagen will, stets an heliocentrischer Breite Aerlieren. Man
Was ist eine Sonne?
205
hat aber Flecken beobachtet, die sich vom Sonnenäquator in der
Richtung nach den Polen entfernten, und damit hat die Her-
schel'sche Vermuthung wie so viele andere Vermuthungen das
Schicksal der bethlehemitischen Kinder ereilt.
Lange noch nach Arago's und A. v. Humboldt's Tod glaubte
jedermann, dass die schwarzen Kernflecken der Sonne nichts
anderes seien , als die nackte Haut des Lichtkörpers und des
Urahnen der Inca von Peru, Man sprach von einer festen Kugel
der Sonne , die von einem Ivichtmantel umgeben wäre , der bis-
weilen zerreisse, um den entblössten Leib des Fixsternes zu zeigen.
Man glaubte sogar , es könne unter jenem Lichtmantel auf der
Terra firma der Sonne, wenn nicht kalt doch kühl sein. Man
dachte sich diesen Kern der Kugel auch ziemlich hell beleuchtet,
obgleich die Flecken unseren Sehwerkzeugen gänzlich lichtlos
erscheinen, denn auch das schärfste künstliche Licht der Menschen,
nämlich die Hydrooxygengasflamme erscheint, vor der Sonnen-
scheibe betrachtet, wie ein schwarzer Körper, so dass also die
Dunkelheit der Kernflecken nur dem Lichtcontraste ihren Ursprung
verdankte. Allem Anschein nach steht auch dieser Vermuthung
von einem festen kühlen Sonnenkern ein bethlehemitisches Schicksal
bevor, oder hat sie bereits ereilt. Im Jahre 1862 kündigten ämlich
ein englischer Astronom, Herr Nasmyth, dem Reichstag der bri-
tischen Naturforscher (British Association) an, er habe an den
Rändern der Sonnenflecken , besonders in den Räumen , die man
bisher den Schattenrand (Penumbra) der Flecken nannte, Körper
wahrgenommen , die wie ,, Weidenblätter" aussehen und die sich
bisweilen wie Brücken über Flecken selbst hinüberlegen sollten').
Ein Jahr später hatten andere Astronomen die „Weidenblätter',
auch bemerkt, aber nicht eigentlich ,, Weidenblätter", sondern
Reiskörner oder linsenförmige Lichtkörper. Noch spätem Astro-
nomen erschienen die Weidenblätter oder Reiskörner eher wie
Krystallnadeln , anderen wie die Ränder eines Strohdaches, noch
andere fanden Aehnlichkeit mit den Diatomaceen , endlich noch
schärfere Seher verglichen sie mit einem Schwärm oder einem
Geschwader von Fischen. Noch ein Schritt weiter und man wagte
den Ausspruch, es könnten Organismen, das heisst belebte Wesen
i) S. Ausland 1862 vom 15. Octbr. S. 1026.
2o6
Zur mathematischen und physischen Geographie.
sein, zumal wir wissen, dass belebte Wesen Licht und Elektricität
zu entwickeln vermögen. Damit nicht etwa ein unvorsichtiger
Leser allzurasch sich über eine solche Kühnheit entsetze , fügen
wir hinzu, dass niemand geringer dieses grosse Wort gelassen
ausgesprochen habe als Sir John Herschel. Was man bis jetzt
darüber weiss und gesehen hit, dT> /Ligt unsei Holzschnitt, und
tiiii
es bleibt jedem überlassen, ob er Weidenblätter oder Reiskörner,
oder ein Linsengericht, oder Krystallnadeln , oder Diatomaceen,
oder fischähnhche Lichtgeister sehen will. Die Vergleiche bestätigen
sämmtlich, dass jene Körper schlanke und zugespitzte Gestalten
haben. Sie sind beträchtlich länger als 200 und beträchtlich
breiter als 40 deutsche Meilen , also etwa doppelt so lang aber
nicht viel breiter als die Halbinsel ItaHen. Sie sind über die
ganze Sonne verstreut in unparteiischer Unordnung , und nur an
den Rändern der Flecken stehen sie stets nach einwärts geordnet,
wie die Haare eines Pelzwerkes, oder Halme von Gräsern am
Rande der Gewässer, und ebenso ist bei den ,, Brücken" über die
Flecken eine gewisse Anordnung nicht zu verkennen, daher denn
auch schon manche Beobachter Aeusserungen polarer Kräfte aus
Was ist eine Sonne?
207
der Stellung dieser Lichtkörper wahrgenommen haben wollen.
Diese Körper sind nicht ruhig, sondern sie verändern beständig
ihre Lage. Zwei entfernte und getrennte Beobachter bemerkten
gleichzeitig an demselben Sonnenflecken wie ein Aufruhr unter
den „Weidenblättern" entstand, welche sich mit der lobenswürdigen
Geschwindigkeit von 1500 Meilen (oder fast eines Erddurchmessers)
in der Minute' vorwärts stürzten, um den Schlund eines schwarzen
Kernfleckes zu überbrücken. Die Erde blieb bei dieser Bewegung
in der Sonne nicht empfindungslos , denn auf allen magnetischen
Observatorien wurde ein sogenanntes magnetisches Gewitter be-
obachtet, alle Telegraphendrähte waren elektrisch überladen und
ein Nordlicht zitterte am Himmel. Es war das nicht anders zu
erwarten nach der schönen Entdeckung von Schwabe , dass die
Zeiten der höchsten Frequenz der Sonnenflecken periodisch zu-
sammenfallen mit den Zeiten der höchsten Frequenz der magne-
tischen Gewitter auf Erden.
Die Kernflecken der Sonne, schwer sichtbar mit unbewaffnetem
Auge, bedecken ungeheure Räume, häufig bis zu 40 Mill. deutsche
Quadratmeilen, einer ist sogar gesehen worden, von 180 Mill.
Quadratmeilen Oberfläche, so dass sich Sir John Herschel ver-
bindhch machte , die Erde durch dieses Loch im Lichtmantel
der Sonne hindurchzuwerfen und rings um den Rand noch einen
freien Raum von 200 deutschen Meilen übrig zu lassen.
Arago erfand ein schönes Instrument , das Polariskop , mit
Hülfe dessen er zu unterscheiden vermochte, ob ein Strahl aus
natürlichem oder polarisirtem Licht bestehe. Wäre die Sonne
eine weissglühende Eisenkugel, so würden die Strahlen von ihren
Rändern oder selbst Strahlen , die sich einigermassen vom Mittel-
punkt entfernen , Polarisationsmerkmale zeigen. Wäre sie ein
feuerflüssiger Körper, wie schmelzendes Glas, so würde das gleiche
der Fall sein. Die Strahlen, welche die Sonne selbst von den
äussersten Rändern uns zusendet, erscheinen aber im Polariskop
als sogenanntes natürliches Licht, und da nur Gaslicht natürliches
Licht unter diesen Bedingungen ausstrahlt, so schloss Arago, dass
der Lichtmantel der Sonne aus Gas bestehen müsse. Diese Ansicht
ist noch jetzt die herrschende '). Dagegen hat der französische
x) Man hält übrigens den polariskopischen Beweis Arago's gegenwärtig
nicht mehr für ganz zuverlässig , seitdem Herr Faye in Paris von einer Kugel
aus mattem Silber polarisationsfreies Licht auch in beträchtlicher Entfernung
2o8 ''-i"' mathematischen und physischen Geographie.
Astronom Faye , gestützt auf die Verschärfung des teleskopischen
Sehens und auf die Fortschritte der Physik und Chemie seit
Arago's Zeiten, eine neue Lehre über die Natur der Sonne auf-
gestellt, die wir versuchen wollen in möglichster Kürze wiederzugeben.
Die Lichtentwickelung an der Oberfläche der Sonne kann
keinem chemischen Verbrennungsprocess zugeschrieben werden,
denn dieser würde nach Helmholtz' Berechnungen unter den
günstigsten Verhältnissen nur 3000 Jahre haben dauern können.
Das ist einestheils zu wenig für die Lebenslust des Menschen-
geschlechtes und die historische Chronologie und andrerseits,
was viel wichtiger ist, nicht in Einklang zu setzen mit geologischen
Erkenntnissen, da wir ganz sichere Urkunden besitzen, dass schon
vor Hunderttausenden von Jahren auf Erden die Sonne geschienen
hat und Regen gefallen ist. Die Wärme der Sonne verdanken
wir vielmehr der Zusammenballung von Stoffen nach den Gesetzen
der Anziehungskraft. Durch dieses Zusammenballen wurde die
ursprüngliche Bewegung der Stoffe aufgehoben, und wir wissen,
dass, wo Bewegung durch Widerstand vernichtet wird, eine ganz
bestimmte Quantität Wärme erzeugt werden muss, nach dem
Mayer'schen Gesetz , dass Wärme umgewandelte Kraft oder Be-
wegung ist. Die Sonne ist nach Faye's Vorstellungen ein ver-
dichteter Gasball, der durch die Verdichtung selbst einen unge-
heuren Schatz von Wärme in sich eingeschlossen hat. Fänden
keine innerlichen Störungen statt, so würde dieser Gasball aus
lauter concentrischen Schichten oder lauter Zwiebelschalen von
Gas bestehen, deren Temperatur von aussen nach innen zunähme.
Ein solcher Gasball könnte sich nur äusserst langsam abkühlen,
denn da die von innen ausstrahlende Wärme von jeder nächsten
äussern Gasschicht wieder verschluckt oder aufgesogen würde, so
könnte die äusserste Schale dieser Gaszwiebel nur sehr wenig
Wärme empfangen und ausstrahlen, so dass die Sonne den Be-
wohnern ihrer Planeten als ein vergleichsweise sehr kalter Körper
erschiene. Allein das Innere der Sonne tauscht seine Wärme
beständig mit der Oberfläche aus durch Vermittelung aufsteigender
und niedersinkender Strömungen. Gelangt ein heisser Strom aus
dem Innern an die kühle Oberfläche, so werden Niederschläge
vom Centrum erhielt, und da die Oberfläche des Lichtniantels der Sonne sehr
rauh ist , oder wie Herschel , der Grossvater, sich ausdrückte, der Schale einer
Orange gleicht, so kann das Polariskop nicht endgültig entscheiden.
Was ist eine Sonne '
209
oder Dünste verdichtet werden. Diese, dem Gesetze der Schwere
gehorchend, werden später wieder durch die äusseren Schichten
in die wärmeren Sonnenschichten fallen und abermals in Gas auf-
gelöst werden. Auf diese Art wird die starke Wärmestrahlung der
Oberfläche durch die aufsteigende Strömung gerechtfertigt. Jene
Stoffe , die an der Oberfläche ihre Gasform verlieren, geben, da
sie glühend werden, dem sonst lichtlosen Sonnengas eine Leucht-
kraft, genau wie es bei unsern gewöhnlichen Gasflammen der Fall
ist. Das Gas, womit wir unsere Zimmer und unsere Strassen er-
leuchten , \ erdankt seine Lichtwirkiuig nur dem Umstand , dass
die Verbrennung seiner Luftarten nicht vollständig erfolgt, sondern
einzelne Bestandtheile des Gases nur weissglühend werden. Wir
können eine vollständige Verbrennung unseres Gases sogleich her-
stellen , wenn wir statt der gewöhnlichen einen sogenannten
Bunsen'schen Brenner an die Gasröhre schrauben. Diese Bun-
sen'sche einfache Vorrichtung leitet nämlich atmosphärische Luft
in die Gasflamme, worauf eine vollständige Verbrennung des Gases
erfolgt, die Flamme aber bei einer aufs höchste gesteigerten Wärme-
entwickelung allen Glanz und alle Leuchtkraft verliert und sich
in eine sogenannte dunkle oder finstere Flamme verwandelt,
ähnlich, wie ja auch der Weingeist durch eine lichtlose Flamme
verbrennt. Faye stellt sich also das Innere der Sonne als einen
Gasball im Zustande höchster Erhitzung vor, dessen aufsteigende
Ströme dunkel, wie die Flamme eines Bunsen'schen Brenners,
nach der Oberfläche gelangen, wo sich ihre Luftarten verdichten
und weissglühend erhitzt zu leuchten beginnen. Da wo der auf-
steigende heisse Gasstrom den Lichtmantel (Präcipitationssphäre)
verdrängt, wird sich ein Flecken zeigen. Was wir also schwarz
sehen, ist nicht ein fester kühler Körper , sondern die lichtlose,
heisse Gasmasse der Sonne.
Aus der Zerlegung des Sonnenlichtes in dem von Kirchhofl"
erfundenen Spectroskop hat sich ergeben, dass in dem Lichtmantel
der Sonne Dämpfe von Nickel , Kobalt , Eisen , Mangan , Kupfer,
Zink, Barium, Natrium, Magnesium, Chromium, Calcium, Alu-
minium, Strontium, sowie Sauerstoff und Was.serstoff gegen-
wärtig sind.
Diess ist in kurzen Worten das Neueste, was wir von unserer
Sonne wissen oder \ermuthen dürfen.
Peschel, Abhandlungen. FI. I4
3. Ueber die Aufgaben der heutigen
Erdmessungen.
(Ausland 1866. 'Nr. 48. 27. November.)
Am diesjährigen Stiftungsfeste der Münchener Akademie der
Wissenschaften hielt C. M. Bauernfeind über das oben genannte
Thema einen Vortrag, der jetzt als Denkschrift gedruckt uns vor-
liegt'). Wer die Schwierigkeiten der Erörterung verwickelter
mathematischer Probleme vor einer Versammlung, die dem münd-
lichen Vortrag ohne Anstrengung folgen soll, gehörig zu ermessen
versteht, der muss dem Vortragenden das Lob ertheilen, dass er
sehr glücklich seine Aufgabe bemeistert hat. Das bequemste Ver-
fahren in solchen Fällen besteht darin , dass man von dem Ein-
fachen fortschreitet zu dem Verwickelten und den Process der
menschlichen Erkenntniss in eine historische Erzählung verwandelt.
Ehe man daran denkt, die Grösse der Erde zu messen, muss man
einen Begriff haben von ihrer Gestalt. Pythagoras oder die Pytha-
goräer waren die ersten, welche erriethen, dass die Erde eine Kugel
sei; allein sie schlössen es nur daraus, dass sie unsern Planeten für
vollkommen hielten , und ihm daher die vollkommenste Körper-
form, nämlich die der Kugel, zutrauten. Nach ihnen erwarb sich
Aristoteles den unvergänghchen Ruhm, die Kugelgestalt unseres
Planeten aus dem bogenförmigen Erdschatten bei Verfinsterung
des Mondes, sowie aus dem Verschwinden oder Auftauchen
von Gestirnen , je nachdem man sich auf unserer Halb-
i) Die Bedeutung moderner Gradmessungen. München 1S66. Verlag der
königlichen Akademie.
Ueber die Aufgaben der heutigen Erdmessungen. 211
kugel nördlich oder südlich bewegt, gefolgert zu haben. Dass
auch die mit Wasser bedeckten Theile an der sphärischen Krüm-
mung theilnehmen, lehrte Ptolemäus aus dem frühern Auftauchen
von Mastenspitzen eines von hoher See heransegelnden Schiffes,
sowie aus dem frühern Verschwinden niederer Küstengegenstände
vor den höhern, wenn sich das Schiff vom Lande entfernt. War
die Erde eine Kugel, so Hess sich ihr Umfang annähernd ermit-
teln, Avenn man die Entfernung zweier Punkte unter demselben
Mittagskreis und zugleich ihre Polhöhe oder geographische Breite
kannte. Eratosthenes (etwa 200 v. Chr.) glaubte annehmen zu
dürfen, dass Alexandria und Syene am Nil genau südnördlich von
einander lagen, was ungenau war. Die Polhöhen der beiden
Städte dififerirten nach seiner Messung der Sonnenhöhen um 7 °
12', was ebenfalls ungenau war. Ihr Abstand auf einer Mittags-
linie hätte demnach gerade den 50. Theil eines Erdumfanges aus-
gefüllt , und da die Entfernung der beiden Städte von den Nil-
schiffern oder nach populären Angaben von Strassenlängen 5000
Stadien betrug , so brauchte er nur mit 5 o zu multipliciren , um
für die Grösse des Erdumfanges 250,000 Stadien zu finden. War
auch diese Schätzung ungefähr um ein Sechstel zu gross, so musste
doch das Verfahren des Eratosthenes zur richtigen Erkenntniss
führen, und ist bis auf die heutige Zeit der Erdmessungen immer
beobachtet worden. Der Wahrheit hätte sich Eratosthenes wahr-
scheinlich um vieles mehr genähert, wenn er den zurückgelegten
Weg zwischen^ Alexandrien und Syene, sei es mit einer Messruthe
oder mit einer Messkette, wirklich festgestellt hätte. So blieb das
Verdienst einer ersten Erdmessung den Arabern vorbehalten. Der
Chahf Mamun Hess von Astronomen in der Ebene von Sindschar
ein Erdbogenstück von 2 Graden messen, und zwar, wie Bauern-
feind behauptet, mit Stäben. Das Ergebniss lautete auf 56%
arabische Meilen, und scheint sich nur 6 — 7 Procent von der
Wahrheit entfernt zu haben. Fand dieser Versuch im neunten
Jahrhundert n. Chr. statt, so gehört die nächste Verbesserung dem
Anfang des 17. Jahrhunderts (vor 16 17) an. Ein holländischer
Mathematiker, Willebrord Snellius , niass den Erdbogen zwischen
Bergen op Zoom und Alkmaar. Er war der erste, der sich dabei
einer Kette von Dreiecken bediente. Er mass Hämlich zuerst auf
ebenem Grunde eine gerade Linie oder eine sogenannte Standlinie
von 87 Ruthen und 5 Zoll, begab sich hierauf nach einander an
14"
212 Zur mathematischen und physischen Geographie.
die beiden Endpunkte seiner Standlinie und mass die beiden Win-
kel, welche die Standlinie an den Endpunkten mit irgend einem
entfernten Gegenstand, einem Baum oder einem Bauwerk, bildete.
Wenn in einem Dreieck die Länge einer einzigen Seite (Basis) und
die Grösse der anliegenden Winkel bekannt sind, so lassen sich
durch einfache Rechnung die vorher unbekannten Längen der
beiden andern Seiten des Dreiecks finden. Eine dieser Dreieck-
seiten diente ihm nun wieder zur Basis (Standlinie) eines neuen
Dreiecks , an welches er ein drittes , ein viertes , überhaupt eine
ganze Kette anschliessen konnte, bis er zwei weit abgelegene
Punkte an der Erdoberfläche durch die Spitzen der beiden letzten
Dreiecke berührt hatte. Das Verdienst von Snellius' Verfahren
beruht also darin, dass er nur eine ganz kleine Strecke mass und
dann durch trigonometrische Berechnung und Winkelmessungen
die Entfernung zweier entlegener Städte (beziehungsweise ihrer
Thürme) auffinden lehrte. Seit dieser Zeit haben sich alle Erd-
messer mit zwei unwichtigen Ausnahmen des nämlichen Verfahrens
bedient. Wie Bauernfeind bemerkt , berechnete Snellius seine
Dreiecke, als ob sie in einer Ebene und nicht auf einer gekrümm-
ten Kugelfläche gelegen gewesen wären. Er vernachlässigte also
das, was die geodätische Sprache den sphärischen Excess nennt,
und er Avar dazu berechtigt, da seine Instrumente bei weitem nicht
die Schärfe besassen, imi sich der Wahrheit bis auf sehr geringe
Grössen zu nähern. Die Winkel seiner Dreiecke nämlich, sowie
die Polhöhen an den Endpunkten der Dreiecke bestimmte er mit
optischen Instrumenten ohne Linsengläser. Als durch die Erfindung
des Fadenkreuzes das Fernrohr, welches bis dahin nur ein Raum
durchdringendes Instrument gewesen war, zu einem Werkzeug der
Winkelmessung von höchster Schärfe erhoben wurde, begann ein
neuer Abschnitt auch für die Erdmessungen.
Wir können uns hier eine Abschweifung von dem akademi-
schen Vortrage nicht versagen. Vor mehreren Jahren veröfl^ent-
lichte ein jugendlicher Historiker, Thomas Buckle, eine Geschichte
der Civilisation, welche in deutscher Uebersetzung leider bereits
die zweite Auflage erlebt hat. Wir sagen leider, weil Buckle unter
fünf Behauptungen meist vier Unwahrheiten oder Ungenauigkeiten
ausspricht. Gewiss wäre aus ihm ein ausgezeichneter Historiker
geworden , wenn ihn der Tod nicht so früh abgerufen und ihn
verhindert hätte, seine eigenen Irrthümer einzusehen und zu ver-
Leber die Aufgaben der heutigen Erdmessungen. 21-5
bessern. So schmäht er unter anderm Ludwig XIV. wegen seiner
Begünstigung von Schriftstellern und Gelehrten , um den Satz zu
beweisen, dass durch den Schutz von Fürsten nie die menschhchen
Erkenntnisse einen Aufschwung gewonnen hätten, ja, er lässt sich
sogar zu folgendem Satz hinreissen: ,, Ludwig XIV. bestieg 1661
den Thron, und von diesem Augenblick bis zu seinem Tode im
Jahre 17 15 bildet die Geschichte Frankreichs, soAveit sie Entdeck-
ungen betrifft, ein leeres Blatt in den Annalen Europa' s." (Vol.
III. p. 76. Leipzig 1865.) Der Irrthum ist hier so ungeheuerlich,
dass sich sogar an die Thronbesteigung Ludwigs XIV. eine ganz
neue Zeitperiode des geographischen Wissens knüpft. Im Jahre
1669 berief nämlich der König Jean Dominique Cassini an die
Pariser Sternwarte, und unter seiner Leitung veranstaltete die
Akademie die ersten wissenschaftlichen Reisen. Um den König,
erzählt Delambre in seiner Geschichte der Astronomie, durch etwas
zu erfreuen, was ihm mehr Unterhaltung bieten konnte, als die
trocknen Arbeiten der Sternwarten, beschloss man, die Grösse der
Erde zu messen. Man übertrug die Ausführung der Messarbeiten
dem berühmten Picard. Der kleine Erdbogen, welcher im Jahre
1669 und 1670 von ihm gemessen, und wobei die Winkel der
Dreiecke zuerst mit dem Fernrohr bestimmt wurden, lag zwischen
Paris und Amiens. Picard hat, wie sich später ergab, nicht aus
Ungenauigkeit, sondern wegen der noch fortbestehenden Unvoll-
kommenheit seiner Messwerkzeuge sich kleine Fehler in der Mes-
sung der Standlinie und andere Fehler bei der astronomischen
Messung des Breitenunterschiedes der beiden Endpunkte seiner
Dreieckskette zu Schulden kommen lassen. Ein glücklicher Zufall
wollte aber, dass beide Fehler sich genau ausglichen und die Pi-
card'sche Erdbogengrösse bis auf ein Minimum der heute gefun-
denen Länge gleichkommt. Diese Messung ist für die Geschichte
der menschhchen Erkenntnisse von unabsehbarer Wirkung gewesen ;
denn bereits war Newton auf der Spur seines wichtigen Gravita-
tionsgesetzes, welches er aus den Wirkungen der gegenseitigen
Anziehung der Erde und des Mondes abzuleiten versuchte. Der
mathematische Beweis wäre ihm nie gelungen, wenn er nicht die
Grösse der Erde gekannt hätte. Die Messung des Snellius enthielt
nämlich noch so grosse Fehler, dass sich jenes Gesetz nicht be-
stätigte und Newton seine Nachforschungen wieder bei Seite ge-
legt hatte. Er nahm sie erst wieder auf, als ihm die Picard'sche
2 14 '^"'^ mathematischen xmä physischen Geographie.
Erdbogengrösse bekannt wurde, und er gerieth, als ihm eine erste
Berechnung die Bestätigung seines Gesetzes zeigte, in eine solche
nervöse Aufregung, dass er nicht im Stande war, seine Berech-
nung zu wiederholen, sondern zu dieser Aufgabe Freundeshülfe
anrufen musste. Wie sieht es also mit Buckle's obiger Behauptung
aus ?
Ebenfalls mit Unterstützung Ludwigs XIV. und im Auftrag
Cassini's ging 1669 der grosse Astronom Richer nach Cayenne,
um einige Aufträge der Pariser Sternwarte dort auszuführen.
Gleich beim Beginn der Beobachtungen entdeckte er , dass seine
Pariser Pendeluhr um zwei Minuten täglich zurückblieb, und dass
er ihr Pendel um i ^4 Linien verkürzen musste , damit sie so
regelrecht ging, wie in Paris. Bis dahin hatte man geglaubt, dass
an allen Orten der Erde Pendel von gleicher Länge ihre Schwin-
gungen in gleichen Zeiträumen vollziehen, dass die Schwingungen
rascher erfolgen je kürzer die Pendel, und langsamer, je länger
sie wurden. Richer entdeckte dagegen, dass ein Pendel von der-
selben Länge in Paris seine Schwingungen rascher vollzog, als im
tropischen Amerika. Daraus wurde geschlossen, gestützt auf das
Newton'sche Gravitationsgesetz , dass die Schwerkraft der Erde,
von Avelcher die Pendelschwingungen abhängig sind, am Aequator
geringer sei, als an den Polen, und man kam auf den Gedanken,
dass die Erde (keine mathematisch reine Kugel, sondern am
Aequator angeschwollen, an den Polen abgeplattet sei. Die frühe
Erkenntniss von der Abplattung unseres Planeten verdankt man
also ebenfalls mittelbar der Unterstützung Ludwigs XIV. und den
Arbeiten der Pariser Akadem.ie. Newton berechnete sogleich den
Abplattungseffect zu ^1.230, was so viel sagen will, dass die Aequa-
torialachse der Erde um ^230 länger sei als ihre Polarachse,
Huyghens dagegen fand durch Rechnung ^579- Newton ging
bei seiner Berechnung von der Annahme aus, dass die Erde in
allen ihren Schichten gleiche Dichtigkeit besässe, Huyghens da-
gegen verlegte alle Anziehungskraft in den INIittelpunkt der Erde;
beide Annahmen haben sich nicht bestätigt, und daher liegt auch
die wirkHch gemessene Abplattung in der Mitte zwischen beiden
theoretischen Werthen. Nach Richers Rückkehr Hess die Aka-
demie unter dem Patronate Ludwigs XIV. von Cassini und Lahire
1680 — 83 die Erdbogenmessungen über ganz Frankreich ausdeh-
nen; sie wurden aber erst vollendet von Cassini, dem Sohn, Lahire,
Ueber die Aufgaben der heutigen Erdmessungen. 2 1 5
dem Sohn und Maraldi. Wenn die Erde eine abgeplattete Kugel
ist wie eine Orange, dann müssen die Abstände zwischen zwei
Breitengraden kleiner am Aequator und grösser in der Nähe der
Pole sein. Man fand aber umgekehrt, dass im südlichen Frank-
reich die Abstände der Breitengrade grösser waren als im nörd-
lichen. Wie sich später ergab, entstand die damalige Verwirrung
daraus , dass die Messkunst noch nicht die Schärfe besass , um
die Abplattung der Erde zu bestätigen, die bereits das Pendel
angezeigt hatte. Es erhob sich vielmehr ein 5ojähriger Streit
zwischen Astronomen und Mathematikern, wovon die einen
die Orangen-, die andern die Eigestalt der Erde vertheidigten-
Die Frage wurde endlich wiederum durch königliche Unter-
stützung und wiederum unter der Leitung der Pariser Akademie
gelöst. Man schickte nämlich eine Anzahl französischer Astro-
nomen nach Lappland , um dort ein Erdbogenstück , und eine
andere Abtheilung, darunter den unsterblichen Bouguer und seinen
grossen Begleiter Lacondamine, nach Peru, um in der Nähe des
Aequators die Grösse der Breitenabstände genau zu messen. Das
lappländische Ergebniss, welches schon im Juli 1736 bekannt
wurde, lautete für einen Meridiangrad am Polarkreis auf 57,438
Toisen, das peruanische Ergebniss, welches erst 1744 ermittelt
wurde, lautete auf 56,753 Toisen, folglich waren die Abstände der
Breitengrade am Aequator kleiner als am Polarkreis, wie es nicht
anders sein kann, wenn die Erde ein an den Polen abgeplattetes
und am Aequator angeschwollenes Sphäroid ist.
So hatte denn die Geodäsie nachgewiesen, dass das Secun-
denpendel als ein Instrument zur Ermittelung der Erdgestalt be-
trachtet werden dürfe. Mit dem Pendel lässt sich die wechselnde
Grösse der Schwerkraft an verschiedenen Orten der Erdoberfläche
auf zweierlei Weise finden : entweder man verkürzt oder verlängert
das Pendel so lange, bis seine Schwingungen genau einen Secun-
denzeitraum ausfüllen , oder man trägt ein Secundenpendel von
gleicher Länge auf verschiedene Stationen vom Aequator in der
Richtung nach den Polen, wie diess z. B. von Sabine im atlanti-
schen Meer bis zum 80° nördl. Breite geschehen ist, und zählt
die Schwingungen dieses Pendels im Laufe eines Sternentages.
Im erstem Fall wird sich die Schwerkraft genau verhalten wie die
Pendellänge ; in dem zweiten aber wie Quadrate der Schwingungs-
zahlen. Auf diesem Wege hat man ermittelt, dass die Schwer-
2i6 Zur mathematischen und physischen Geographie.
kraft am Aequator zu der am Pole sich verhält wie 179:180,
oder mit andern Worten, dass die Schwerzunahme ^/^go der
Schwere am Pole beträgt. Nun hat einer der ausgezeichnetsten
Mathematiker, Clairaut, welcher mit bei der lappländischen Grad-
messung verwendet wurde, den schönen Satz nachgewiesen, dass,
wie auch die Massen im Innern der Erde vertheilt sein mögen,
doch stets die Summe der Abplattung und der Zuwachs der
Schwere vom Aequator bis zu den Polen 2^2 nial so gross sein
muss, als die Schwungkraft unter dem Aequator. Die Schwung-
kraft unter dem Aequator beträgt aber 7277» und daher ergiebt
sich aus dem Clairaut'schen Satze, dass die Pendelbeobachtungen
eine Abplattung der Erde von durchschnittlich ^/^gg anzeigen, denn
/277 -^ 2 /g = /180 + /2S9.
Wir haben aber noch ein anderes Mittel, um die Abplattung
der Erde zu bestimmen. Der grosse Geometer Laplace schloss
ganz richtig, dass die Abweichung der Erde von der reinen Kugel-
form den Mond in seinen Bewegungen stören müsse, und er gab
eine Formel, wie gross die Störungen und in welchem Sinne sie
erfolgen müssten, je nach der Grösse der Abplattung. Er Hess
hierauf aus Greenwicher Beobachtungen, die wirklich erfolgten,
Störungen messen, und es ergab sich daraus eine Quantität der
Abplattung von ^/g^j , während das Ergebniss der peruanischen
Erdmessung durch directe Messung den Abplattungswerth auf
V304 festgestellt hat. Wir sehen hier also , dass man auf drei
ganz unabhängigen Wegen, nämlich durch Bestimmung der Länge
des Secundenpendels, durch Beobachtung der Bewegungen des
Mondes und durch Bestimmung der Grösse von Erdbogenstücken
dahin gelangte, den Unterschied zwischen dem grossen und dem
kleinen Durchmesser der abgeplatteten Erdkugel in runden Zahlen
auf etwa V300 festzustellen. Geologische Vermuthungen hatten
sich dieser Erkenntniss bemächtigt, um darin eine Stütze zu fin-
den. War die Erde ehemals eine feuerflüssige Kugel , so sagte
man, und setzte sie sich um ihre Achse in Bewegung, so musste
nothwendig, da die Schwungkraft der Erde am Aequator um ein
vielfaches grösser ist als jenseits der Polarcirkel, die noch weiche
Masse am Aequator anschwellen und umgekehrt der Durchmesser
der Erde von Pol zu Pol ein wenig kürzer werden. Leider besitzt
diese Beweisführung keine genügende Kraft mehr, seit Sir John
Herschel gezeigt hat, dass auch ohne einen plastischen Zustand
Leber die Aufgaben der heutigen Erdmessungen. 217
der Erde eine Abplattung der Erde eintreten musste. Denken wir
uns die Erde als eine mathematisch reine Kugel von kalten, nicht
dehnbaren Gesteinsmassen, aber umgeben von einer Wasserhülle,
deren Rauminhalt den heutigen Weltmeeren und stehenden Was-
sern entsprechen würde, so müsste diese Wasserhülle, so lange die
Erde fern von allen Himmelskörpern im Weltenraum ohne eine
Bewegung schwebte, überall gleiche Tiefe besitzen, oder mit an-
dern Worten eine concentrische Schale um die mineralische Kugel
bilden. Sowie sich die Erde aber als Planet im Sonnensystem
um ihre Achse zu bewegen begann, hätten sich die Wassermassen
aus den Polarcirkeln zurückziehen und am Aequator anhäufen
müssen. Die Meere hätten die Wirkung der Winde, der Strö-
mungen der Ebbe und Fluth erleiden müssen , folglich hätte das
Meer allmählich die Festländer an den Polen abgenagt , die Mee-
resströmungen die Erosionsmassen dem Aequator zugeführt , bis
die Anhäufung von Schuttmassen zuletzt dem ehemals mathema-
tisch reinen Erdkörper die abgeplattete Gestalt gegeben haben
würde.
Wir sahen, dass die Erdmessungen seit Richers Entdeckungen
eine ganz neue Aufgabe erhalten haben, nämlich nicht bloss die
Feststellung der Grösse, sondern auch der Gestalt unsers Planeten.
Der französische Nation alconvent stellte noch eine andere Anfor-
derung an sie. Könnten wir nämlich jemals genau die Grösse
der Erde bestimmen, so würde, sei es ihr Umfang oder ihr Durch-
messer, für den bürgerlichen Verkehr uns eine Masseinheit gewäh-
ren, die so unveränderlich wäre, dass sie 100 mal verloren nach
Tausenden und hundert Tausenden von Jahren immer genau wie-
der aufgefunden werden könnte. Das souveräne Volk in Frank-
reich befahl also zum dritten Mal in Frankreich einen Erdbogen
zu messen, aus diesen Messungen die Grösse eines Erdquadranten,
d. h. eines Kreisviertels vom Aequator nach einem der Pole, zu
berechnen, diese Länge durch zehn Millionen zu divrdiren und
den Quotienten als die unerschütterliche Masseinheit unter dem
Namen Meter einzuführen. Jene dritte Gradmessung, unter Bor-
da's Leitung von Mechain und Delambre begonnen , aber erst
unter dem Kaiserreich von Biot und Arago , von Dünkirchen bis
Formentera vollendet, umfasste 12^/2 Breitengrade, und durch sie
wurde die Grösse des Meters zu 443,296 Pariser Linien festgesetzt.
Obgleich sich die Schärfe der Messinstrumente bei der Grössen-
2 1 8 Zur mathematischen und physischen Geographie.
bestimmuiig der Standlinie ausserordentlich vervollkommnet, und
die Berechnung des Erdbogens nach den neuen mathematischen
Sätzen Legendre's und Delambre's, welche die Zurückführung der
sphärischen Dreiecke auf ebene erlaubte, an Genauigkeit gewonnen
hatte, so war doch die Abplattung ein wenig zu klein (i : 334)
angenommen worden und auch andere Fehler untergelaufen , so
dass nach Bessels schärferer Prüfung der Erdquadrant der fran-
zösischen Geodäten um 855 Meter und ihre Masseinheit um nahezu
^/ij^ Millimeter zu kurz ist, mit andern Worten, dass 10,000,855
Meter des französischen Masses erst 10,000,000 idealen Metern
entsprechen würden. Die Vorzüge des metrischen Systems be-
stehen also einzig und allein in seiner Decimaltheilung , während
seine physische Grösse etwas ebenso willkürliches ist, als irgend
ein anderes Fuss- oder EUenmass.
In unserem Jahrhundert haben sich die Erdbogenmessungen
ausserordentlich vervielfältigt. In Grossbritannien hat man einen
Erdbogen bis zu dem nördlichsten erreichbaren Punkte ausgedehnt
und sein Südende zugleich über den Canal hinweg mit den fran-
zösischen Dreiecksnetzen verknüpft. In Deutschland fanden eben-
falls Erdbogenmessungen, in Bayern, Sachsen, Württemberg und
Baden statt. Wichtig für die Wissenschaft waren jedoch nur die
Bogenmessung zwischen Göttingen und Altona, ausgeführt von
unserm unsterblichen Gauss, die dann später von dem Astronomen
Schuhmacher auf Kosten der dänischen Regierung über Holstein
ausgedehnt wurde, sodann die Messung zwischen Memel und Kö-
nigsberg, welche der grosse Astronom Bessel im Verein mit dem
jetzigen Gen.-Lieutnant Baeyer ausführte. Der hannoversche wie
der ostpreussische Bogen ist sehr klein, die Ausführung dagegen,
wie die Berechnung der Dreiecke, waren so meisterhaft , dass sie
den nachfolgenden Arbeiten als Muster gedient haben. Es ist
begreiflich, dass die Genauigkeit der Endergebnisse mit der Grösse
des Erdbogens wachsen muss. Die Engländer haben sich daher
ein grosses Verdienst erworben, dass sie von Cap Comorin , der
Südspitze, ihre Messung durch die ganze Halbinsel Indiens bis
zum Himalaya ausdehnten und einen Bogen von nicht weniger
als 21° 21' 17" Spannung gewannen. Aber selbst diese Grösse
Avurde verdunkelt durch die vierzigjährige russische Erdbogen-
messung von StrUAe und Tenner, welche in Bessarabien beginnt,
auf der Kval-Insel vor Hammerfest in Norwegen endigt und sich
über 2 5 1/3 Breitegrade erstreckt.
lieber die Aufgaben der heutigen Erdmessungen.
219
Um die Grösse der Erde zu bestimmen , kann man nicht
bloss Entfernungen längs eines Mittagskreises, sondern ebenso gut
Stücke eines Breitekreises messen. Hatte man aber schon grosse
astronomische Schwierigkeiten um die geographische Breite der
Bogenendpunkte mit der nöthigen Schärfe zu bestimmen , so war
es vor Erfindung der elektrischen Telegraphen noch viel schwie-
riger, die geographischen Längen zweier Orte mit vertrauenswerther
Schärfe zu ermitteln. Der Versuch einer Längenbogenmessung
zwischen dem 45. und 46. Breitegrad, welcher vor etwa vierzig
Jahren von österreichischen, sardinischen und französischen Geo-
däten ausgeführt wurde, brachte daher keine befriedigenden Er-
gebnisse und gilt als ein missglückter Versuch. Gegenwärtig aber,
wo man Mittel zu einer verschärften Längenbestimmung besitzt,
soll auf Anregung des Gen.-Lieutnant Baeyer eine grossartige
Messung durch Verknüpfung der vorhandenen Dreiecke ausgeführt
werden. Das Unternehmen, welches den Namen ,, mitteleuropäische
Gradmessung" führt, wurde durch Staatsverträge eingeleitet und
erstreckt sich gegenwärtig in Russland über 39, in Preussen über
12, in Belgien über 5 und in England über 13 Längegrade;
doch sind die letzten Ergebnisse noch nicht zur Oeffentlichkeit
gelangt.
Die Erdmessungen haben uns auch mit einer andern That-
sache bekannt gemacht, welche störend auf die mathematischen
Arbeiten einwirkte. Alle Winkelmessungen am Himmel wie an
der Erdoberfläche müssen fehlerhaft sein, wenn das Bleiloth nicht
senkrecht auf dem Horizont steht. Schon zur Zeit der peruani-
schen Gradmessung argwöhnte Bouguer, dass in der Nähe grosser
Gebirgsmassen das Bleiloth ein wenig aus der senkrechten Linie
hinweg und von den Bergmassen angezogen würde (Localattraction).
Man ist dann später dieser Fehlerquelle auf die Spur gekommen
und hat sie zu beseitigen verstanden. Die Lothab weichung ist
meistens sehr gering, doch hat man sie in den Alpen und im
Kaukasus bis auf 20 und 54 Bogensecunden anwachsen sehen.
Mit grosser Ueberraschung entdeckten jedoch die Engländer, als
sich ihre Messungen dem Himalaya näherten, dass die Lothlinie
von jenen ungeheuren Bergmassen nicht abgelenkt wurde, die
Russen dagegen fanden in einer ebenen Gegend um Moskau zur
noch grössern Verwunderung eine Ablenkung des Lothes von 12
Bogensecunden , und da sich an jener Stelle gerade die Gränze
2 20 ^^ir mathematischen und physischen Geographie.
einer Gebirgsart erstreckt, so vermuthet man jetzt, dass die ver-
schiedene Dichtigkeit der Felsarten unserer Erdrinde auf die Rich-
tung der Lothlinie Einfluss haben müsse. Der Vortragende , der
neuerdings eine strengere Theorie der atmosphärischen Strahlen-
brechung in den „astronomischen Nachrichten" ') gegeben hat,
hofft jedoch mit ihrer Hülfe in Zukunft die örtlichen Störungen
der Lothlinie aufzufinden.
Im Anfang, wo man über die Gestalt der Erde nachdachte,
hielt man sie für eine viereckige Tafel oder für eine runde Scheibe.
Es war der grösste Schritt zur Annäherung an die Wahrheit, als
man vermuthete, sie müsse eine Kugelform besitzen ; noch schärfer
erkannte man die wirklichen Verhältnisse, als Richer entdeckt hatte,
dass sie an den Polen abgeplattet sei, und wenn auch nicht die
reine Kugelgestalt, doch die mathematische Form eines kugel-
förmigen Umdrehungskörpers (Rotationssphäroids) besitze. Aber
nicht emmal diese Gestalt ist in ihrer Reinheit vorhanden. Die
Erdmessungen sind so genau geworden , dass nach Beseitigung
aller Fehlerquellen kein Zweifel mehr übrig bleibt, dass die Erde
von der eUiptischen Form örtlich zurückweicht. So erscheint sie
namentHch, wenn man den englischen Bogen zu Grunde legt, viel
abgeplatteter als anderswo, und wenn man jetzt die Angabe liest,
dass die Erde um V290 abgeplattet sei, so ist dieser Zahlenaus-
druck nur das mathematische Mittel aus verschiedenen für correct
geltenden Erdbogenmessungen. Man hat sich also einen Quer-
schnitt durch die Erde von Pol zu Pol nicht als ein reines Ellip-
soid zu denken, sondern die wahre Oberfläche wird stellenweise
einen Hohlraum, stellenweise eine Wölbung längs der mathemati-
schen Linie bilden ; doch sind diese Abweichungen so gering, wie
etwa die Wellen auf der See , die wir uns unbeschadet der ört-
lichen Störungen doch als eine sphärisch gekrümmte Fläche denken.
i) C. M. Bauernfeind, Die atmosphärische Strahlenbrechung; I. Abschn.
die astronomische Strahlenbrechung; II. Abschnitt die terrestrische Strahlen-
brechung. Separat-Abdruck. München 1866. Cotta.
4. Ueber die Gestalt der Erde.
(Ausland i86S. Nr. 34. 20. August.)
Wir wollen im nachstehenden versuchen, den Leser, so weit
es möglich ist, mit den Erörtermigen eines Mathematikers über
die Gestalt der Erde bekannt zu machen, ohne auf die verwickel-
ten Rechnungen selbst einzugehen^).
Die Gestalt der Erde ist auf drei verschiedenen Wegen be-
stimmt worden. Laplace fand sie in seinem Studierzimmer, und
obgleich sein Verfahren eigentlich nichts mit der gegenwärtigen
Aufgabe zu schaffen hat , so verweilt man doch gern dabei , weil
es zu den Triumphen des menschlichen Scharfsinns gehört. La-
place sagt sich, dass, wenn die Erde, wie man aus andern That-
sachen geschlossen hatte, am Aequator angeschwollen, an den
Polen plattgedrückt oder ein sogenanntes Umdrehungssphäroid
sei, der Mond in seinem Umlauf gewisse Störungen erleiden müsse,
denen er entgehen würde, wenn die Erde eine reine Kugel wäre.
Der Mond ward also befragt, die Störungen wurden aufgefunden,
und Laplace berechnete 1802 daraus einen Abplattungswerth von
^/soö ) der den andern gefundenen Werthen überraschend nahe
kam , so dass man nur bedauern kann , warum niemand die
Rechnung später erneuert hat, da doch die Störungen des Mondes
und die Dichtigkeit der Erde jetzt etwas besser gekannt werden,
als vor 60 Jahren.
Man kann aber die Gestalt der Erde, das heisst die Ab-
plattungsgrösse , noch anders finden. Da die Aeusserungen der
i) Untersuchungen über die Gestalt der Erde von Dr. Philipp Fischer,
Dir. der techn. Schule zu Darmstadt, Darmstadt 1868.
22 2 2ur mathematischen und physischen Geographie,
Schwerkraft an der Erdoberfläche abnehmen mit den Qtiadraten
der Entfernung vom Erdmittelpunkte, so wird ein Körper an den
Polen stärker angezogen werden als am Aequator ; denn wenn
die Erde abgeplattet ist , so befinden wir uns an den Polen ihrem
Mittelpunkte näher als am Aequator. Um diese Abnahme oder
Zunahme der Anziehung zu messen, dafür haben wir ein einfaches
Instrument , das Pendel. Die Dauer einer Pendelschwingung ist
bekanntlich abhängig von seiner Länge. Je kürzer das Pendel,
desto rascher die Schwingungen. Das Pariser Secimdenpendel hat
also eine ganz bestimmte Länge, wenn es genau eine Schwingung
in genau einer Zeitsecunde vollziehen soll. Nun ist es merkwürdig
und für die Untersuchungen unseres Verfassers höchst empfehlend,
dass das Pendel lange vor den Gradmessungen , ja längere Zeit
in Widerspruch mit den geodätischen Messungen, eine Abplattung
der Erde angezeigt hat. Wohl hatte noch früher Newton es als
eine theoretische Forderung ausgesprochen , dass die Erde , weil
sie sich drehe, eine Anschwellung am Aequator, eine Abplattung
in den Polarräumen erUtten haben müsse. Dass diess aber
wirklich der Fall sei, fand erst Richer, der das Pariser Secunden-
pendel zu seinen astronomischen Aufgaben nach Guayana mit-
genommen hatte. Es versagte nämlich dort seine Dienste, denn
seine Schwingungen erfolgten nicht genau in einer Secunde, sondern,
etwas träger. Er musste also das Pariser Secundenpendel kürzen,
um das Secundenpendel für Guayana zu erhalten. Offenbar war
also eine Verminderung der örtlichen Anziehungskraft für Guayana
nachgewiesen worden. Wenn man nun vom Aequator angefangen
nach den beiden Polen zu, so weit sie erreichbar sind, überall die
Länge der örthchen Secundenpendel feststellen könnte, so würde
sich mit einer geeigneten Formel aus ihren Längen die Gestalt
der Erde berechnen lassen. Bequemer für die Beobachtimg und
sicherer im Ergebniss ist es aber, wenn man ein unveränderliches
Secundenpendel, z. B. das der Greenwicher Sternwarte, nach
irdischen Punkten von verschiedenen Breiten trägt und die
Schwingungszahlen innerhalb der nämlichen Zeitdauer, sagen wir
eines Tages oder einer Woche, ermittelt. So ist es denn auch
geschehen, und wir haben eine Reihe von Pendelreisen erhalten,
von denen die des Hrn. Freycinet, wie wir sogleich nebenbei
bemerken wollen, die verdächtigsten sind, die des Capt. (jetzt
General) Sabine zu den vertrauenswerthesten zählen. Er trug das
Ueber die Gestalt der Erde. 223
Greenwicher Pendel über den Aequator nach der Insel Ascension,
nach Sierra Leone, nach der Küste von Brasilien, nach den west-
indischen Inseln, zuletzt nach Spitzbergen und Ostgrönland, im
ganzen nach 13 Stationen, und so erhielt' er einen Werth für die
Abplattung der Erde, der \288'7 betrug. Der BequemHchkeit
halber wurden theils Inseln, theils Küstenpunkte gewählt, so dass
in zwei Jahren die Messungen vollendet werden konnten. Es ist
nicht unwichtig , schon hier aufmerksam zu machen , dass diese
Messungen entweder im Meer fauf Inseln") oder am Meer (an
Küsten) stattfanden.
Man kann aber die Abplattung an der Erde selbst messen.
Wäre die Erde eine Kugel, so müsste natürlich am Pariser Mittags-
kreis der Abstand vom Aequator bis zum ersten nördlichen Breite-
grade genau so gross sein, wie der Abstand zwischen lat. 55°
und lat. 56°, sowie zwischen lat. 89° bis lat. 90° (Nordpol).
Liegt aber der Pariser Mittagskreis auf einem elliptischen Körper,
ist die Umdrehungsachse der Erde um ein gewisses Bruchtheil
kürzer als ihr Aequatorialdurchmesser, so werden die Abstände
eines Breitengrades am Aequator kürzer als unter lat. 55° und
am Nordpol länger als unter lat. 55° sein, und nur unter diesem
letztern Parallel etwa den Werth haben, wie wenn der Pariser
Meridian ein Kreis wäre.
Nun sieht jedermann , wie leicht es Aväre , die Gestalt der
Erde zu finden. Wir brauchen nur die Länge der Breitengrade
bei verschiedenen Polhöhen an den Mittagskreisen unter einander
zu vergleichen. Wir brauchen nicht einmal bis an den Pol zu
gehen; wenn wir nur ein Stück der Erdkrümmung genau kennen,
so werden wir das Ganze schon berechnen. So schicken wir denn
Gelehrte an den Polarkreis , nach Lappland (Maupertuis) und
andere nach Quito (Bouguer, Lacondamine), lassen dort Erdbogen-
stücke messen, und aus ihren Unterschieden ergiebt sich zum
erstenmal nicht bloss, dass die Erde abgeplattet sei, sondern auch
wie gross annähernd diese Abplattung ausfalle. Seitdem haben
sich die Bogenmessungen imendHch vervielfältigt, sie sind auch
schärfer geworden in ihren Ergebnissen.
Wie jeder Nachdenkende sich selbst sagen kann, zerfällt eine
solche Aufgabe in zwei ganz verschiedene Theile. Einmal muss
man die irdische Entfernung zwischen den Endpunkten des Bogen-
stückes an dem Meridian genau kennen, dann aber muss man
/
2 24 ^"' mathematischen und physischen Geographie.
den astronomischen Abstand der Breitengrade an den Endpunkten auf-
finden. Das erste ist verhältnissmässig leicht, das andere sehr schwer,
und , wenn wir es recht streng nehmen , örtlich unmöglich. Das
erste ist eine geodätische Aufgabe, das andere ist eine astronomische.
Wer die Geschichte der frühern verunglückten Messungen kennt,
der weiss auch , dass die Fehler des Geodäten viel kleiner waren,
als die Fehler der Astronomen. Wenn daher der Chalif Mamun
von seinem Astronomen in der Wüste einen Breitengrad messen
liess, so wurde er ^•on den Schelmen arg belogen, als sie ihm ein
Ergebniss heimbrachten, welches nichts anderes war, als die ge-
läufige Angabe des Alterthums, überset/t in arabische EUenwerthe.
Nicht dass wir zweifelten , dass sie wirklich gemessen hätten , sei
es durch Schrittzählen oder mit einer Kette; allein wie weit die
Polhöhen der beiden Endpunkte des Bogens entfernt lagen , dazu
besassen sie Aveder Instrumente von der nöthigen Schärfe, noch
die erforderlichen astronomischen Kenntnisse. Woher wollten sie
wissen, dass die ])eiden Endpunkte auf einem Mittagskreis genau
um I Grad oder 60 Bogenminuten entfernt lagen? Nicht auf zehn
Bogenminuten ab oder zu waren sie bei ihrem eiligen Verfahren
ihrer Polhöhen sicher.
Seit Snellius Zeiten, also 2^2 Jahrhunderten, misst man nicht
etwa die Endpunkte der Bogen unmittelbar, obgleich auch das
vorgekommen ist, sondern man misst ein beliebiges kleines Stück
zwischen ihnen, betrachtet diess als die Basis eines Dreiecks und
misst von den Endpunkten dieser Basis die Winkel nach einem
hervorragenden Punkt in der Nähe. So erhält man ein erstes
Dreieck, dessen Seitenlängen sich durch Rechnung leicht finden
lassen. Eine Seite dieses Dreiecks benutzt man als Basis für ein
neues Dreieck, bis man durch eine Reihe an einander geket-
teter Dreiecke die beiden Endpunkte des Bogens verbunden
hat. Dass sie unter dem gleichen Mittagskreis liegen, kommt fast
nie vor ^), ist auch ganz unnöthig , denn, durch Rechnung kann
man ohne viele Mühe genau die Grösse des Abstandes der beiden
Endpunkte berechnen, wenn sie wirklich auf dem gleichen Mittags-
kreis gelegen wären. Will man sich überzeugen, dass am Ende
der Dreieckskette, in der Winkelmessung der Dreiecksberechnung
i) Bei Göttingen und Altona wiire es beinahe zugetroffen, was selbst di
Verwunderung eines Gauss erregen durfte.
Ueber die Gestalt der Erde.
225
kein Fehler vorgefallen ist, so braucht man nur eine Basis am
Enddreiecke oder irgend eine in der Kette befindliche Basis
(Verificationsbasis) nachzumessen. Die Instrumente sind aber in
neuester Zeit derart verfeinert und dem Verfahren mit Benutzung
des Microskops eine solche . Schärfe gegeben worden, dass man
die geodätischen Fehler als Null betrachten darf. Schon unter
Delambre und Mechain, also am Ende des vorigen Jahrhunderts, war
die Genauigkeit so weit gediehen, dass auf 57,000 Toisen oder
einen Grad die Messungsfehler höchstens i — 1V2 Toise betragen
konnten. Seitdem ist man aber noch \ iel weiter gelangt und
an den modernen Erdbogenmessungen beträgt der mögliche
Messungsfehler auf 57,000 Toisen nicht eine Dritteltoise.
Wie steht es aber mit der astronomischen Genauigkeit? Sind
die Polhöhen der beiden Endpunkte immer genau bekannt:
Schon die astronomischen Beobachtungen, untereinander ver-
glichen, zeigen bisweilen, wenn auch selten, starke Abweichungen.
Die stärkste, welche unser Verfasser anführt, betrifft die geogra-
phische Breite von Chfton. Sie lautet nämhch :
nach Clarke 53° 27' 29" 5
nach Bessel 53° 27' 31" 5
0° o' 2 " o
Bisweilen schwanken also die gefundenen Werthe um 2 Bogen-
secunden, zwei Bogensecunden sind aber an einem Mittagskreise
etwa 32 Toisen (ä 6 pieds). Bei den Grössen der Erdbogen
schwächen sich jedoch solche Fehler bedeutend ab, ja es können,
wenn nur recht viel astronomische Bestimmungen vorhanden sind,
Stationen mit zweifelhafter Polhöhe gänzlich ausser Berechnung
gelassen werden. So haben denn auch die astronomischen
Beobachtungsfehler nichts beunruhigendes. Die Gefahr droht viel-
mehr von gewissen örtlichen Störungen der Beobachtung selbst.
Ehe wir aber die Erörterung auf diesen Punkt lenken, müssen
wir zuvor einen Blick auf die Rechnungsergebnisse werfen
Im Jahre 1831 war Schmidt in Göttingen mit Anwendung
der von Gauss gegebenen ,, Methode der kleinsten Quadrate",
gestützt auf 7 vorhandene Erdbogenmessungen , die zusammen-
addirt 30° 27' Länge besassen , zu einem Abplattungswerth
von ^297'5'' gel^^gt- Bessel, der noch einige neuere Messungen
hinzufügen konnte (Bogenlänge 50° ;^^'), kam zu einer Abplattung
Peschel, Abhandlungen. II. 15
2 20 Zur mathematischen und physischen Geographie.
von V299'i5» ^^i^y l'is-tte 1849 V299»33 Und James 1858 eine solche
von V298'07 ermittelt. In der Zeit von 1827 — 1858 war die Länge
der brauchbaren Bogenmessungen von 30° 22' auf 63° 30' ge-
wachsen, und doch war das letzte Ergebniss beinahe das nämliche
gebheben; da nun die Werthe der Abplattung nach den Pendel-
messungen zwischen ^283 ^^s V285 gefunden worden waren, so
fing man an, in ihnen nichts weiter zu sehen, als eine annähernde
Bestätigung von secundärem Werth. Dennoch stimmten die
Werthe der Abplattung aus den Pendelmessungen sehr gut mit
den geodätischen überein, wenn man bei Berechnung der letzteren
die sogenannte zweite grosse ostindische Gradmessung ausser Spiel
Hess. Nun kam aber die russische Gradmessung hinzu, und schon
als sie erst eine Entwicklung von 15° 16' erlangt hatte, sah sich
James genöthigt, die Abplattung wieder auf V294>26 ^u erhöhen,
also den Werthen der Pendelmessungen wieder näher zu bringen.
Die Absicht der oben angeführten Untersuchungen ist es nun, die
ostindische Gradmessung zu verdächtigen und die Pendelmessungen
wieder zu Ehren zu bringen, ja ihnen die Entscheidung der Zweifel
zuzumuthen.
Nicht etwa, dass der Verfasser gegen die englischen Erd-
messer und Astronomen den geringsten Vorwurf erheben wollte.
Ausdrücklich bemerkt er, dass die indischen Messungen der
terrestrischen wie der astronomischen Bogenlängen mit derselben
Sorgfalt ausgeführt wurden und dasselbe Vertrauen verdienen, wie
etwa die preussischen , russischen oder englisch-französischen. In
Ostindien aber waren die Astronomen Störungen ausgesetzt, gegen
die man sich bis jetzt nicht schützen kann. Schon im Jahre 1738
untersuchte Bouguer am Chimborazo, ob nicht, wie diess das
Newtonische Anziehungsgesetz gebieterisch erfordert, die Nähe
grosser Berge das Loth aus seiner senkrechten Richtung abzu-
lenken (Localattraction) vermöge. Er war damals nicht im Stande,
diese Erscheinung nachzuweisen. Sie lässt sich überhaupt nur an
den astronomisch bestimmten Punkten einer Dreieckskette erkennen.
l) Das heisst mit andern Worten, wenn man V297>5 ^°^ Aequatorial-
durchmesser (a) an die Umdrehungsachse (b) der Erde setzt, so wird diese so
gross, wie der Aequatorialdurchmesser. In Buchstaben ausgedrückt ist also der
Abplattungswerth .
Ueber die Gestalt der Erde.
227
Denken wir uns also, dass eine Triangulation Punkte nördlich
und südlich von den Alpen verbinden, und dass dieses Gebirge
das Loth am Südabhang nach Norden , am Nordabhang gegen
Süden ein wenig anziehen werde, so müssen alle Astronomen an
jenen betroffenen Punkten zu fehlerhaften Breitenbestimmungen
genöthigt werden. Denn es ist ja nicht bloss das Loth, also ein
Gewicht an einem Faden, welches verrückt wird, auch die Ober-
fläche des Quecksilbers in einer Schale, oder die Luftblase in einer
mit Wasser gefüllten Glasröhre wird abgelenkt werden. An einem
solchen Ort giebt es dann zwei Horizonte, einen mathematischen
und einen physischen der Schwerkraft. Auf diesem letztern be-
wegen sich alle Thätigkeiten des Astronomen , und bildet er mit
dem mathematischen Horizont einen Winkel , so werden auch
die Polhöhen um diesen Winkel verfälscht werden. Erkannt wird
der Irrthum erst, wenn die Breite des Orts, wie sie aus den Erd-
messungen berechnet werden kann (geodätische Breite), nicht mit
der beobachteten Polhöhe (astronomische Breite) übereinstimmt.
Die Lothablenkung ist in Genf 6" 41 und in Bern 7" 73 südlich,
d. h, die beobachteten Polhöhen werden um den gleichen Betrag
zu nördlich ausfallen , in Mailand dagegen ist die Lothablenkung
12" 83 nördlich oaer die astronomischen Breiten werden zu
südlich ausfallen , folglich würde man den Abstand (amplitudo) des
Berner und Mailander Breitenkreises um 20" 56 zu gross finden
oder um 335 Toisen sich irren. Zwischen Mondovi und Andrate,
wovon das eine durch die ligurischen Alpen eine südliche , das
andere durch den Monterosa eine nördliche Lothablenkung erleidet,
gaben die astronomischen Beobachtungen einen Polhöhenabstand
von 1° 7' 27 an, während er nach den geodätischen Messungen
I "^ 8' 14" 8 hätte betragen sollen, so dass durch die Loth-
ablenkung ein Irrthum von 47 " 8 entstand. Zwischen der Stadt
Duschel und der Stadt Wladikawkas liegt der Kaukasus, der die
Lothe so mächtig anzieht, dass die Polhöhenabstände, astronomisch
gemessen, von den geodätisch berechneten um 53" 9 sich ent-
fernen, auf einen Abstand, der nur 55' 50" 6 beträgt. Man
wird bemerken , -^dass die Alpen und der Kaukasus ostwestUch
streichen. Natürlich stören solche Gebirge am meisten, während
man z. B. am Ural oder an den Anden die Lothablenkungen
weniger zu befürchten hätte, weil sie dort meistens in der Richtung
nach Westen oder Osten stattfänden , während bei den Grad-
15*
2 28 2:ur mathematischen und physischen Geographie.
messungen nur die Ablenkungen im Sinne der Mittagskreise
Störungen verursachen. Allein auch fern von Gebirgen, auf \öllig
unverdächtigen Gebieten ist man vor solchen Erscheinungen nicht
mehr sicher. So findet bei dem Punkt Evanx an der französischen
Dreieckskette eine Ablenkung von 8 und bei Cowhythe an dem
britischen Erdbogen eine solche von lo Bogensecunden statt.
Noch interessanter ist eine Stelle in der Nähe südlich \ on Moskau,
wo folgende Ablenkungen, ausgehend "\on einer WSW nach ONO
streichenden Linie festgestellt worden sind:
Ablenkung.
Bei einem Abstand von 2,5 engl. jNIeilen 2" 2
„ 8 „ „ 7" 8
„ „ ,, ,, 13 ,, ,, 5" I
• „ „ ., „ 18 „ „ 2 " I
„ ,, M 23 ,, ,, o" o
Diese letztere Erscheinung wird einstimmig dadurch erklärt,
dass entweder an den Rändern dieser Ablenkungsinsel das Erd-
innere aus Massen von ungewöhnUcher specifischer Schwere (Me-
talle) bestehe, oder dass unter jener Stelle sich ein Hohlraum im
Erdinnern befinde oder ein Becken auf grosse Tiefen mit specifisch
sehr leichten Erdarten ausgefüllt werde. Dass im letztern Falle
eine Lothablenkung stattfinden müsste , darüber besteht kein
Zweifel. Liegen aber nicht alle Küstenpunkte am Rande -von
Becken , die mit specifisch leichteren Massen , nämlich mit See-
wasser ausgefüllt sind? Muss nicht die Lothablenkung eine sehr
beträchtliche werden, wenn von eine Küste der Meeresboden
jäh zu grossen Tiefen abstürzt? Sowie es uns klar wird, dass
diese Frage unbedingt bejaht werden muss, sehen wir auch zugleich
ein, dass sehr viel auf die geographische Gliederung des Gebietes
ankommt, über welches eine Dreieckskette ausgebreitet wurde.
Europa beispielsweise, eine grosse Halbinsel, die sich nach Westen
zuspitzt, nach Osten mit grossen Festlandsräumen verbunden ist,
im Norden aber von der seichten Nordsee begrenzt wird, muss als
ein vergleichsweise ablenkungfreier Raum erscheinen, oder vielmehr
als ein Raum mit vorwaltend östlicher Ablenkung, die aber nicht be-
lästigt, denn wenn nur nicht das Loth m der Richtung der Mittags-
kreise, also nach Norden oder Süden angezogen wird, müssen die
astronomischen Breiten mit genügender Wahrheit sich ermitteln lassen.
Ueber die Gestalt der Erde.
229
Das britische Indien dagegen ist von allen Erdräumen vielleicht
das unschicklichste Gebiet zu einer Erdbogenmessung. Die eng-
lische Dreieckskette beginnt nämlich am Cap Comorin, dem Süd-
horn einer Halbinsel am Rande des ziemlich jäh und sehr tief
abfallenden Beckens des indischen Oceans. Dort muss also eine
verdoppelte Lothablenkung nach Norden wirksam sein, denn erstens
stösst der oceanische „Hohlraum", wenn man so sagen darf, das
Loth nach Norden, und dann Avird es ausserdem noch durch die
Hochlandmasse des Dekan ebenfalls dorthin gezogen. Sowie
sich nun die Dreieckskette tiefer in die Halbinsel senkt, wird zwar
die oceanische Lothabstossung schwächer, dafür aber die conti-
nentale Anziehung, an der sich ganz Innerasien betheiligt, immer
stärker, und zuletzt muss die Anziehung des Himalaya, Karakorum
und Küenlün höchst beträchtliche Werthe erreichen. Diess ist
der Grund, wesshalb die Ergebnisse der ostindischen Gradmessung
so verdächtig erscheinen. Man wird sich aber vielleicht sagen,
dass die Engländer diese Dinge mit ebenso hellen Augen gesehen
haben als wir selbst, und dass sie Grund gehabt haben müssen,
sich über sie hinwegzusetzen. Die Möglichkeit der Lothablenkung
ist ihnen auch nicht entgangen , allein die Rechnungen innerhalb
der ostindischen Dreieckskette schienen zu bestätigen, dass eine
solche Ablenkung nicht stattfinde. Die geodätischen und die
astronomischen Breiten zeigten nämlich bei der Annäherung an
die centralasiatischen Gebirgswälle keine der erwarteten oder be-
fürchteten Unterschiede. Allein wenn man sich sagt, dass die ge-
sammte Masse von Hochasien bei der Lothablenkung betheiligt
ist, so folgt daraus, dass die Anziehung nach Norden symmetrisch
auf der Dreieckskette, vom Cap Comorin angefangen, wachsen
konnte.
Wie gegründet aber die Befürchtungen des Darmstädter Mathe-
matikers sind, beweisen die verzweifelten Versuche, diese angeb-
liche Abwesenheit der Lothablenkung in Indien zu rechtfertigen.
Der britische Reichsastronom Airy wollte es sogar ganz natürlich
finden, dass der Himalaya keine Lothablenkung bewirke. Er geht
davon aus, dass das Erdinnere schmelzflüssig und wegen der
A-ielen Klüfte und Spalten die Cohäsionskraft der Gebirge ver-
schwindend klein sei, so dass also die Gebirge wie Schlacken auf
der Lava des Erdinnern schwimmen sollten, folglich um so vieles
2'^o Zur mathematischen und physischen Geographie.
leichter sein müssen als dieses letztere. Diess wäre nicht nur der
Fall, wenn die Erdoberfläche auf zwei deutsche Meilen Tiefe (!),
es wäre sogar noch möglich, wenn sie auf 20 deutsche Meilen
Tiefe erstarrt wäre. Dagegen lässt sich nun erwiedern, dass die
neuere Geologie ein heissflüssiges Erdinnere nicht mehr kennt,
oder höchstens ^ines , welches mindestens um den fünften Theil
eines Erdradius Tiefe unter uns liegt. Aber gesetzt, Gebirgsmassen
beständen aus specifisch leichteren Gesteinen als die andere Erd-
kruste, was sich vielleicht aus andern geologischen Hypothesen
rechtfertigen liesse , wie kommt es denn , dass wir im Kaukasus
und an den Abhängen der Alpen die Lothablenkung nachweisen
können?
Eine andere Erklärung hatte der russische Akademiker Schubert
versucht. Er nahm zur Ausgleichung der Widersprüche an, die
Erde sei kein Umdrehungssphäroid , sondern ein „EUipsoid mit
drei Achsen". Der Unterschied zwischen diesen beiden Körpern
lässt sich leicht durch Worte zur Anschauung bringen. Durch-
schneidet man ein Umdrehungssphäroid gleich einem Apfel in zwei
Hälften, in der Art, dass der Schnitt durch einen Mittagskreis
geführt wird, so ist die Schnittfläche eine Elhpse. Durchschneidet
man aber den Umdrehungskörper am Aec^uator, so ist die Schnitt-
fläche ein Kreis. Beim EUipsoid mit drei Achsen ist aber auch
die äquatoriale Schnittfläche eine Ellipse, die bei der Erde dadurch
entsteht, dass man, nachdem sie bereits an den Polen plattgedrückt
war, sie durch einen Druck an zwei gegenüberliegenden Stellen
des Aequators noch ein wenig sich zusammengeschoben denkt.
Bemerken wir sogleich , dass alle Geologen die sphäroidische Ge-
stalt der Erde als nothwendige Folge ihrer Umdrehung ansehen.
Es ist dabei ganz gleichgültig, ob man sich zu vulkanistischen
oder neptunistischen Ansichten bekennt, ob man annimmt, die
Erde sei ehemals schmelzflüssig oder eine bis zum Mittelpunkt
starre Kugel gewesen. In beiden Fällen müsste als letztes Er-
gebniss der Umdrehung immer ein Rotationssphäroid entstehen.
Unser Verfasser hat jedoch andere Gründe, und zwar mathema-
tische, zur Verwerfung der Schubert'schen Annahme uns vorgelegt.
Gleichviel ob die Erde ein EUipsoid mit drei Achsen oder ein
Rotationssphäroid sei, in beiden Fällen müsste ihre Umdrehungs-
achsc gleich gross sein. Allein zu Folge der grossen russischen
Ueber die Gestalt der Erde,
231
Gradmessung beträgt die Umdrehungsachse 3,261,428,7 Toisen,
und zufolge der ostindischen 3,261,547,3 Toisen. Beide Messungen
geben also einen Unterschied von 118,6 Toisen. Andererseits
müsste, da die beiden Messungsmeridiane auf 50 Längengrade von
einander entfernt liegen, wenn der Aequatorialschnitt durch die
Erde eine Ellipse wäre, der aus ihnen berechnete Werth der
Aequatorialdurchmesser sehr grosse Unterschiede zeigen, statt
dessen aber besitzt der Aequatorialdurchmesser der russischen
Erdmessung 3,272,610,3 und der ostindische 3,272,650,9 Toisen.
Der Unterschied zwischen beiden beläuft sich also nur auf 40,6
Toisen. Wo also die Annahme eines Ellipsoids mit drei Achsen
keinen Unterschied duldet, finden 'wir einen grossen, und wo sie
einen grossen erheischt, nur einen kleinen.
Ein wenig Nachdenken über die Folgen der Lothablenkung
lässt uns auch inne werden, wie schwierig es ist, den Begriff der
mathematischen Gestalt der Erde festzustellen. Man verständigte
sich früher allgemein dahin, dass man unter der mathematischen
Gestalt der Erde diejenige Krümmung ihrer Oberfläche verstehen
wolle, welche auf unserer Erdoberfläche das Meereswasser bilden
würde, wenn es durch ein Netz von Canälen quer durch die Fest-
lande sich ungehindert vereinigen könnte. Allein die Lothab-
lenkungen würden auch in diesem Falle nicht verstatten, dass sich
die Meeresfläche spiegelglatt an die ideale Gestalt anlege, sondern
sie würde sich immer wieder in Wellenkämmen und Wellenthälern
heben oder senken, und zwar sollte nach Schuberts Berechnung
bei einer Lothablenkung von 10" ein Wellenkamm oder ein Wellen-
thal von 20 Zoll entstehen. Unser Verfasser giebt uns nun zu
bedenken, dass aus dem gleichen Grunde der physische Meeres-
spiegel, von dem aus wir unsere Messungen führen, durchaus nicht
mit dem mathematischen zusammenfalle. An Küsten, die sich rasch
zu grossen Tiefen senken, oder die sich hart an der See zu grossen
Gebirgen erheben, muss der Meeresspiegel, angezogen von den
specifisch schwereren Festlandmassen, über das mathematische
Niveau hinaufgezogen werden, und erst auf einem gewissen Ab-
stand vom Ufer, wo die Festlandsablenkung Null wird, dürften
wir einer Curve begegnen, jenseits welcher der physische Meeres-
spiegel mit dem mathematischen zusammenfällt.
Die Folgen dieser Massenanziehung hat unser Mathematiker
2'? 2 '^"'' mathematischen und physischen Geographie.
sehr scharfsinnig nachgewiesen an den Ergebnissen der Pendel-
messungen. Er theilt sie nämlich in zwei Classen, in solche, die
an Festlandsküsten, und in solche, die auf Inseln stattfanden.
Da zeigt sich nun mit grosser Uebereinstimmung , dass auf den
Festlandspunkten die kleineren , auf den Inseln die grösseren Be-
träge der Schwerkraft beobachtet worden sind, und die Ausnahmen,
die etwa vorkommen , sich gut rechtfertigen lassen. Besonders
auffallend ist es , dass oceanische Inseln fern ab von den Con-
tinenten die stärkste Vermehrung der Schwerkraft zeigen. Steigt
nämlich der Meeresspiegel in Folge der Anziehung der Festland-
massen an den Küsten über den mathematischen Meeresspiegel
hinauf, so werden solche Küstenpunkte dem Centrum der Erde
ferner liegen, folglich eine Schwächung der Schwerkraft erfahren.
Inseln dagegen, fern von den Festlanden gelegen, die aus grosser
Tiefe vereinzelt aufsteigen , wie diess bei den atlantischen Archi-
])e\en der Fall ist, werden in Folge ihrer geringen Masse den
physischen Meeresspiegel nur schwach zu heben vermögen, folgUch
befindet man sich an ihren Küsten (relativ) dem Erdmittelpunkt
näher und die Schwerkraft ist dort beträchtlicher als an den
Festlandsrändern.
Die Schlussergebnisse des Verfassers sind daher folgende ;
Die ostindische Gradmessung, wegen ihrer starken Lothablenkungen
verdächtig, sollte ausser Kraft gesetzt werden bei der vorläufigen
Berechnung der Abplattungsgrösse. Man sollte wieder zurück-
kehren zu den Pendelmessungen und sie vervielfältigen. Neue
Breitengradmessungen wären auf Gebieten auszuführen , wo Loth-
ablenkungen weniger zu besorgen sind. Um theoretisch den Be-
trag der Lothablenkung zu ermitteln, dazu fehlen uns jedoch noch
wichtige Anhaltspunkte. Die durchschnittliche Dichtigkeit der
Erde, auf verschiedenen Wegen berechnet, hat verschiedene Ergeb-
nisse geliefert. Nach unserm Verfasser hat man eine specifische
Schwere von 5,5, mit andern Worten die s^/äfache Dichtigkeit
des Wassers als den annehmbarsten Werth zu betrachten, dem
aber ,, mindestens" eine Unsicherheit von 0,15 oder V37 ^^^
Ganzen beigelegt werden muss. Ferner aber sollten wir auch
die durchschnittliche Dichtigkeit der Gesteine bis zu einer Tiefe
von ^/g bis ^/4 deutsche Meilen örtlich zu bestimmen vermögen.
Ausserdem fehlen uns schärfere Bestimmungen über die mittlere
Ueber die Gestalt der Erde.
233
Höhe der Festlande, sowie über die Tiefen der Ocenne. Bis
diese Vorbedingungen nicht erfüllt sind , wird sich die Lothab-
lenkung schwerlich theoretisch ermitteln lassen. Jedenfalls müssen
wir uns eingestehen, dass wir noch weit entfernt sind, den Ab-
plattungswerth der Erde bis zu einer beruhigenden Genauigkeit
zu kennen, namentlich aber, dass die Uebereinstimmung in den
Ergebnissen der Berechnungen von Schmidt, Airy und Bessel uns
in trügerische Sicherheit gewiegt hatte, und die Aufgabe keines-
Avegs als gelöst angesehen werden darf.
5. Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
(Ausland 1857. Nr. i. 2. Januar.)
Wie die Oberfläche unserer Erde, wie die Geschlechter unserer
Thiere, wie die Bevölkerungen unseres Planeten, so haben auch
die Gewächse ihre eigene Geschichte. Die Geologen wissen uns
von mancher verlorenen Art der Thiere zu erzählen, und von den
physikahschen Veränderungen, welche ihren Untergang bewirkten.
Alte Chroniken geben uns Aufkärung über den Zeitpunkt, wo da
und dort der letzte Bär, der letzte Wolf erlegt wurde, und wie
allmählich das Verbreitungsgebiet der Raubthiere abnahm. Auch
wissen wir, dass früher oder später ein Zeitpunkt eintreten wird,
wo der Mensch gänzlich diese oder jene Art vertilgt haben wird.
Dem Biber werden bald die stillen Einöden im amerikanischen
Westen fehlen, wo er seine Wasserarbeiten ungestört verrichten
könnte ; der Büfifel, den die Rothhäute jagen, und der jetzt schon
vergleichsweise selten geworden ist, wird schwerlich noch das
zwanzigste Jahrhundert erleben, und der Wallfisch, der einst alle
Oceane bevölkerte, ist jetzt schon in die äussersten arktischea
und antarktischen Breiten verdrängt worden, und seine Art dem
Erlöschen nahe. Aber nicht bloss Menschen und Thiere, auch
die Gewächse haben eine historische Gegenwart und Vergangenheit.
Sie führen unter sich grosse Kriege, der Stärkere vertilgt den
Schwächern, und der Besiegte verliert sein Gebiet an den Eroberer.
Andere Arten gerathen der Cultur in die Hände, sie entwickeln
sich, sie nehmen andere Formen an, so dass das historisch Ge-
wordene völlig unähnlich wird mit den wild gebliebenen Vettern.
Die Pflanzen wandern auch — freiwillig oder absichtlich. Sie
erscheinen als Auswanderer und Fremdlinge an fernen Gestaden
Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
235
und in neuen Welttheilen, um ihre Art auf Kosten eingeborner zu
verbleiten. Oft genug sind sie die Träger der Civilisation und die
letzten Ursachen der höchsten Begebenheiten innerhalb des
Menschengeschlechtes und innerhalb der Schöpfung geworden.
Vor dem Halm des Weizenkornes klärt sich der tausendjährige
Eichenurwald. Die reichbewachsene Oberfläche der Erde wird
kahl, es treten sogar Veränderungen im Klima ein ; das gehörnte
Wild, das Pelzthier flüchtet, und mit ihnen weichen die Jägervölker
zurück, und alles diess vor der historischen Allmacht eines kleinen
Kornes, welches nun seit Jahrtausenden ein gleiches Schicksal
theilt mit der nach Gesittung ringenden Menschheit, welches
vielleicht als Fremdling in unsern Welttheil gekommen, unsere
Voreltern gezähmt, welches die entdeckenden Seefahrer nach neuen
Continenten begleitet, welches die ersten sesshaften Ansiedlungen
gegründet und alle grossen Städte erbaut, alle Wunder unserer
Civilisation bewirkt hat, und doch in seiner gegenwärtigen Form,
wie viele vermuthen, erst ein Product menschlicher Erziehung ge-
wesen ist, welches ohne unsere Pflege, ohne künstliche Abwartung
nicht überall gedeihen will, das dennoch beinahe über die ganze
Erde sich verbreitet hat und über dessen Heimath wir nichts
sicheres wissen.
Ueber solche Begebenheiten sollten wir nun eine genaue
Chronik und Chronologie besitzen, da uns die historischen Vor-
gänge im vegetabilischen Theil der Schöpfung so nahe angehen.
Wer die ersten Thatsachen zu dieser Geschichte des Pflanzenreichs
sammelte, den müssten wir als den Begründer einer neuen Wissen-
schaft begrüssen. Einen solchen Namen verdient der ungleich
grössere Sohn eines grossen Gelehrten, Alphonse de CandoUe,
der Verfasser der Betrachtungen über botanische Geographie,
welche im vorigen Jahre erschienen sind ^). Eine Geschichte der
Pflanzen muss aber nothwendig beginnen mit ihrer Schöpfung, sie
soll uns Rede und Antwort geben auf die Frage, ob die Arten
gleichsam von einem Elternpaar abstammen oder nicht. Jedes
Nachdenken über dieses Problem muss zu Vermuthungen führen,
die innerhalb zweier extremen Meinungen fallen. Es giebt nämlich
sehr geistvolle und wissenschaftlich geachtete Botaniker, welche es
i) Alph. de Candolle, Geographie botanique raisonnee. Paris 1855.
2 Vols.
236 Zur mathematischen und i^hysischen Geographie.
für möglich halten, dass aus einer einzigen Pflanzenzelle allmählich
sich der ganze Reichthum der vegetabilischen Welt erschlösse Der
erste organische Keim, der zu einem Pflanzenorganismus sich
entwickelte, verbreitete sich nach dieser Ansicht in fremde Kli-
mate; er erhtt allmählich durch die dauernden physikalischen
Gegensätze in seiner neuen Heimath eine Veränderung seiner
Merkmale, die sich befestigten und zu neuen Arten ausbildeten.
Die Individuen dieser neuen Arten sonderten sich wieder ab. Aus
Variationen entstanden Varietäten , aus Varietäten Racen , die all-
mählich bleibende wurden; die Mitglieder zwischen den extremen
Varietäten starben aus oder wurden durch geologische Vorgänge
getrennt , und zuletzt , als der beobachtende Geist des Menschen
sich den Arten zuwandte, vermochte er nicht mehr die gemeinsame
Abkunft der verschiedenen Abarten zu erkennen, und sah sich
genöthigt, einen besondern Schöpfungsact für jede derselben an-
zunehmen. Für diese Theorie erklärten sich viele Erscheinungen,
die noch gegenwärtig beobachtet werden können, und die Verthei-
diger dieser Anschauung geben ihren Gegnern an Scharfsinn durch-
aus nichts nach. Zu den letztern aber zählt jedenfalls der grosse
Genfer Gelehrte, der jüngere De Candolle. Er ficht für zwei
Sätze, welche von vornherein die Frage entscheiden müssen.
Erstens behauptet er, dass ohne künstliches Dazwischentreten in
der Natur keine neuen Arten mehr entstehen, keine entstanden
sind, so weit das Wissen der Menschen rückwärts in der Zeit
reicht. Zweitens, dass jede Pflanzenart ihr eigenes Klima nie ver-
ändert hat , und dass , wenn die Landwirthe von Acclimatisation
fremder Pflanzenformen reden, sie nur einem süssen Trug nach-
gehen ; dass in der Natur niemals die Arten ihr KHma, das heisst
die Summe aller physikaUschen Erfordernisse ihres Wachsthums
verändert haben , und dass , wenn wirklich einzelne Gewächse
ausserhalb ihres Klimas ,, heimisch" geworden sind, sie diess nur
dem menschlichen Einschreiten zu verdanken haben, welches die
physikahschen Mängel der neuen ,, Heimath" durch künstliche
Ersatzmittel beseitigte.
An der Schwelle solcher Untersuchungen liegt aber ein Dru-
denfuss. Das schlimmste ist, dass die Gelehrten nicht wissen,
was sie unter Art verstehen sollen. Dem Laien scheint die Fest-
stellung des Begriffs ausserordentlich leicht, während De Candolle
offen bekennt, dass, je länger er nachgedacht, die Lösung des
Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
23:
Problems ihm schwieriger geworden sei. Wir alle wissen oder
glauben zu wissen, was ein Dorf und was eine Stadt sei; es setze
sich aber jemand hin und suche die richtige Definition, es könnte
ihm dann begegnen, dass er, wie De CandoUe nachweist, auf eine
Feststellung des Begriffs fiele wie im Wörterbuch der französischen
Akademie, nach welcher London ganz unzweifelhaft für ein Dorf
erklärt werden muss. Der grosse Botaniker mustert alle altern
und neuern Begriffsbestimmungen der Art, und gelangt schliesslich
zum Ergebniss, dass die Zoologen immer den grössten Nachdruck
auf die Gegenwart einer denkbaren gemeinsamen Abstammung
aller Individuen der Art , die Botaniker mehr auf die Ueber-
einstimmung der Individuen in den Merkmalen der Gleichartigkeit
gelegt haben, und diess letztere ist logischer, insofern ja die
Möglichkeit einer gemeinsamen Descendenz zu den Merkmalen
der Gleichartigkeit gehört. Seine Begriffsbestimmung lautet daher,
dass wir unter Art verstehen müssen: ,,die Gesammtheit aller Indi-
viduen, die sich so weit gleichen, dass man ihnen eine gemeinsame,
oder die ^Möglichkeit einer gemeinsamen Abkunft von einem Paar
oder einem Individuum zutrauen dürfe" (une coUection de tous
les individus qui se ressemblent assez, pour qu'on puisse croire
qu'ils sont sortis, ou qu'ils auraient pu sortir dun seul couple ou
d'un seul individu). Innerhalb der Arten kommen aber ver-
schiedene Abweichungen von physiologischem Werthe vor, die
sogenannten Variationen. So werden immergrüne Arten, die aus
ihrer warmen Heimath in ein rauhes Klima gebracht werden,
jährig. Unser Kirschbaum, der auf Ceylon in grossen Elevationen
gebaut wird, verliert dort nie seine Blätter. Würde man einen
solchen Baum jetzt noch nach Europa zurückverpflanzen, so würde
er wahrscheinlich wieder die Jahreszeiten einhalten. Allein wenn
man mit diesem Versuch zögert , wenn man Kirschbäume euro-
päischer Abkunft erst nach fünfzig Jahren oder länger zurück-
versetzen wollte, so würden sie vielleicht gar nicht mehr unser
Klima vertragen. Befestigt sich nämlich die Variation, so entstehen
daraus die Varietäten. Die Weinreben auf Madeira und am Cap
sind bekanntlich Auswanderer aus Europa , und erst seit etwa
400 Jahren nach jener neuen Heimath gelangt. Die Rebe vom
Cap oder von Madeira, die nach Europa zurück^•erpflanzt wird,
behält sämmtliche Merkmale ihrer Varietät bei. Nun ist aber die
Befestigung der Varietät bei allen Pflanzen leichter, die nicht durch
2-3S Zur mathematischen und physischen Geographie.
Samen erzogen werden; würde man Madeirareben aus Samen
ziehen wollen, so wäre die Behauptung der Varietät ausserordentlich
unwahrscheinlich; umgekehrt, weil der Weinstock seit den Römer-
zeiten immer aus Ablegern, nie aus Samen gezogen worden ist,
haben sich seine unzähligen Varietäten ausbilden können. Wo
aber die Varietät auch durch Samen sich fortpflanzen lässt, spricht
man gewöhnlich von Racen. Weinkerne von weissen Trauben
geben weisse , Weinkerne von blauen Trauben blaue Trauben.
Der weisse oder der schwarze Mohn liefert weisse oder schwarze
Früchte. Die holländischen Spargel bewahren ihre Merkmale
ebenfalls nach der Zucht aus Samen. Weisse Hyacinthen liefern
beinahe immer wieder weisse Hyacinthen. Bei andern Arten aber
ist die Race nicht erblich. Man hat hundert gelbe Kirschen
(Cerasus padus) gesäet , von denen auch nicht ein Kern gelbe
Früchte geliefert hat; man hat loo gelbe Sanct Lucienkirschen
(Cerasus Mahaleb) gesäet, und sie haben rothe, braune oder
schwarze Kirschen getragen, und von loo gelben Kornelkirschen
(Cornus mas) hat nur der zwölfte Theil gelbe Früchte gebracht.
Nun ist nichts leichter, als Racen im Thier- wie im Pflanzenreich
zu erzeugen. Man braucht nur die Individuen, bei denen sich
Racenquahtäten zeigen, zu isoliren, und aus ihren Abkömmlingen
immer wieder die Individuen, welche die gesuchten Eigenschaften
im höchsten Grade besitzen , auszuwählen , bis sich nach Ablauf
etlicher Generationen die Race befestigt hat. Bei den Pflanzen
gehört zur Bildung von Racen eine Organisation, welche der Fort-
pflanzung durch Samen nicht hinderlich ist, eine Absonderung
von allen andern Formen derselben Art, die Fortdauer der Ein-
flüsse, welche die Bildung der besondern Form hervorrief, endlich
der Ablauf einer gewissen Zeit bis ztnn Erblichwerden der Racen-
qualität. Diese Bedingungen finden sich äusserst selten in der
Natur, während ein geschickter Gärtner sie leicht herstellen kann.
Der Mensch vermag auch Racen zu entdecken, die veränderte
physikalische Verhältnisse zu vertragen vermögen. So hat man
frühreifenden Mais entdeckt und die vorzeitige Race zu erhalten
vermocht, so dass jetzt Mais gebaut wird, wo er vor 50 Jahren
nie zur Reife kam , und darauf zum Theil beruht die „süsse Chi-
märe" der sogenannten Acchmatisationen. Eben so ist es mit den
Hybriden oder Bastarden. Im Garten sind sie leicht zu erzielen,
selten aber tragen die Al)kömmlinge verschiedene Arten fruchtbaren
Zur Geschichte des Pflanzenreiches. 239
Samen , und dieser wiederum trachtet in der zweiten und dritten
Generation immer entschiedener zur Rückkehr nach einer der
beiden Arten. Nun handelt aber die botanische Geographie von
den spontanen Gewächsen allein, und in der freien Natur sind
Hybriden die grössten Seltenheiten ; auch können die Samen, wenn
sie je fruchtbar sein sollten, die Bastardform mitten unter den
Individuen reiner Art nie in folgenden Generationen aufbewahren.
Dass also die Mannichfaltigkeit der Arten durch Erzeugung von
Bastarden entstanden sei, ist im höchsten Grad unwahrscheinlich.
Ferner verlässt nie die Art die Gränzen ihres Verbreitungsgebietes.
Seit Jahrhunderten nun strengen sich alljährlich verschiedene
Arten an, ihre Polar- oder ihre Aequatorialgränze zu überschreiten,
nach einem wärmern oder rauhern Klima vorzudringen, und immer
wirft sie die Natur in den alten Gürtel zurück.
Nun ist es allerdings nicht zu leugnen, dass die Gattungen
und Arten an Mannichfaltigkeit mit den fortschreitenden geo-
logischen Zeitaltem zunehmen. Es wäre also doch möglich, dass
das, was wir jetzt Arten nennen, ursprünglich nur Racen gewesen
sind. Zur Bildung erblicher Racen war aber Isolirung erforderlich.
Was der Hand des Gärtners leicht ist, würde der Natur, die jeden
Zwang vermeidet, unendlich schwer werden ; allein man kann sich
recht wohl denken , dass grosse geologische Vorgänge, das Auf-
steigen von Gebirgen oder das Versinken von Festländern die
variirenden Individuen einer Art räumlich getrennt, also isolirt
hätten. An den verschiedenen Punkten hätte dann die Mehrzahl
einer Varietät über die andern gesiegt. Gesetzt nun, es wären
die Varietäten a, ß, y, ö, e, L, Yj, d- vorhanden gewesen, aber
nach der geologischen Umwälzung die Individuen getrennt worden,
an dem einen Punkt die Varietät a, am andern die Varietät ^
übrig geblieben, die Uebergänge aber verschwunden, so müssen
wir jetzt , wo wir nur die Extreme der Varietät vor uns haben,
sie für verschiedene Arten halten. Sie können sich nicht fruchtbar
begatten, weil sie getrennte Gebiete, Inseln und Festländer be-
wohnen, oder weil die eine Varietät früher blüht als die andere.
So konnten wirklich neue Arten entstehen, indem die geologischen
Kräfte die Rolle des Gärtners übernahmen. Allein wenn auch
ein solcher Fall denkbar ist , so sieht doch jedermann ein, dass
die Zahl solcher abgeleiteten Formen unendlich klein sein müsse
gegen die wahren uranfänglichen Arten. Die Verzweigung der
240 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Arten könnte doch nur sehr ähnhche Formen hervorgebracht
haben, es bleiben aber immer genug Arten übrig, wo keine Aehn-
hchkeit auf eine gemeinsame Abkunft mit dritten Arten deutet.
Endlich aber finden sich gerade die meisten dieser angeblichen
Pseudoarten noch heutigen Tages in grösster Nähe oder durch-
einander in demselben Lande; man müsste also denken, dass ein
geologisches Ereigniss sie zuerst isolirt, ein anderes sie wieder
vereinigt hätte.
Andere Gelehrte haben sich damit geholfen, dass in früheren
geologischen Zeitaltern die Arten grössere Anlage zum "\^ariiren
besessen hätten. De Candolle belehrt uns an einem schlagenden
Beispiele, wie wenig eine solche Ausflucht Wahrscheinlichkeit be-
sitzt. Zwischen den Gipfeln des Aetna und dem glühenden Ufer-
saum Siciliens liegen klimatische Unterschiede wie zwischen zwei
verschiedenen geologischen Zeitaltern. Wenn nun Samenkörner
von dem Gipfel des Aetna herabgetragen werden, was doch fort-
während stattfindet, so ertragen sie dasselbe wie einen Uebergang
geologischer Epochen, und zwar einen plötzlichen, wenn sie un-
mittelbar vom Gipfel nach dem Ufersaum gelangen , oder einen
langsamen , wenn sie von Geschlecht zu Geschlecht den Berg
herabrücken , dennoch aber zeigen in beiden Fällen die Arten
niemals eine neue Anlage zu variiren. Noch andere Gelehrte
haben gesagt, dass das Pflanzenreich in seiner Jugendzeit eine
grössere Fähigkeit zu variiren besessen habe, und dass die älteren
Pflanzenformen daher schärfer bestimmte Arten besitzen sollten
als die vergleichsweise modernen. Diess ist aber nicht der Fall,
die Flechten und noch mehr die Algen gehören zu den ältesten
Pflanzenformen und sind heute noch variabler als die modernen
Formen, und übrigens zeigt sich, dass die Kryptogamen, die all-
gemein als die altern angesehen werden, im Durchschnitt genau
so viel Arten in den Geschlechtern zählen als die Phanerogamen,
während es doch umgekehrt sein müsste , wenn jene Hypothese
statthaft wäre.
Die Mehrzahl der gegenwärtigen Arten war vorhanden als
bereits die Oberfläche der Erde ihre jetzige geographische Gestalt
empfing. Selbst aus der heiligen Schrift darf man folgern, dass
durch die Noachische Fluth die ^•orhandenen Formen nicht ^er-
nichtet winden, wenigstens heisst es dort, dass die Taube ein
Oelblatt nach der Arche brachte und dass der Weinstock erhalten
Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
24]
geblieben war. Für ein grosses Alter der jetzigen Arten sprechen
ferner die unterseeischen Wälder, die man in Amerika angetroften
hat. In New Yersey fand man in Morästen , welche das Meer
noch zur Zeit der Ebbe bedeckt, Stämme mit 1080 Jahresringen,
imd unter einem solchen einen zweiten von 500 Jahren, der bereits
versunken gewesen sein muss, ehe der andere keimen konnte, also
hatten die Wälder 1500 Jahre gestanden, ehe das Land unter das
Niveau des Meeres sank. In Georgien haben sich , seit der Ur-
wald gelichtet worden ist, in Folge der Austrocknung tiefe Spalten
in dem Erdreich gebildet. Anfangs fand man eine solche nur
drei Fuss tief Rasch aber gewann sie 55 Fuss Tiefe, 300 Yards
Länge und eine Breite zwischen 20 und 180 Fuss. Daraus
schloss der grosse Geolog Sir Charles L3'en, dass Wälder den
Boden Carolin a's vom Augenblick an bedeckt haben
müssen, wo er sich über das Wasser erhob.
Die erste Erschaffung organischer Wesen ist für das Auge des
Naturforschers verhüllt. Entweder er nimmt an , dass die ersten
organischen Wesen aus dem unorganischen Stoffe nach einem
unbekannten und für uns unbegreiflichen Gesetze
hervorgingen, oder er schreibt diese Schöpfung dem Zwischen-
treten einer höheren ausserhalb der ^Materie liegenden Ursache
zu. Beides ist unerfasslich für uns, und in solchen Fällen ist immer
diejenige Vermuthung vorzuziehen, welche unserer Einbildungskraft
die geringere Anstrengung zumuthet. Lange Zeit gefiel man sich
darin , die Schöpfung der organischen Welt einer allmählichen
Entwickelung aus einer Monade, einem einzigen organischen Keim,
einer einzigen belebten Zehe zuzuschreiben. De CandoUe hat als
Botaniker diese Ansicht widerlegt, die uns überhaupt nicht viel
weiter bringt. Offenbar macht es der Phantasie weit weniger
Anstrengung, eine fortgesetzte Erschaffung jeder einzelnen Art
sich vorzustellen, als die wissenschaftlich unmöghche Entwickelung
aus Einem Lebenskeime zu verfolgen. Nicht darin Hegt das
Wunderbare, dass 100,000 Arten erschaffen, sondern dass über-
haupt ein Uebergang von der unorganischen Materie zu Organismen
gefunden wurde. Die erste Monade musste immer geschaffen
werden , nimmt man aber Einen Schöpfungsact an , so muss man
auch an einen Schöpfer denken, und es ist dann ^öllig werthlos
zu streiten , ob die Schöpfung aus einem einzigen oder vielen
historisch getrennten Acten bestand. Wer aber an einen Ueber-
Peschel, Abhandlungen. II. l6
242 ^^^ mathematischen und physischen Geographie.
gang der leblosen Materie zu Organismen ohne Zwischentreten
eines Schöpfers glaubt, der stellt sich als möglich vor, was vöUig
unbegreiflich ist. Er glaubt an dieses Unbegreifliche wie andere
an einen Schöpfer glauben, so dass also der Atheist genau seiner
Einbildungskraft dieselbe Anstrengung zumuthen muss als der
Offenbarungsgläubige.
Die wissenschaftliche Untersuchung kann also nie das Ent-
stehen der Arten ergründen, sondern sie wird uns nur einige andere
Fragen beantworten können. Linne nahm an, dass sämmtliche
Thiere und Pflanzen von einem Brennpunkt der Schöpfung gleich-
zeitig ausgingen. Diese Hypothese ist gänzlich aufgegeben worden,
und im Widerspruch damit steht, dass kein, auch kein grösseres
Gebiet nur den zehnten Theil der vorhandenen Arten aufzuweisen
hat. Buffon nahm dafür zwei Ausgangspunkte oder Centren der
Schöpfung an den Polen an, wo zuerst die hohe Temperatur für
das Erscheinen des Pflanzenlebens erniedrigt worden sein sollte,
so dass also das Auftreten der organischen Welt am Aequator am
spätesten gefallen wäre. Allein in früheren geologischen Zeitaltern
fand nicht der heutige Temperaturunterschied zwischen den Polar-
gegenden und dem Aequator statt, denn die Atmosphäre empfing
durch die innere Erdwärme ihre Temperatur und wenig oder nichts
davon durch die Sonnenstrahlen. Andere Gelehrte haben geglaubt,
das organische Leben müsste auf den höchsten Berggipfeln be-
gonnen haben, die am frühesten eine gemässigte Temperatur ge-
nossen hätten. Allein nach den neuesten Fortschritten der Geo-
logie muss man annehmen, dass die Gebirge sich viel später er-
hoben haben als die Ebenen. De Candolle nimmt daher ver-
schiedene Schauplätze der Schöpfung an und er illustrirt den Vor-
gang durch das Erscheinen neuer und Untersinken älterer Fest-
lande unter das Meer, so dass also die Pflanzen Zeit hatten, sich
nach verschiedenen Theilen der Erdoberfläche zu verbreiten. Nur
durch eine Mehrheit von Brennpunkten der Schöpfmig lässt es
sich erklären, dass z. B. an beiden Polen sich identische Arten
finden, während doch zwischen ihnen die gemässigte und warme
Zone sich ausbreitet und die Transportmittel der Samen nicht aus-
reichen, um diesen räumlichen Abstand zu bewältigen. Ebenso
finden sich alpine Arten zugleich auf Gebirgen, die durch grosse
Länder- oder Wassermassen getrennt sind. Unter den räumlich
gesonderten Arten zeichnen sich vorzüglich Wasserpflanzen aus,
Zur Geschichte des Pflanzenreiches. 241
deren Samen unter der Oberfläche des Wassers reifen und die
mitunter eine grosse specifische Schwere besitzen. Solche Pflanzen
haben jedenfalls die geringste Fähigkeit, selbst für ihre Verbreitung
zu sorgen, und dennoch findet man identische Arten solcher Ge-
wächse an den verschiedensten Punkten der Erde. Man kann
sich ihre Verbreitung nur dadurch erklären, dass früher ein anderer
Länderzusammenhang existirte, dass neue Continente sich erhoben
haben und ältere wieder untergingen, so dass der Zusammenhang
der gleichartigen Gewächse unterbrochen wurde.
Die Trennung des Gleichartigen kann auch andern Vorgängen
zugeschrieben werden. Jede Pflanze wird danach trachten, sich zu
verbreiten. In diesem Vorrücken wird sie nicht aufgehalten werden,
bis sie die physikaHschen Gränzen ihres Wachsthums findet. Viele
Pflanzen haben die Eigenschaft, an grosse klimatische Gegensätze
sich zu gewöhnen, indessen giebt es doch für jede ein Maximum
und Minimum , welches sie zu ertragen im Stande ist. Erreicht
sie ein Gebirge , so wird sie stehen bleiben müssen , wenn sie die
niedrigen Temperaturen der Gebirgsscheide nicht zu überwinden
vermag. Man findet aber dennoch bisweilen dieselben Arten dies-
seits und jenseits der Anden, ohne dass man sich den Transport
der Samen zu erklären vermöchte. In solchen Fällen muss man
entweder an doppelte Herde der Schöpfung denken, oder annehmen,
dass die Pflanzenart älter sei als das Gebirg, welches später auf-
stieg und die gleichartigen Individuen von einander schied. Es
giebt aber auch noch Vorgänge, welche eine Trennung des Gleich-
artigen leichter zu erklären vermögen. Eine Pflanze wird sich
nur verbreiten, wo sie die Oberfläche noch unbewachsen findet.
Fallen dagegen Samen auf einen dichtbewachsenen Boden, so
werden sie nur kümmerlich aufkommen und leicht wieder ver-
trieben werden. Es giebt auch zahlreiche Pflanzen, die gesellig
auftreten. Wo sie einen geeigneten Boden antreft'en, da verbreiten
sie sich mit Ausschluss alles Fremdartigen. Stossen nun zwei
solche Arten aufeinander, so beginnt der Kampf. Die Pflanzen
führen beständig Krieg gegen einander um die Herrschaft ihrer
Domänen, der Stärkere wirft den Schwächern zurück, der Kräftige
überwuchert und tödtet den Zartem. Jede Veränderung des
Klimas, jede örtliche Hebung der irdischen Oberfläche, überhaupt
der kleinste Wechsel in den physikalischen Verhältnissen des
Pflanzengebietes wird die eine Art auf Kosten der andern begün-
244
Zur mathematischen und physischen Geographie.
stigen. So kämpft jede Pflanze beständig um ihr Leben, und zwar
weit mehr als die Thiere, denn diese bekriegen sich nur gelegent-
lich, die Pflanzen aber setzen ihren Kampf ununterbrochen fort.
Die Eroberer im Pflanzenreich haben dasselbe Unheil angestiftet
wie in der menschlichen Geschichte die Geschwader der Völker-
w^anderung. Manche Arten wurden auf ihren Heerziigen völlig
vernichtet und verschwanden unter dem Boden. Einzelne solcher
Arten fanden eine Zuflucht, als frühere Continente versanken und
Reste von ihnen als Inseln noch über dem Meer sich erhielten.
So z. B. besitzt die Insel St. Helena ihre eigene Flora, allein
gerade die Arten, welche dort ausschliesslich auftreten, sind gegen-
wärtig im Absterben begriffen, weil eingewanderte Pflanzen kräftiger
gedeihen und ihnen die letzte Zuflucht streitig machen. Es sind
dort namentUch Acacia longifolia und andere australische und cap-
ländische Arten , welche gegen den eingebornen Pflanzenwuchs
Krieg führen. Bekannt ist, dass die Distel erst mit den Europäern
nach der neuen Welt gekommen ist, aber ungeheuer rasch über
die Pampas Südamerika's sich verbreitet hat , wo sie jetzt der
Schafzucht ausserordentUch hinderlich geworden ist. Ein ganz
modernes Beispiel ist das Erscheinen der Wasserpest (Anacharis
alsinastrum) in England, die dort im Jahre 1841 zuerst gesehen
wurde und seitdem unglaubhchen Schaden in allen Canälen und
ruhigen Wassern angerichtet hat. (S. Ausl. 1856 S, 456.)
De Candolle nimmt nicht bloss eine Mehrzahl von Brenn-
punkten der Schöpfung an, sondern auch eine chronologische
Trennung der Schöpfungen. Die Erdoberfläche konnte nicht gleich-
zeitig der Aufenthalt verschiedener Arten sein. Der aus dem Meer
gehobene Boden vermochte anfangs nur eine Salzflora zu ernähren.
An den Felsen konnten sich nur Flechten und Moose anhängen,
und endlich zeigt die fossile Flora, z. B. die aus der Zeit der
Kohlenbildungen , grosse Aehnlichkeit , um nicht zu sagen voll-
ständige Gleichheit zwischen den Pflanzenformen der entferntesten
Gegenden, während in spätem Epochen die verschiedenen Regionen
ihre abgesonderten und wenig gemeinsame Arten besitzen. Nach
der Bildung einer Oberfläche für den Pflanzenwuchs erschienen
zuerst die Kryptogamen, die Meerpflanzen und solche Arten, welche
die Feuchtigkeit liebten, sehr spät dagegen die zweisamenlappigen
Gewächse. Wenn auch grosse Paläontologen in Bezug auf das
Thierreich nicht die Ansicht gelten lassen wollen , der Botaniker
Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
'■4S
muss es aussprechen, dass die verwickeiteren Organismen immer
den einfachen in der Zeit nachfolgten. Merkwürdig ist auch noch,
dass die Samen der einfachem und altem Formen wenige, der
verwickelten Formen die besten Transportmittel besitzen. Wenn
nun die erstem in Gebieten angetroffen werden, wohin ihre
Transportmittel nicht reichten, so müssen sie sehr frühe dagewesen
sein, wo noch ein anderer Länderzusammenhang bestand. Uebri-
gens ist die Hypothese einer gleichzeitigen Schöpfung schon dess-
wegen unhaltbar, weil viele Arten nur im Schatten anderer gedeihen
(Cacaobaum), so dass also die schattengebende Pflanze jedenfalls
früher als der Schützling vorhanden gewesen sein muss. Das
gleiche gilt von den Schmarotzerpflanzen, Ebenso war es noth-
wendig, dass es Pflanzen und Früchte gab , ehe es Pflanzen- und
Früchtefresser geben konnte.
Die letzte Frage, die man sich noch beantworten kann,
betrifft die Controverse, ob die Arten von Einem Individuum oder
Einem Paar , oder von mehreren abstammen. De Candolle ent-
scheidet sich dafür, dass man bei gewissen Arten sich die Ab-
stammung von Einem, bei vielen von mehreren Individuen denken
kann. Das wunderbare liegt nicht darin, dass 10,000 Individuen
auf einmal , sondern dass überhaupt das Individuum einer Art
geschaffen wurde. Denkt man an eine gleichzeitige Pluralität der
Individuen, dann ist man aller Sorge überhoben, wie eine einzelne
Pflanze den vielen Gefahren, die sie bedrohten, entgehen konnte.
Von allgemeinem Interesse in De Candolle's Werk sind die
Untersuchungen über die Heimath der Culturpflanzen. Die ur-
sprüngHche Heimath einer Pflanze wird sich nur dann entdecken
lassen, wenn man die Art wild antrifft. Allein es gehört eben
das Auge des Botanikers dazu, um zu unterscheiden, ob die Pflanze,
die er ungepflegt trifft, nicht eine verwilderte oder der Cultur
entsprungene, oder eine naturahsirte sei. Wo man eine Pflanze
nicht wild trifft, oder wo sie schon vor unvordenklichen Zeiten
naturaUsirt worden ist, muss man philologische Hülfsmittel ge-
brauchen, um zu sehen, welches Volk zuerst der Pflanze ihren
Namen gegeben hat.
Die Kartoffel (Solanum tuberosum) stammt nicht aus Ca-
rolina, sondern wird wild in Chile und auf der Insel Chiloe an-
getroffen, und ist erst durch Europäer in Nordamerika naturalisirt
worden. Die Maniocwurzel (Tatropha Manihot, Janipha M.),
246 Zur mathematischen und physischen Geographie.
wovon die giftige und die unschädliche zwei getrennte Arten bilden,
ist nicht aus Afrika nach Amerika gekommen, sondern hat ihre
Heimath in dem tropischen Theil der neuen Welt. Die Yams-
wurzeln oder Dioscoreen gehören dem hinterindischen Archipel
an, und sie haben sich in derselben Richtung wie die malayische
Cultur verbreitet. Die Dioscorea, welche auf Tahiti und den
Freundschaftsinseln gebaut Avird, trägt einen Namen (Ubi) malay-
ischen Ursprungs. Die süsse Batate (Convolvulus Batatas) ist
wahrscheinlich heimisch in Amerika gewesen. Von den 15 Arten
Bataten befinden sich 1 1 allein auf diesem Festlande, vier andere
auch noch in andern Welttheilen. Sie ist daher wahrscheinlich in
Indien und China naturalisirt worden. Die Artisch oke (Heh-
anthus tuberosus) wird erst 'seit dem 17. Jahrhundert in Europa
gebaut. Sie kam aus einem gemässigten Himmelsstrich Amerika's,
vielleicht aus Mexico, vielleicht aus Peru, denn beides ist möglich.
Der Name Radieschen lässt uns beinahe vermuthen , dass der
Raphanus sativus in Klostergärten bei uns naturalisirt worden.
Wild wächst das Radieschen auf der Insel San Pietro bei Sardinien
und in Griechenland. Unsere gemeine Zwiebel (Allium Cepa)
wurde von altersher in Europa gebaut, und die Alten kannten
verschiedene Varietäten unter dem Namen cyprische, cretensische,
samothracische Zwiebel. Westasien, Palästina, vielleicht auch
Indien ist die Heimath dieser Art. Sie ist aus Europa nach
Amerika gelangt, denn das mexicanische Xonacatl gehörte nicht
zur Gattung Lauch. In unserer Küchensprache hört man zuweilen
eine Zwiebelart ,, Charlotte" nennen. Es ist diess eine komische
Verstümmelung des lateinischen Namens Ascalonia, nach der Stadt
dieses Namens. Im französischen echalote hat sich der Name
des Allium ascalonicum viel reiner erhalten.
Für unsern Hanf (Cannabis sativa), der im nördlichen Indien
wild getroffen wird, findet sich ein Sanskritname. Im allgemeinen
aber scheint sein Vaterland das gemässigte Asien bis zum cas-
pischen See gewesen zu sein. Da die altägyptischen Mumien in
]^ e i n e n gehüllt waren, so hat die Cultur des Linum usitatissimum
am Nil ein sehr hohes Alter , obgleich die in Aegypten erzeugte
Art oder Abart wahrscheinlich verschieden ist von der, welche
wild in Lenkoran am kaspischen See, in Russland und Sibirien
getroffen wird. Das Zuckerrohr wird nirgends mehr wild an-
getroffen. Der Name selbst, der in seiner arabischen Umwandlung
Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
247
ZU uns gekommen ist, stammt aus dem Sanskrit und Indien, oder
das tropische Asien ist das Vaterland des Saccharum officinarum.
Die Varietät , welche auf Tahiti wächst und die seit dem letzten
Jahrhundert als einträglicher allgemein in Amerika gebaut worden
ist, war auf den Gesellschaftsinseln nicht heimisch, sondern ist erst
dort naturalisirt worden.
Der Klee (Trifolium pratense) wurde erst im 16. Jahrhundert
und zwar zuerst in Deutschland der Cultur unterworfen. Der
Spinat (Spinacia oleracea) , den weder Griechen noch Römer
kannten, und dessen Name nicht auf ein spanisches Vaterland
deutet, sondern zunächst aus dem Arabischen Isfanadsch entstanden
ist, während die Perser ihn Ispanadsch nennen und er im Hin.
dustani Isfany heisst, ist wahrscheinlich nicht vor dem 16. Jahr-
hundert nach Europa gekommen. Der Tabak (Nicotiana Ta-
bacum) ist bis jetzt noch von keinem Botaniker wild in Amerika
angetroifen worden. Den Namen Tabak haben wir aus der Sprache
der Antillenbewohner entlehnt, die aber nicht das Kraut, sondern
das Instrument zum Rauchen so nannten. Man streitet noch, ob
Nicotiana chinensis und persica eingeborne Arten Asiens sind. De
CandoUe verneint es. Uebrigens ist in den asiatischen Sprachen
der Name des Krautes überall von unserm Tabak herzuleiten,
und endlich gesteht der grosse Sinologe Stanislas Julien in chine-
sischen Schritten vor der Berührung mit" Europäern nie den Tabak
erwähnt gefunden zu haben. Der T h e e (Thea chinensis) wird
wild in Assam gefunden, doch besitzt die Sanskrit-Sprache keinen
Ausdruck für die Pflanze, und auf die Theecultur finden sich An-
spielungen in den ältesten Sagen der Chinesen. Der Indigo
(Indigofera Anil) stammt aus Indien, doch giebt es auch Arten,
die in Amerika heimisch sind und die bereits vor der Entdeckung
dort gebaut wurden , wenn sich A. v. Humboldts Wahrnehmung
bestätigt, dass bereits die mexicanischen Maler bei den Hiero-
glyphen das Indigoblau gebrauchten. Der Maulbeerbaum,
und zwar sowohl Morus alba wie nigra, wächst ungepflegt in Klein-
asien. Armenien, Thracien, Thessalien, Griechenland und Italien,
obgleich er dort vielleicht erst naturalisirt worden ist. Erst seit
dem 16. Jahrhundert wurden in Italien die Seidenwürmer mit
Morus alba gefüttert , während man vorher die Blätter der nigra
gab. M. alba ist eine Gartenpflanze in Indien, wächst aber un-
gepflegt im Norden China's. Der Name Safran (Crocus sativus)
248 Zur mathematischen und physischen Geographie.
ist den Arabern entlehnt. Der griechische Ausdruck -AQoy.og
stammt vielleicht aus dem Hebräischen. Westasien scheint das
Vaterland gewesen zu sein. Indien empfängt seinen Safran aus
Kaschmir, und daher der Name Kaschmirajamma. Dem gemeinen
Citren enbaum (Citrus medica) wird von Theophrast Medien
als Vaterland angewiesen. Erst im 3. und 4. Jahrhundert nach
mehreren misslungenen Versuchen wurde er in Italien naturalisirt.
Zu Moses' Zeiten kannten ihn die Hebräer jedenfalls noch nicht,
wohl aber bereits unter der Römerherrschaft. Sein Vaterland
scheint Nordindien zu sein, da die Sanskritsprache ihn unter dem
Namen Bidschapura kennt. In China ist er wahrscheinhch nur
naturalisirt worden. Die saure Citrone (Citrus Limonum) hat
das gleiche Vaterland. Aus dem Sanskritnamen Nimbuka ist im
Hindustani Nimu , Limu , Libu entstanden, woher der europäische
Ausdruck Limone rührt. Die Araber brachten dieses Culturgewächs
nach dem Abendlande, und Kreuzfahrer aus Palästina nach Italien.
Die bittere Pomeranze (Citrus vulgaris) hiess im Sanskrit
Nagrunga, woraus im Hindustani Narundschi entstand, welches
durch arabische Vermittelung (Narundsch) zum Italienischen Naranzi
sich umwandelte. Die Araber bauten die Frucht seit dem 9. Jahr-
hundert n. Chr. in ihrem Vaterland, und Kreuzfahrer brachten
die Pflanze nach Europa, doch waren ihnen die Araber (1002 n.
Chr.) auf Sicilien schon zuvorgekommen. Die süsse Orange (Citr.
Aurantium dulcis, nach De Candolle nur eine Race von C. vulg.),
wächst jetzt wild in den Neilgherries, allein ihre Cultur in Indien
ist vergleichsweise modern. Die ursprüngliche Heimath ist das
südliche China, Cochinchina, Birma. Die Frucht wurde am Beginn
des 16. Jahrhunderts bereits in Italien gebaut, ist also nicht durch
portugiesische Indienfahrer zuerst nach Europa gebracht worden.
Der Wein wächst in allen Ländern südlich vom Kaukasus wild.
Auch giebt es einen Sanskritnamen dafür, was auf ein hohes Alter
der Cultur in Nordindien deutet. Von den Kirschen arten ist
Prunus avium im südHchen Europa heimisch, namentlich in Griechen-
land, und wenn Plinius davon spricht, dass Lucullus erst aus dem
Pontus die Kirsche nach ItaHen gebracht habe, so ist die saure
Kirsche (Prunus Cerasus) darunter zu verstehen. Unser deutscher
Name Kirsche hat einen lateinischen oder besser griechischen
Ursprung (-/.ägaGog), was auf eine Naturalisation in Klostergärten
Zur Geschichte des Pflanzenreiches.
!49
schliessen lässt. Der Name Weichsel dagegen ist auf uns durch
slavische Völker gekommen. Die Pflaume (Prunus domestica
griech. jtgovvrj , lettisch Pluhme) wächst wild südlich vom Kau-
kasus. ^Var sie im südlichen Europa nicht heimisch, so ist sie
doch seit hohem Alter dort naturalisirt worden. Die Aprikose
(Prunus armeniaca) hat ihre Heimath südHch vom Kaukasus.
Schon die Alten gaben ihr einen armenischen Ursprung {Lirfka
uQixevia'/.a, malum armeniacum). Zu Theophrasts Zeiten war dieser
Baum in Griechenland noch nicht bekannt , dagegen kennt ihn
bereits Dioskorides (i. Jahrh. nach Chr.) unter dem Namen TCQai'/.6y.ia,
woraus Aprikose entstanden ist. Der Name Pfirsich (Amygdalus
Persica), den die Alten Malum persicum nannten, deutet auf einen
persischen Ursprung, wenigstens empfingen ihn von dort Griechen
und Römer. In Nordindien wird er gebaut, da aber ein Sanskrit-
name fehlt und der Pfirsich in den ältesten chinesischen Legenden
eine grosse Rolle spielt, so ist sein Vaterland wahrscheinlich China.
Die Hellenen erhielten erst Kenntniss von ihm seit Alexanders
Heerzügen. Nach Japan wurde er von den Chinesen gebracht.
Der Mandelbaum, welchen Cato Nux graeca nennt, ist wahr-
scheinlich aus Griechenland nach Italien gekommen. Theophrast
behauptet, dass die alten Gartenkünstler die süsse in die bittere
Race, und umgekehrt zu verwandeln verstanden, was aber ver-
muthlich ein Irrthum ist. Die Hebräer bauten beide Formen des
Mandelbaumes. Vielleicht ist sein Vaterland Persien , Westasien,
Algerien , und die Pflanze in Griechenland und Italien erst natu-
ralisirt worden. Der Birnbaum (Pyrus communis) wächst un-
gepflegt im gemässigten Europa. Wir haben unrecht, wenn wir
über den Ausdruck Bire in der Pfälzer Mundart lachen, denn das
Wort stammt aus dem Celtischen Peren, woher auch das lateinische
Pyrus entstanden ist. Dasselbe Vaterland hat auch der Apfel-
b a u m (Pyrus Malus). Die Bretonen und Wälschen sagen Aval,
die GalHer Afalan, woraus Apfel und Apple entstanden ist. Die
Melone (Cucumis Melo, ndniov, Mi]lo7ca7ta}V , Melo) wurde
schon in hohem Alter gebaut, ist aber noch nie in den mediterra-
neischen Ländern wild gefunden worden. Vielleicht stammt sie
aus Transkaukasien.
In Bezug auf unsere Halmfrüchte giebt es getheilte Meinungen.
Es kann bei der eigenthümlichen Organisation der Blüthe nie Hy-
2 Co ^'•ii' mathematisclien und physischen Geographie.
briden der Halmfrüchte geben, und De Candolle neigt sich zu der
Ansicht, dass unsere Körnerfrüchte die geringste Neigung zu vari-
iren besitzen. Er beruft sich dabei auf den Weizensamen, den
man in altägyptischen Särgen gefunden und gesäet haben will.
Allein wir dürfen nicht verschweigen, dass viele Botaniker diess
für eine Mystification halten. Andere Gelehrte meinen, der Weizen
sei als ein Product der Cultur aus den Aegilopsarten (Walch)
entstanden. Diese Ansicht ist in Bezug auf Aeg. ovata erst neuer-
dings wieder von einem brittischen Botaniker') vertheidigt worden.
Man hat aber diese Aegilopsart in botanischen Gärten jahrelang
gebaut, ohne dass er in Weizen sich verwandelt hätte; auch ist
es sehr unwahrscheinlich, dass diese Graminee barbarische Völker
zum Ackerbau verführen konnte. Die Cultur des Weizens
(Triticum vulgare) ist in unserm Welttheil so alt wie der Acker-
bau; in China wurde diese Frucht im Jahre 2822 v. Chr. vom
Kaiser Chi-nong, einer historischen Person, eingeführt. Nach der
ägyptischen Mythologie fand Osiris Weizen und Gerste wild
wachsend im Lande. Moses nennt Palästina das Weizenland.
Uebrigens lässt sich das Vaterland des Weizens nicht mehr ent-
decken. Dasselbe gilt von der Gerste (Hordeum), dagegen
stammt der römische Name des Roggens (Seeale cereale) aus
dem Celtischen Secal oder Segal. , Die eigenthümlichen Ausdrücke
Rog, Roggen in den germanischen, Zyto in den slavischen Sprachen,
beweisen wenigstens so viel, dass die Pflanze von diesen Völkern
von altersher gebaut worden sei. Weder Aegypter noch Griechen
kannten die Frucht, und Plinius erwähnt, dass sie am Fuss der
Alpen von den Taurinern gebaut wurde. Ihre Heimath ist wahr-
scheinlich das gemässigte Europa, obgleich man sie doch nicht
mehr wild antrifft. Den H a f e r (Avena sativa) , aus welchem
von den alten Germanen und jetzt noch von den Schotten Brod
gebacken wurde und wird, bauten weder Hebräer noch Aegypter,
weder Griechen noch Römer, und er ist in Griechenland bis auf
den heutigen Tag noch eine Curiosität geblieben, nach Indien
aber erst durch die Engländer gebracht worden. Das Wort Hafer
ist älter als der römische Ausdruck avena , dagegen stammt das
i) Edinburgh Review October 1856. De CandoUe's Geographica! Bo-
tany p. 516.
Zur Geschichte des Pflanzenreiches. 251
englische oats aus dem Böhmischen oder Russischen. Das wahre
Vaterland ist jetzt nicht mehr zu entdecken. Der Reis (Oryza
sativa) ist indischen Ursprungs und erst seit 2822 v. Chr. in
China eingeführt worden. Auch für den amerikanischen Ursprung
des Mais (Zea Mais), den man wild noch nie angetroffen hat,
streitet der Verfasser mit triftigen Gründen. Er hält es nicht für
bewiesen, dass Mais in China schon frühzeitig im 16. Jahrhundert
gebaut worden sei.
6. Die Rolle der Gewürze im Welthandel
und auf der Londoner Ausstellung.
(Ausland 1862. Nr. 44. 26. October.)
Im Mittelalter waren die Gewürze die höchsten und wichtig-
sten Güter des Welthandels, Alexandrien im 14. und 15. Jahrhun-
dert beinahe der ausschliessliche Markt der Gewürze, und Vene-
digs Glanz hauptsächlich von seinen Alexandrinischen Verbin-
dungen abhängig. Bekanntlich geschah es ja aus dem Streben
der Portugiesen und Spanier nach den Ursprungsländern der Ge-
würze zu fahren, Pfeffer, Ingwer, Zimmet, Nelken und Muskatnüsse
aus erster Hand zu kaufen , dass die östlichen und westlichen
Seewege nach Indien entdeckt wurden. Gegenwärtig ist der Ge-
würzhandel, wie man sehen wird, nur ein schwacher Zweig des
Welthandels geworden ; statt dessen aber sind Baumwolle, Zucker,
Kaffee, Thee, Wolle und Getreide dem Werthe wie dem Volumen
nach , zum höchsten Range aufgestiegen. Der Verfall des Ge-
würzhandels trat aber erst im vorigen Jahrhundert vollständig ein.
Alle Gewürze nämlich hatten ursprünglich einen ausserordentlich
kleinen Verbreitungsbezirk, sie liessen sich daher leicht monopo-
lisiren. Die grösste Erbitterung herrschte in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts zwischen Spanien und Portugal um den Besitz
der Molukkemnseln, fünf kleiner, aus der See hervorragender vul-
kanischer Krater an der Westküste von Gilolo , deren Oberfläche
zusammen kaum der eines Schweizer Cantons gleich kam. Den-
noch galten sie als das schönste Juwel in der Krone Portugals,
aus dem einfachen Grunde, weil sie allein die Heimath der Ge-
würznelkenmyrte waren, deren Producte um mehr als mit Silber
aufgewogen wurden. Jedes der Gewürze hat seine besonderen
Die Rolle der Ge\vürze im Welthandel und auf der Lond. Ausstellung
^53
Schicksale durchlebt und die weitesten Wanderungen auf der Erde
zurückgelegt, und wir müssen daher die einzelnen Gewürze beson-
ders behandeln. Wir benutzen dazu den Bericht des Hrn. Aubry
le Comte, Mitghed der französischen Jury in London; für ältere
Preisangaben Tooke, History of Prices, vol. IV ; sowie v. Klöden's
physikalische Geographie und unsere botanischen Handbücher.
Zimmet. Es gilt jetzt als ausgemacht, dass der Zimmet des
Alterthums nicht von Ceylon kam, sondern das Zimmetland (cin-
namomifera regio) der griechischen und lateinischen Geographen
die heutige Somaliküste Afrika's am Golfe von Aden war, wie sie
ja auch Gap Dschardhafun , das Osthorn des afrikanischen Con-
tinents, das Vorgebirge der Gewürze (Prom. Aromatum) genannt
haben. Bis zum 13. Jahrhundert n. Chr. war der Zimmet Ceylons,
der dort wild vorkommt, kein Gegenstand des Handels (Sir
Emers. Tenent Ceylon, tom. I, p. 575). Gegenwärtig aber ist
Ceylon die Zimmetinsel, und Colombo der Zimmetmarkt der Welt.
Man unterscheidet sieben Sorten, wovon die besten rase corundu
und pany corundu, süsser oder Honig-Zimmet genannt wer-
den. Die letzte Art erzielt man, wenn die Kronen der Zimmet-
bäume (Cinnamomum Ceylonicum), wie bei uns die der Weiden,
in der Jugend abgeworfen werden. Lässt man die Rinden härter
werden, so verlieren sie an Arom. Die Ausfuhr aus Colombo
erhob sich 1860 auf 644,857, und 1861 auf 554,364 Pfund.
Jetzt wird aber auch in China, auf Malabar und in Niederländisch-
indien der Zimmetstrauch gezogen, ebenso auf Mauritius, Reunion,
den Antillen, Guayana und Südamerika. Cochinchina, nach Cey-
lon der Hauptproducent , schickt 250 bis 300,000 Pfd. Zimmet
nach Europa. England hat 782,486 Pfund im Jahre 1860 ein-,
und davon wieder 691,816 Pfund ausgeführt. Frankreichs Ver-
brauch beträgt etwas über 200,000 Pfund. Nehmen wir den
Zimmetverbrauch auf eine MilHon Pfund an, und das Pfund mit
I Shill. oder 10 Sgr., denn die Preise der ersten Sorte schwank-
ten (1852 — 1856) zwischen 11 Pence bis 2 Shillinge 9 P. in Lon-
don, so beträgt der Werth des Zimmetumsatzes 333,000 Thlr.
Die Cassienrinde (Cassium arom.) kommt hauptsächlich
aus den chinesischen Provinzen Kuang-tong und Kiang-tse, welche
etwa 5 Mill. Pfd. ä 125 Eres, (der Centner) ausführen. Die chi-
nesische Rinde ist weit den Producten Malabars, Bombay's, Bor-
neo's, Sumatra's, Celebes\ Brasiliens und Mauritius' überlesren. Die
2^4 ^"'' mathematischen und physischen Geographie.
Philippinen erzeugen nach China die meisten Cassia, Der weisse
Zimmet und die Cascarille sind Surrogate, welche von Jamaika
und den Bahamainseln stammen. Die Quantitäten der Cassien-
rinde, welche der Handel bewegt, lassen sich schwer bestimmen.
So betrug 1850 die Einfuhr in England 1,050,008 Pfd., 1860 da-
gegen nur 580,560 Pfd. Rechnen wir im ganzen 6 Mill. Pfd. zu
I Sh,, so beträgt der gesammte Werth 2 Mill. Thlr.
Muscatnüsse und Muscatblüthen. Die Frucht des
Muscatnussbaumes hat die Grösse einer Wallnuss, und ist in einen
lederartigen zerschlitzten gelben Mantel gehüllt, der Macis oder
Muscatblüthe heisst ; um diese liegt die grüne fleischige Hülle.
Der Baum war auf den Molukken heimisch, wurde aber dort, wie-
wohl vergeblich, von den Holländern ausgerottet, und wird jetzt
nur noch auf Banda und Amboina cultivirt. Allein längst schon
hat man den Holländern ihr Monopol entrissen. Die Muscatnuss
(Myristica moschata) wurde in Guayana, auf Mauritius, der Reu-
nionsinsel, auf Pulo Pinang und auf Singapur acclimatisirt ; allein
an allen diesen Orten fängt der Baum wieder an zu verschwmden,
weil ihn die Cultur als unergiebig vernachlässigt. Es ist offenbar
ein aus der Mode gekommenes Gewürz. Während Frankreich im
Jahr 1860 nur etwas über 60,000 Pfd. verbraucht hat, bleibt Eng-
land immer noch der beste Abnehmer, indem es 1860 470,000
Pfd. Nüsse und 106,000 Pfd. Muscatblüthen verzehrte. Die Ge-
sammtausfuhr der Banda-Inseln wird auf 600,000 Pfd. Nüsse und
200,000 Pfd. Blüthen geschätzt. Gegenwärtig werden auf dem
Londoner Markt die Nüsse mit 7 P. bis 4 Sh. , und Blüthen mit
8 P. bis 2 Sh. das Pfund notirt. Wenn wir am Ursprungsort
einen Preis von 20 Silbergr. für die Nüsse und von 10 Silbergr.
für die Blüthen annehmen , werden wir uns wohl nicht sehr weit
von der Wahrheit entfernen. Die Werthe im Welthandel betragen
daher 400,000 Thlr. für die Nüsse und 66,000 Thlr. für die
Blüthen.
Nelken. Die Königin der Gewürze (Caryophyllus aroma-
ticus) war anfangs nur auf den fünf Molukken heimisch. Sie ist
die Blüthe einer Myrte, welche mit der Hand gepflückt und an
der Sonne getrocknet wird. Im Handel unterscheidet man fünf
Sorten, die gewöhnliche zahme, die weibliche Nelke, den Kiri,
den Königsnagel und den wilden Nagel. Jetzt haben die Hollän-
der den Sitz der Cultur von den Molukken nach Amboina verlegt.
Die Rolle der Gewürze im Welthandel und auf der I.ond. Ausstellung. 255
Längst aber hat sich die Nelkenmyrte nach Java, Singapur, Cey-
lon, den Seschellen, Mauritius, Reunion, Sansibar, Guayana und
den Antillen verbreitet. Es gab eine Zeit, wo die Pflanzungen
von Oyac (Cayenne) Europa mit einem wahren Nelkenregen über-
schütteten. Die Reunionsinsel erzeugte eine Zeitlang allein 1,600,000
Pfd. ! Dann kamen aber die furchtbaren Orkane , welche ihren
Baumwuchs vernichteten , und zuletzt vertrieb der furchtbarste
Feind aller aromatischen und narcotischen Culturen , nämlich der
Zuckerbau, die Nelken fast gänzlich von der Insel. England,
welches den Einkauf für die christhche Welt besorgt, bezog 1850
749,646 Pfd. und 1860 981,308 Pfd., nämlich aus
Sansibar .... 254,646 Pd.
beiden Indien . . 678,569 ,,
anderen Ländern . 48,093 „
981,308 Pfd.
wovon es 709,854 Pfd. wieder ausführte. Frankreich brachte
450,000 Pfd. in den Welthandel. Die Knospen des Cassienzim-
metbaumes dienen als Surrogat für die Nelken, und haben im
frischen Zustand einen Zimmetgeruch. Ihr Verbrauch ist sehr ge-
ring, und war 1860 auf 30,000 Pfd. gesunken. Rechnen wir das
gesammte Volumen an Nelken im Welthandel auf 2 Mill. Pfd.,
und das Pfund im Durchschnitt zu 5 Silbergr., denn die Preise
für afrikanische Nelken betragen nur 3^/4 — 4^2 P., und für nieder-
ländisch-indische 4V2 — 16 P., so beläuft sich der Gesammtwerth
auf 333,000 Thlr.
Das merkantihsch wichtigste Gewürz ist noch immer der
Pfeffer, und nicht umsonst hat der Goethische Götz v. Ber-
lichingen die Nürnberger Gewürzkrämer ,,Pfefifersäcke" gescholten!
Die PfeffeiTebe (Piper nigrum), welche den schwarzen Pfeffer
des Handels liefert, ist auf Malabar heimisch, wesshalb auch die
Portugiesen, als sie nach Indien segelten, zuerst der malabarischen
Stapelplätze durch ihre Forts sich bemächtigten. Jetzt hat sich
die Cultur nach dem malayischen Indien, nach Siam, Cochinchina,
nach der afrikanischen Republik Liberia, nach Guayana und auf
den Antillen verbreitet. Die gemeinen Sorten werden jetzt meist
von Java und aus Palembang auf Sumatra , die feinsten Sorten
dagegen von der Westküste dieser Insel und von Pulo Pinang in
der Malakastrasse bezogen, während China auf den siamesischen
2c6 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Märkten seinen Bedarf kauft. Die Gesammterzeugung vertheilt
sich auf folgende Art :
Westküste von Sumatra .... 20,000,000 Pfd.
Ostküste „ „ .... 8,000,000 ,,
Inseln der Strasse von Malaka . 3,600,000 ,,
Halbinsel Malaka 3>733,333 >.
Borneo 2,666,667 ,,
Siam 8,000,000 ,,
Malabarküste 4,000,000 ,,
50,000,000 Pfd.
Der Verbrauch Englands belief sich 1860 auf 12,810,040 Pfd.,
während der französische nur etwas mehr als 6 Mill. Pfd. beträgt.
Die Preise schwankten \on 1848 — 1856 von 2^2 — sVs P- Ge-
genwärtig werden sie mit 373 — 4^/2 P- notirt. Nimmt man 4 P.
oder ^/g Sh. als Durchschnitt an, so beläuft sich der Werth des
gesammten Pfeffers im Welthandel auf 5V2 Mill. Thlr.
Rot her oder Gay enn e- Pfeffer. Die kleinen Samen-
körner des Gaspicum annuum , welche in zinnoberrothen Beeren
enthalten, und nicht bloss als rother, sondern auch als türkischer
und als spanischer Pfeffer im Handel bekannt sind, dienen in den
heissen Ländern, wo der Verbrauch der Gapsicumarten ein ganz
ungewöhnHcher ist, als ein tägliches Gewürz, welches in der Zu-
bereitung der Gerichte dieselbe Rolle spielt wie bei uns das Salz.
Aber fast aller rother Pfeffer wird am Ursprung selbst verzehrt,
und das einzige europäische Volk, welches einigen Gebrauch von
diesem Gewürz macht, sind die Engländer. Sie bedienen sich
aber seiner nur zu ihren Fischsaucen und dem Currypulver.
Ebenso beschränkt ist der Verbrauch der Cardamome (Elet-
taria Cardamomum), deren man sich in Europa höchstens zur
Verfälschung der Branntweine oder in England zur Würzung der
Schildkrötensuppen bedient. Doch beträgt selbst die Einfuhr nach
England nur 300 Gtr., welche aus Siam oder von der Westküste
Afrika's stammen. Sehr viele orientalische Plätze versorgt Mala-
bar mit Cardamome ; über die Mengen und Werthe dieses Gewür-
zes, welche der aussereuropäische Verkehr bewegt, fehlen aber
alle Angaben.
Senf. Der Senf des Handels ist, wie man weiss, ein Ge-
werbserzeugniss aus sehr vielen Bestandtheilen. In den feinen
französischen Senfen der Cote d'Or findet sich Zucker. Honig,
Die Rolle der Gewürze im Welthandel und auf der Lond. Ausstellung. 257
Tragant und verschiedene Gewürze. In der Provence fügt man
noch Sardellen (Anschoves) , in der Correze sauren Traubensaft
(verjus) oder Weinmost hinzu , der durch Einkochen bis auf ein
Drittel verdickt worden ist. Die berühmtesten französischen Senf-
arten kommen aus Dijon, Brives, Chälons und Turenne, die besten
deutschen Senfe aus Krems in Oesterreich und Frankfurt a. d. O.,
die besten englischen Sorten aus Wisbeach, Lincoln und York.
Im ganzen erzeugte England 2000 Tonnen (4,000,000 Pfd.) Ta-
felsenf. Der Umsatz im internationalen Handel ist dem Werth
nach nicht sehr bedeutend.
Vanille. Diese Schlingpflanze (Vanilla planifolia) , aus der
Familie der Orchideen , ist ein Kind des heissen Küstensaumes
von Mexico, und da ihre Blüthen sich nicht selbst befruchten
können, sondern Insecten diese Function vollziehen, so muss man
überall, wo die Vanille fern von ihrer Heimath gebaut wird, und
wo das befruchtende Insect nicht vorhanden ist, wie im malayi-
schen Indien, die Befruchtung jeder einzelnen Blüthe mit der Hand
vollziehen. Ausser in Mexico wächst die Vanille noch wild in
Brasilien und Guayana. Cultivirt wird sie auf der Insel Reunion,
in neuerer Zeit aber auch auf Ceylon, Java, Mauritius, Tahiti, Ja-
maica und Trinidad. Das edelste Product wächst im Schatten
der Wälder beim Dorf Zurtilla im mexicanischen Staat Oaxaca.
In Mexico unterscheidet man vier Sorten, la fine, la zacate, la re-
zacate, la vazura. An Güte steht ihr die Reunionsvanille am
nächsten, die wilde Schote Guayana's, die von einer anderen Va-
nillenart (V Pompona) stammt, ist breit, platt und holzig, im
Handel wird sie Pomponne genannt. Eine kleinere Pomponne-
sorte ist die Vanille der Antillen , namentlich Guadalupe's , wo
etwa 2000 Pfd. solcher Vanille gewonnen werden, die aber nur
in der Parfümerie ihre Verwendung findet. Auf Haiti wächst eine
Vanillenschote, die man unter dem Namen Simarone in den Han-
del bringt, sie ist röthlich, spröde und wenig aromatisch; neuer-
dings erscheint auf den Märkten auch die tahitische Schote von
röthlichbrauner Farbe , nicht so lang als die mexicanische , aber
fleischiger, weniger trocken, biegsamer und von einem köstlichen
Geruch, leider soll man bis jetzt sie schwer aufbewahren können;
das meiste davon geht übrigens nach CaUfornien und Chili. Wie
bei den Gewürznelken übersteigt bei der Vanille die Erzeugung
den Verbrauch, so dass ihr ehemaliger Werth von 70 Thlrn. auf
Peschel. -Abhandlungen. II. 1 7
2c8 Zur mathematischen und physischen Geographie.
5 Thlr. das Pfd. gefallen ist, und in Folge dessen die künstliche
Cultur nicht mehr die Kosten lohnt. Im Jahr 1860 war die Ge-
sammterzeugung an Vanille:
auf Reunion 12,000 Pfd.
in Mexico 16,000 ,,
in anderen Ländern . . 3000 ,,
31,000 Pfd.
Der Gesammtwerth dieses Erzeugnisses beläuft sich also auf
155,000 Thlr.
Piment, Nelkenpfefifer , Jamaicapfefifer, englisches Gewürz,
sind die Früchte der Nelkenpfeffermyrte (Eugenia Pimenta oder
Pim. vulgaris), die von den Antillen vorzüglich aus Jamaica nach
England ausgeführt werden. Die englische Küche bedient sich
fast ausschliesslich dieses Gewürzes , welches , wenn es mit den
Früchten der Myrtus acris vermischt wird, in Frankreich Allerlei-
würz (le tout epice) heisst. Je nach der besseren oder geringeren
Ernte werden 2 — 8 Mill. Pfd. nach England eingeführt. Gegen-
wärtig stehen die Preise auf 3 P. Rechnen wir selbst feinen
Durchschnittsabsatz von 5 Mill. Pfd., so würde der Gesammtwerth
sich doch nicht viel höher belaufen als auf 400,000 Thlr.
Ingwer nennt man im Handel die Knollen vom Wurzelstock
des Zingiber officinalis, der in Ostindien , besonders in Malabar
häufig ist. Dort wird er hauptsächlich von Tehitscherry, Cotschin
und Schernaad im Süden von CaUcut ausgeführt. Die Cultur hat
sich jetzt weit verbreitet nach Jamaica und Barbadoes, nach Bra-
silien, Westafrika, nach China und Ceylon. Die Einfuhr nach
England, dem Hauptverbraucher dieses Gewürzes betrug 1860
von der Sierra-Leone-Küste 2,124 Ctr.
aus Ostindien . - . . 15,027 ,,
,, Westindien . . . . 1,3T~> ,,
„ andern Ländern . . 183 „
24,704 Ctr.
Es lässt sich schwer schätzen, was die übrigen Völker an
Ingwer verzehren, der nicht über England bezogen wurde. Der
Ingwerverbrauch ist übrigens ein sehr geringer ausserhalb Gross-
britanniens, und ein Centner davon wird durchschnittlich mit 25
Thlrn. bezahlt, so dass also obige Mengen einen Werth von 617,600
Thlrn. ergeben würden, wofür wir vielleicht besser in runder Summe
700,000 Thlr. setzen können.
Die Rolle der Gewürze im Welthandel und auf der Lond. Ausstellung. 259
Cure um a werden die meisten unserer Leser wohl nur zu-
bereitet als Curcumapapier oder überhaupt als eines der empfind-
lichsten chemischen Reagentien gekannt haben, ausserdem dass es
auch in der Seidenfärberei verwendet wird. Unter dem Namen
gelber Ingwer, indischer Saffran im Handel bekannt, dient es aber
auch in Pulverform, aus den pomeranzenfarbigen Wurzelknollen
der Curcuma longa gewonnen, als Gewürz für das englische Cur-
rypulver, womit bekanntlich nach indischer Art Reis, Fisch und
Fleischstücke zusammen gekocht werden. Die Haupterzeugungsorte
sind Bengalen, die Malabarküste, die Präsidentschaft Madras, Java,
China, sowie die Inseln Reunion und Mauritius. Die Einfuhr
nach England betrug 1860 2725 Tonnen oder 54,500 Ctr. Die
Preise schwankten zwischen 6^/3 bis 9 Thir. der Centner, und der
Gesammtverbrauch musste daher auf 350,000 Thlr. geschätzt
werden. Allein in den engHschen Preiscouranten steht Curcuma
(Turmeric) nicht unter den Gewürzen*, sondern unter den Farb-
stoffen, wie auch der Saffran, der ebenfalls, wiewohl immer selte-
ner, noch als Gewürz benutzt wird.
Endlich ist noch die Galgantwur zel (Alpinia Galanga) zu
nennen, die, ursprünglich auf Sumatra zu Hause, jetzt auch bei
Travancore, Tschittagong, in China und auf sehr vielen Inseln des
malayischen Archipels gebaut wird. Sie dient aber nicht bloss als
Gewürz, sondern als Heilmittel und für die Parfümeriezwecke.
London, welches Europa mit diesem Producte versieht, importirte
1850 im Ganzen 1286 Centner, die von Canton bezogen wurden.
Da wir vergeblich nach einer Preisangabe uns umgesehen haben,
können wir auch den Werth dieses Artikes nicht schätzen.
Zum Schluss erhalten wir also für den Gewürzhandel der
^Velt folgende Werthe:
Zimmet . . .
333,000 Thlr.
Cassia . . .
2,000,000 ,,
Muscatnüsse
400,000 „
Muscatblumen .
66,000 „
Nelken . . .
333,000 „
Pfeffer . . .
5,500,000 „
Vanille . . . .
155,000 „
Piment . . . .
400,000 „
Ingwer
700,000 ,,
9,887,000 Thlr.
17*
200 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Setzen wir dafür lo Mill. Thlr. oder 1V2 Mill. Pf. St. Nun^
hat aber der Werth der Einfuhren Grossbritanniens in einem
Jahre schon 120 MiUionen Pfd. SterUng erreicht. Was ist daneben
der Gewürzhandel der ganzen Welt? Vor dem Bürgerkriege beliefen
sich die Baumwollenernten der nordamerikanischen Sklavenstaaten
auf vier Millionen Ballen ä 440 Pfd. Wird das Pfund Baumwolle
durchschnittlich zu 6 P. geschätzt, so beträgt der Werth eines
Ballens 11 Pfd. St, oder 73 Thlr., folglich der Werth einer ame-
rikanischen Ernte 44 Mill. Pfd. Sterl. oder 300 Mill. Thlr., das
Dreissigfache des Gesammtumsatzes aller Gewürze!
7. Die narcotischen und einige exotische
Genussmittel im Welthandel und auf der
Londoner Ausstellung.
(Ausland 1862. Nr. 45. 2. Xovbr.)
Indem wir den Bericht des französischen Schiedsrichters auf
der Londoner Ausstellung, Aubry le Comte, in der letzten Num-
mer dieser Blätter zu erklären und zu ergänzen versuchten, er-
reichten wir zuletzt das überraschende Ergebniss, dass der Ge-
Avürzhandel, der im Mittelalter und im 16., ja noch im 17. Jahr-
hundert der einträglichste Zweig des Welthandels gewesen war,
seinem Handelswerth nach auf die Bagatelle von 1V2 Mill. Pfd.
St. oder 10 Mill. Thlrn. herabgesunken sei, während eine einzige
Baumwollenernte der nordamerikanischen Staaten in den früheren
ruhigen Zeiten dem Werth nach das Dreissigfache bedeutete. Jetzt
wollen wir auch zu ermitteln suchen, welcher mercantilische Rang
den narcotischen Genussmitteln gebühre.
Im Jahre 1664 schickte die ostindische Compagnie König
Karl II. von England als Muster und Probe den ersten Thee —
zwei Pfund — nach Europa. Drei Jahre später (1667) stieg die
Einfuhr auf 100, hundert Jahre später auf 5 Mill. Pfund. Im
Jahr 1850 wurden 121,780,800 Pfd. Thee aus China ausgeführt,
1860 aber 134,236,288 Pfd., abgesehen von dem Ziegelthee und
dem Karawanenthee (6^2 Mill. Pfd.), den Russland über Kiachta
bezieht. Die Engländer haben den Thee am Südabhang des Hi-
malaya in Assam, dann auch in den Nilgherries und auf Ceylon
acclimatisirt. Die Einfuhr indischen Thees, welche 1853 nur 552
Pfd. betrug, ist jetzt (1860) schon auf 2,707,449 Pfd. gestiegen.
Auch die Holländer haben den Thee seit 1828 im botanischen
202 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Garten von Buitenzorg (Java) gepflanzt. Anfangs wollte die Cultur
nicht gelingen; die Theeblätter besassen geringes Arom (Theein)
und einen vorwiegend zusammenziehenden Geschmack, also einen
Ueberfluss an Gerbsäure. Mit der Zeit aber wurde man mit den
Culturgeheimnissen besser vertraut, und die Erzeugung stieg 1851
auf 1,023,373, 1855 S'Uf 1,604,4x1 und 1860 auf mehr als 2 Mill.
Pfd. Sollte der chinesische Aufstand seine Verheerungen auch
auf die Theegebiete erstrecken und die Ausfuhr darunter beträcht-
lich leiden , so ist also bereits in Assam und auf Java für einen
Ersatz in der Noth gesorgt. Auch in BrasiUen giebt es bei Sanct
Paul (Minas Geraes), ferner im südafrikanischen Natal, endlich auf
Martinique und auf der Reunionsinsel (bei 900 Meters absoluter
Höhe) Theepflanzungen. — Die Franzosen sind keine Theetrinker,
ihr Gesammtverbrauch erreichte 1860 noch nicht die Höhe von
800,000 Pfd.
Der T h e e des Handels stammt von Einer Pflanzenart (Thea
Chinensis) , welche dem Pflanzengeschlecht der CameUien am
nächsten steht. Die grüne oder schwarze Farbe des Thees rührt
nur davon her, ob die Blätter über Feuer oder über Dampf ge-
röstet werden. Die wichtigsten grünen Sorten führen die Namen
Twankey, Hysong, Young-Hysong, Schiesspulver-, Kaiserthee; die
schwarzen heissen: Pekoe, Congou , Oolong, Souchong, Bohea.
London ist der Theemarkt der Welt, man kann also aus den
Londoner Einfuhren den Rang der verschiedenen Theesorten er-
messen. Sie bestanden aus :
1860. 1861.
schwarzem Tliee . . . 76,839,000 Pfd. 76,792,000 Pfd.
grünem Thee .... 9,817,000 „ 7,593,000 ,,
86,656,000 ,, 84,385,000 „
wovon 8,385,000 ,, 12,300,000 Pfd.
wieder ausgeführt wurden. Die wichtigste Sorte für den Handel
ist der schwarze Congouthee, von dem 1860 6272» 1861 64 Mill.
Pfd. eingeführt wurden. Sie bildet also drei Viertel sämmtlicher
Zufuhren und ist der Thee par excellence. Im Londoner Preis-
courant für den Monat October dieses Jahres schwanken die Preise
zwischen ^/^ — 1^2 Sh., also zwischen 7Va Silbergr. oder 27 kr.
bis 15 Silbergr. oder 54 kr. das Pfd. ^) Doch wird auch eine
i) Wir reduciren überall das Pfd. St. auf 6^/3 Thlr. und 12 fi,, den
Schilling daher auf 10 Silbergr. und 36 kr.
Die narcotischen u. einige exotische Genussmittel im Welthandel etc. 263
Bastardsorte (Pekoe kinds) bis zu 3^/3 Sh. notirt. Der Thee, den
das britische Volk verbraucht, ist ganz sicherlich fast ausschliess-
lich Congou. Sehr behebt in England scheint die parfürairte
Capersorte zu sein, wovon 1860 und 1861 4^4 und 2% Mill.
Pfd. ä 8 — 25 Silbergr., 30—90 kr. eingeführt wurden. Reiner
Pekoethee wird nur in geringen Mengen (durchschnittlich 300,000
Pfd.) eingeführt, dagegen an Blumen-Pekoe , Orangen - Pekoe und
parfümirtem Orangen-Pekoe 4^5 Mill. Pfund im vorigen Jahre. Die
Beinamen dieser Sorten rühren davon her, dass die Chinesen die
Theeblätter untermischt mit Blumen und Blüthen , besonders
Orangeblüthen, eintrocknen lassen, wodurch der Blumengeruch in
die Theeblätter übergeht. Diese beiden parfümirten Sorten kosten
9 — 2 2^2 Silbergr. oder 33 — 81 kr. das Pfd. Unter den grünen
Theesorten ist das „Schiesspulver" die gesuchteste, indem die Ein-
fuhren (1860 und 1861) auf 5% und 3 Mill. Pfd. sich beliefen,
bei Preisen von 20 — 39 Silbergr. oder i fl. 12 kr. bis 2 fl. 18
kr. Kaiserthee wird nur in sehr geringen Mengen, 248 — 292,000
Pfd., verbraucht und kostet 15—25 Silbergr. oder 44 — 90 kr.
Von Hysong und Young-Hysong wurden 3 Mill. Pfd. eingeführt,
und es schwanken die Preise des letztern zwischen 9 — 26 Silbergr.
oder 30 — 96 kr., während der Hysong selbst mit 13 — 30 Silbergr.
oder 48 kr. — i fl. 48 kr. notirt wird. Endlich kann man sich
noch der mercantilischen Wichtigkeit wegen den schwarzen Sou-
chong merken, von dem der Verbrauch 2 — 2V2 Mill. Pfd. beträgt,
bei einem Preise von 10 — 25 Silbergr. oder 36 — 90 kr. das Pfd.
So lauten die Preise im Londoner Grosshandel. Wenn die
Leser dann noch Zoll und Spesen bei Versendung nach dem
Festlande hmzurechnen wollen, so können sie ziemlich genau
wissen, wie viel theurer sie im Kleinhandel ihren Thee bezahlen
müssen. Rechnen wir aber, dass 140 Mill. Pfd. Thee alljährlich
im Völkerzwischenhandel umgesetzt werden, und schätzen wir das
Pfund im Durchschnitt zu 1 5 Silbergr. , so ergiebt sich ein Ge-
sammtwerth von 70 Mill. Thlrn., also das Siebenfache des gesamm-
ten Gewürzhandels. Es giebt sehr viele Theesurrogate, die wir
nicht in Rechnung bringen ; dahin gehören die Blätter des Kafifee-
strauches, deren man sich auf Sumatra bedient, der Maniocthee
auf den Antillen, aus den Blättern der Capraria biflora, der Mauer-
thee aus der Sauvagesia erecta, der rothe Thee und der Anisthee
in Neufundland und Canada. Zwei neue Theesurrogate von
264 '^-'■i'" mathematischen und physischen Geographie.
Reunion sind die Ayapana, welche dem ächten Thee recht nahe
kommen soll, und das Faham aus den Blättern einer Orchidee,
des Angraecum fragrans, welches die Verdauung begünstigen und
bei angenehmem Geschmack auch trefflich als erweichendes Mittel
dienen soll. Massenhaft verbraucht wird von allen Vertretern des
Thees nur die Yerba mate oder der Paraguaythee, von wel-
chem Südamerika 40 Mill. Pfd. jährlich verbraucht. Man kennt
zwei Sorten, die höher geschätzte Yerba de Carmini und die ge-
ringere Yerba de Palos. Die Heimath sind die I>aplata- Staaten,
Paraguay und Südbrasilien. Im Handel werden etwa 14 — 16
Mill. Pfd. aus Rio Grande do Sul meist nach südamerikanischen
Häfen, eine Kleinigkeit auch nach Bordeaux zum Preise von 6
Silbergr. oder 22 kr. das Pfd. ausgeführt. Also bewegt der Han-
del etwa für 3 Mill. Thlr. Paraguaythee.
Die Coca wächst hauptsächlich in Peru, dessen jährliche
Erzeugung aus 20 Mill. Pfd. zu 10 Silbergr. besteht. Die Coca-
blätter werden fast nur am Erzeugungsorte verzehrt.
Der Kaffee Strauch, ursprünglich in Habesch (Abessinien)
heimisch, dann nach dem jemenischen Arabien (Mocha), von dort
nach Ostindien (Ceylon), endlich 1723 durch den Generalstatthal-
ter von Batavia, Zwaen den Kroom, nach Java verpflanzt, hat
sich seitdem über alle tropischen Erdstriche verbreitet. Unter den
Erzeugungsländern steht BrasiHen obenan. Es lieferte 1820 erst
iSVs» 1830 aber 64, und im Jahre 1847 300 Mill. Pfd. in den
Handel, ein Volumen, welches sich seitdem als mittlerer Durch-
schnitt erhalten hat. Im gegenwärtigen Augenblick haben die
Kaffeepreise ungewöhnlich aufgeschlagen, und es wird daher rich-
tiger sein, nach dem Stand der Märkte am Anfang des Jahres zu
berechnen. Die brasilianischen Sorten wurden damals mit 47 bis
76 Sh. notirt, also im Durchschnitt mit 60 Sh. (20 Thlr. oder
36 fl. der Ctr.), so dass demnach die brasilischen Ausfuhren
auf 60 Mill. Thlr. oder 108 Mill. fl. im Werthe sich beliefen:
Nach BrasiHen folgt Java, dessen Erzeugung von 46,781,729 Ki-
logr. im Jahr 1839 und 55 Mill. Kilogr. im Jahr 1841 sich jetzt
auf I Mill. Picul oder 125 Mill. Pfd. gehoben hat. Der Mittel-
preis für Javabohnen betrug in London 70 Sh. (23 Vs Thlr. oder
42 fl.), also der Werth der Gesammtausfuhr 29^/3 oder in runder
Summe 30 Mill. Thlr. ; den dritten Rang in Bezug auf die Massen-
production nimmt Ceylon ein. Seine Ausfuhr stieg seit 185 1,
Die narcotischen u. einiije exotische Genussmittel im Welthandel etc. 265
wo sie 339,744 Ctr. betrug, bis 1860 auf 466,987 Ctr., und zwar
wurden dafür Preise zwischen 63 — 94 Sh. erzielt; wenn wir aber
wiederum 70 Sh. als Mittelpreis annehmen, so erhalten wir
8,995,000 oder in runder Summe 9 Millionen Thaler für den Ge-
sammtwerth der Ausfuhr. Der vierte Rang gebührt Venezuela,
dessen Erzeugung 1833 6 MilL, 1850 aber 17 Mill. Kilogramme
betragen hatte, seitdem aber auf die Hälfte oder auf 17 Millionen
Pfd. gefallen war. Die venezuelanischen (La Guayra) Sorten
werden mit 67 bis 82 Sh. in den Preiscouranten aufgeführt;
nehmen wir aber als Mittel nur 70 Sh. an, so hat das Gesammt-
erzeugniss einen Werth von 3,966,000 Thlrn. oder in runder
Summe 4 Mill. Thlr. Von arabischem Kaffee oder achtem Mocha,
der mit 70 bis 135 Sh. (23V3 Thlr. oder 42 fl. bis 45 Thlr. oder
Si fl. der Ctr.) notirt wird, gelangen nur 250,000 Kil. oder 50C0
Ctr. im Werth von 150,000 Thlr. über Alexandrien nach Europa.
Ein gänzlicher Verfall ist in Haiti eingetreten , dessen Ausfuhren
1789 den ansehnlichen Umfang von 77 Mill., 1826 noch immer
von 32 Mill., 1850 nur noch von 2,065,420 Pfd. besassen, und
jetzt zu einer unwürdigen Ziffer herabgesunken sind. Eine ähn-
liche Verminderung ist in dem britischen Westindien bemerkbar.
Es betrug nämlich die Erzeugung an Kaffee
1829
1850
1860
Pfd.
Pfd.
Pfd.
Jamaica's
18,690,654
4,156,210
6,145,362
Br. Guayanas
7,163,016
18,472
„
Trinidads
73,667
96,376
,,
Dominica's
942,114
792
10,000
Sa. Lucia's
303.499
35
Abgesehen von Jamaica, dessen 6 Mill. Pfd. ä 90 ShiUing (30
Thlr. oder 54 fl.) einen Werth von 1,800,000 Thlrn. darstellen,
ist die Kaffee - Erzeugung in Westindien überall vom Zuckerbau
verdrängt worden. Das nämliche gilt von den französischen An-
tillen und von Reunion, dessen Kaffeegärten nach der Verheerung
durch die furchtbaren Orkane fast gänzlich aufgegeben wurden,
so dass jetzt die Gesammterzeugung von französischem Colonial-
kaffee sich nur noch auf i Mill. Kilogr. beläuft.
Kaffee wird auch auf Celebes und Sumatra gebaut, ebenso
auf den Philippinen, auf der Malabarküste, auf Mauritius, Sanct
Helena, ferner auf den Inseln San Thome und Principe im Golf
2 06 Zur mathematischen und physischen Geographie.
von Benin , in Liberia und am Rio Nunez in Guinea. Für alle
diese kleinen Productionen kann man als runde Summe lo Mill.
Pfd. zu 70 Sh. oder 2,500,000 Thlr. ansetzen. Noch ziemlich
jung, aber schon wichtig, ist die Kaffeeerzeugung Costarica's. Der
französische Bericht giebt nichts an über die Ausfuhren der kleinen
mittelamerikanischen Repubhk. Hr. Belly aber schätzte sie vor
fünf Jahren auf 200,000 Ctr. '), ein Volumen, das sich seitdem
jedenfalls gesteigert haben wird. Da die Costarica - Sorten mit
67 — 88 Shill. notirt wurden, so wollen wir als Durchschnitt 25
Thlr., und für die Gesammtausfuhr 5 Mill. Thlr. annehmen. Somit
gelangen wir zu folgendem Ueberblick.
Kaffeeausfurh.
Mill. Pfd. Werth.
Brasilien 300 60 Mill. Thlr.
Java 125 30 „
Ceylon 47 9 ,, „
Costarica 20 S » j?
Venezuela 17 4 ,, ,,
Jamaica 6 t,8 ,, ,,
Französische Colonien und
andere Länder .... 10 2,5 ,, „
525 Mill. Pfd. 112 MiliTThir^
Der französische Bericht schätzt den Verbrauch an Kaffee in
Europa allein auf 492 Mill. Pfd. Die Verzehrung Englands be-
läuft sich nur auf 83 Mill. Pfd., die französische dagegen beträgt
125 Mill., die des Zollvereins 130 Millionen u. s. w. Wenn aber
der Verbrauch der Vereinigten Staaten auf 224 Mill. angegeben
wird, so muss gewiss ein Irrthum zu Grunde liegen, denn gewiss
kann bei der grossen nicht consumirenden Sklavenbevölkerung von
4 Mill. Köpfen und bei dem starken Theeverbrauch die Consum-
tion der Vereinigten Staaten unmöglich grösser sein, als die bri-
tische. Ueberhaupt aber sind die Verbrauchsmengen viel höher
angegeben , als sich die Ausfuhrmengen nachweisen lassen.
Ein merkwürdiges Fach auf der Londoner Ausstellung bilden
die Kaffeesurrogate. Das wichtigste darunter ist die seit der
Napoleonischen Continentalsperre, also seit länger als 50 Jahren,
gebaute Cichorie. Grossbritannien bezieht, abgesehen, dass es
i) S. Ausland 1861. S. 366.
Die narcotischen u. einige exotische Genussmittel im Welthandel etc. 267
diess Gewächs auf 500 Acres Land selbst baut, über 9 Mill. Pfd.
von auswärts, meistens aus Belgien und aus Holland. In England
ist nämlich die Ansicht weit verbreitet : dass Ys Gewicht Cichorien,
zum Kaffee hinzugefügt , das Getränk „verbessere". Auch Frank-
reich hat an der eigenen Erzeugung von 16 Mill. Pfd. nicht genug,
sondern führt noch 8V4 Mill. Pfd. aus Belgien ein. Oesterreich
hat eine Menge europäischer „Kaffee" -Arten ausgestellt, nämlich
süssen Eichel-, Runkelrüben-, Mais-, Gersten-, Rübenkaffee. Ein
grosser Producent aus Littowitz (Mähren), der über 10 Mill. Ctr.
solchen „Kaffees" erzeugt, hat nicht weniger als 60 Muster, und
Hr. J. Leithner aus Gratz, der täglich 50 Ctr. fabricirt, 44 Sur-
rogate, darunter auch den edlen Feigenkaffee ausgestellt. Algerien
wiederum glänzt durch ein eigenthümliches Surrogat, den Johannis-
brodkaffee.
Der Verbrauch an Cacao wird auf 36 Mill. Pfd. in Europa
und auf 2 Mill. Pfd. in den Vereinigten Staaten angegeben* Was
Südamerika und die Ursprungsländer selbst verzehren, entzieht sich
jeder Berechnung. Die Preise schwanken zwischen 56 Sh. für
brasilischen bis zu loi Sh. für westindischen Cacao, 65 Sh. (21%
Thlr. oder 59 fi. der Ctr.) aber scheint der richtige Mittelpreis
zu sein, so dass wir also für den Gesammtwerth des Umsatzes
8V4 Mill, Thlr. rechnen können. Die edelsten Sorten kommen
aus Soconusco, allein die Hauptexporthäfen sind Caracas, Guaya-
quil, La Guayra, Santa Marta und Cartagena. Venezuela allein
liefert 8 Mill. Pfd. jährlich, Brasilien über Para und Bahia 6 Mill.
Pfd. Die Ausfuhr aus Britisch Westindien und Guayana ist von
Jahr zu Jahr gewachsen. Sie betrug 1831 nicht ganz 1V2 Mill.,
1851 4V3 Mill und 1860
Dominica 125,000 Pfd.
Santa Lucia .... 250,000 „
Granada 1,000,000 ,,
Trinidad 5)400)000 „
Guayana 12,300 ,,
6,787,300 Pfd7
Dieser gewaltige Aufschwung ist erst nach der Negeremancipation
eingetreten, deren mercantihsche Folgen, wie man an diesem Bei-
spiele gewahren kann, gewöhnlich sehr einseitig nur nach der Ab-
nahme der Zuckerausfuhr ermessen werden. Nach DecandoUe
208 ^"'" niathematischen und physischen Geographie.
(Geogr. botanique rais. p. 968) wurde der Cacao (Theobroma
Cacao) nur im Amazonas- und Orinocobecken im wilden Zustand
angetroffen. Auf den Antillen finde man an begünstigten Oert-
lichkeiten allerdings wild wachsende Cacaobäume, aber DecandoUe
zweifelt, dass sie der ächten Cacaoart (Theobroma Cacao L.) an-
gehören, Dass die alten Mexicaner den Cacao bauten und dass
die Cacaobohnen bei ihnen im Marktverkehr als Scheidemünze
galten, wie diess jetzt noch in vielen mittelamerikanischen Ländern
der Fall ist, weiss der grosse Genfer Botaniker recht gut, allein er
glaubt, dass jene Producte von andern Theobromaarten herrühren
müssten.
Auf Martinique ist jetzt die Cacaoerzeugung (268,362 Kilogr.)
in Zunahme, auch Guadalupe, Reunion und franz. Guayana er-
zeugen etliche, wenn auch geringe Mengen. Höchst merkwürdig
ist aber in Bezug auf die Wanderung der Culturgewächse, dass
jetzt auf Celebes, sowie auf den drei afrikanischen Aequatorial-
inseln Fernando Po, Principe und San Thome die Cacaocultur
einige Ausdehnung gewonnen hat.
Ein tropisches Nahrungsmittel , welches vielleicht in der Zu-
kunft für uns noch viel wichtiger werden könnte, ist die Tapioca.
Das Tapiocamehl ist ein künstliches Product aus den Wurzeln der
Cassave oder Maniok (Jatropha Manihot L.). Die Cassave bildete
das Hauptnahrungsmittel der Antillenos oder Eingebornen der
Antillen , als Cristobal Colon die neue Welt entdeckte , und die
spanischen Entdecker erfuhren sehr früh, dass die Maniokwurzeln
des Festlandes ganz unschädHch wären, während die auf den In-
seln ein jäh wirkendes Gift enthielten. Die Wurzeln wurden und
werden noch jetzt zu Brei gestampft und durch einen Sack der
Saft hindurchgeseiht. Dieser Saft enthält Blausäure, und die Ma-
niok, frisch genossen, hat augenbUcklich den Tod zur Folge.
Aber gerade jener Milchsaft , welcher nach etlichen Tagen alle
giftigen Eigenschaften verliert, schlägt ein Stärkemehl nieder,
welches Mussasch oder Sissip in Westindien genannt wird. Rührt
man das Maniokmehl mit Wasser an und lässt es auf kupfernen
Platten eintrocknen, so nimmt es die Form kleiner Kügelchen an,
die hart und grau werden. Diess ist die Tapioca des Handels.
Der Fasernrückstand der ausgepressten Wurzeln wird zu Cassave"
brod umgestaltet, und dient zur Fütterung der Neger. Im Jahre
Die narcotischen u. einigt- exotische Genussmittel im Welthandel etc. 260
1853 sendete vornehmlich Biasüien Tapioca nach Europa, und
zwar 5004 Ctr., alle übrigen Länder nur iio. Jetzt (1860) hat
die brasilische Ausfuhr bis auf 27 ig Ctr. abgenommen, dagegen
hat die einzige Provinz Wellesley aufMalaka 8325 Ctr. ausgeführt.
Von Wichtigkeit ist jedoch bis jetzt dieser Handelsartikel noch
nicht, ebenso wenig wie das Mehl der Pfeilwurz (Arrow- root,
westindischer Salep, Marunda arundinacea L,), deren Wurzeln
ebenfalls ausgepresst werden. Das Pfeilwurzmehl hat die Eigen-
schaft, dass es in kochendem Wasser keinen Kleister bildet, also
ausserordentlich leicht verdaulich ist, wesshalb die Aerzte schwachen
Kranken zur Ernährung Pfeilwurzmehl verordnen. England, der
Hauptabnehmer, hat seine Einfuhr von 16,000 auf 21,280 Ctr. in
der Zeit von 1850 — 60 gesteigert. Das meiste (ä 14,620 Ctr.)
wird \on den drei Antillen Barbadoes, St. Vincent, Jamaica be-
zogen, 5020 Ctr. aber kommen aus der jungen afrikanischen Co-
lonie Natal. Auf der Londoner Ausstellung sind als neue Erzeug-
nisse ostindische Pfeilwurzmehle aus Cuttak, Akyab, Nagpur,
Tschittagong und Travoncore ausgestellt, welche aus wild in den
Dschengeln wachsenden Pflanzen dargestellt worden sind, ebenso
ein Salepmehl, welches aus der zweidornigen Wassernuss (Trapa
bispinosa L.) gewonnen wird, und eine wichtige Rimesse Indiens
nach Kaschmir bildet. Alle diese exotischen Nahrungsmittel sind
jedoch wegen ihres bisher noch geringen Absatzes wenig wichtig
für den grossen Völkerverkehr. Eine Ausnahme jedoch macht
der Sago, welcher bekanntHch aus dem Mark verschiedener Pal-
menbäume : der Saguerus Rumphii, der Raphia farinifera und der
Cycas circinalis gewonnen wird. England hat in der Zeit von
1850 bis 1860 seine Einfuhr von 89,884 auf 179,825 Ctr. gestei-
gert, wovon 157,719 Ctr. über Singapur, das übrige direct von
Sumatra , Borneo und von andern Inseln Hinterindiens bezogen
wurde.
Vergleichen wir dem Werth nach die narcotischen Genuss-
mittel unter sich und mit den Gewürzen, so erhalten wir folgende
Uebersicht :
Tonnen.
Werth.
Gewürze 30,000
10 Mill. Thlr
Thee 70,000
70 „
2^0 ^u'^ mathematischen und physischen Geographie.
Tonnen. Werth.
Kaffee 262,000 iio Mill. Thlr.
Cacao 1,000 8 1/4 „ „
Diese Zahlen reden sehr deutlich; sie zeigen, dass nicht bloss
dem Werthe nach die narcotischen Genussmittel (Thee und Kaffee)
die Gewürze um das sieben- und eilffache übertreffen, sondern
dass sie auch zusammen beinahe das eilffache an Frachten der
Schifffahrt liefern.
8. Ueber die Veränderungen in der
Ernährung der europäischen Völker seit
dem sechzehnten Jahrhundert.
(Ausland 1855. Nr, 27. 6. Juli.)
Vor dem Beginn des 16. Jahrhunderts kannte man in Europa
weder den Thee , noch den Cacao , noch die Vanille , noch den
Tabak. Erst im Beginn des 15. Jahrhunderts wurde der Kaffee
von Abyssinien nach Arabien gebracht, doch erwähnt bereits
Macrizy, ein arabischer Schriftsteller des 9. Jahrhunderts der Hid-
schra, dass zu seiner Zeit auf den Messen zu Mekka der Kaffee
als wichtiger Handelsartikel auftrat. Das erste Kaffeehaus wurde
in London im Jahre 1652 errichtet, während der Thee um diese
Zeit noch so selten war, dass 1664 die ostindische Compagnie
der Königin von England ein paar Pfund solcher Blätter als ein
würdiges Geschenk überbringen konnte. Die vier als Theetrinker
grossen Nationen sind die Holländer, Engländer, Chinesen und
Russen, zusammen 500 Millionen Menschen. England verbraucht
allein 60 Mill. Pfund, oder etwas mehr als zwei Pfund auf den
Kopf. Man kann daher den Theeverbrauch der Welt auf 1000
bis 1500 Mill. Pfund schätzen. Der Kaffee dagegen ist ein
LiebHngsgetränk der Franzosen, der Deutschen und der Osmanen.
Er zählt etwa 120 Mill. Liebhaber, und jährHch werden wohl
gegen 600 Mill. Pfund davon erbaut und verzehrt. Der Cacao,
oder vielmehr die Chokolade, ist ein Lieblingsgetränk in den ame-
rikanischen Creolenstaaten , in Spanien und Italien. Chocolatl
nannten die alten Mexicaner das Erzeugniss ihrer Kochkunst,
welches wir von ihnen ererbt haben. Der Cacaobaum wächst nur
unter den Tropen, und auch da nur in den heissen Niederungen.
27 2 ^iT mathematischen und physischen Geographie.
Cacao und Vanille verlangen die höchste Temperatur, der Cacao
ist ausserdem sehr schwer zu pflegen. Er wird nur am Fuss eines
andern Baumes gepflanzt, der ihm Schatten gewähren muss. Im
Palast Montezuma's wurde vortrefi'liche Chokolade bereitet, wie die
ersten spanischen Eroberer uns versichern. Die Cacaobohne wurde
ausserdem so geschätzt, dass sie im kleinen Verkehr als Münze
galt. Und diess hat sich noch bis auf den heutigen Tag erhalten.
Das kleinste Silberstück, welches in Centralamerika cursirt, ist der
Medio oder der halbe Real. Dieser hat Curs gegen 40 oder 60
Cacaobohnen, und mit ein paar solchen Bohnen kann man Orangen,
Ananas oder Bananen einkaufen. Der Zucker ist ein verhältniss-
mässig modernes Nahrungsmittel. Die Araber — was verdanken
wir nicht alles den Arabern ! — haben das Rohr nach Sicilien und
Andalusien gebracht. Der Zucker war aber selbst am Ende des
Mittelalters noch ein kostbarer Handelsartikel. Der beste Zucker
wurde in Cairo gesotten , allein die feinste Sorte des ägyptischen
Zuckers gelangte gar nicht in den Handel, sondern wurde am
Hofe der Mamelukensultane verzehrt. Im Jahre 1372 bestand der
Vorrath von Zucker im Haushalt einer Königin von Frankreich
aus vier kleinen Broden von etwa fünf Pfund. Das Pfund Zucker
war in Paris zehn damalige Sous werth, die so viel Silber ent-
hielten als etwa heute 4% Eres., während das Silber damals im
Vergleich zu den Getreidepreisen einen vier- bis fünffach höhern
Werth hatte. Unter den Geschenken, welche nach Abschluss eines
wichtigen Handelsvertrags 1461 der Sultan von Aegypten, Almalek-
almuiad-Ahmed, dem Dogen von Venedig MaUpieri, übersandte,
befanden sich neben zwölf Tellern und acht Schüsseln aus Por-
cellan 40 kleine Brode Zucker. Wir wissen alle, dass das Zucker-
rohr vom Infanten Heinrich dem Schiffer nach Madeira und auf
die Azoren, von den Spaniern nach den Canarien verpflanzt wurde.
Der Zucker hat aber noch eine andere grosse historische Begeben-
heit veranlasst, denn er ist der Stifter der Negersklaverei. Es hat
zu allen Zeiten Sklaverei gegeben, bei den Aegyptem, den Assy-
riern, den Persem, den Griechen, den Römern, den alten Germanen.
Die Sklaverei und der Sklavenhandel hat fortwährend im Mittel-
alter bestanden. Allein die Sklaverei des Orients, wie sie uns in
der Bibel begegnet, ist durchaus kein sittlich verwerflicher Zustand.
Sie wird noch immer durch ihren patriarchalischen Charakter ge-
mildert, und der Sklave wird von seinem türkischen Herrn besser
behandelt als mancher Dienstbote in den sogenannten civilisirten
Ländern; er isst mit seinem Herrn — und notabene ohne Gabel
oder Löffel — aus derselben Schüssel , und wenn der Herr die
Pfeife aus dem Mund legt, raucht der Sklave weiter. Ganz anders
sieht die transatlantische Sklaverei aus. Dort ist es die Herrschaft
und die Dienstbarkeit zwischen hohen und niedem Racen, dort
wird der Sklave ein Element der Production. Seine physische
Kraft sinkt zu einem Handelsartikel herab , und der Mensch in
ihm hat nur insofern Werth, als er zu Arbeiten abgerichtet werden
kann , welche weder Hausthiere noch Maschinen zu leisten ver-
mögen. Nun war es aber der Zucker, dessen Cultur zur Neger-
sklaverei geführt hat, wie es jetzt in den Vereinigten Staaten die
BaumwollenproducTion ist, Avelche eine Abschaffung jener unnatür-
lichen Institution verhindert. Erst im Jahre 1659 wurden die
ersten Zuckerraffinerien in Europa angelegt, und in England bestand
noch im Jahr 1700 der ganze Zuckerverbrauch in 20 Mill. Pfund
oder etwa 4 Pfund auf den Kopf. Jetzt werden in England 28,
in Frankreich 8, im Zollverein 6, in Belgien 8, in Dänemark 11,
in den Niederlanden 10 und in Oesterreich etwa 3 Pfund Zucker
jährlich auf den Kopf verzehrt. 4500 Mill. Pfund Zucker werden
jährlich auf der Welt aus Rohr, und 500 Mill. aus Rüben erzeugt
und verbraucht.
Es sind wiederum die Araber , welche vor uns , neben der
Kenntniss von Zubereitung der Schwefelsäure, der Salpetersäure
und des Scheidewassers, mit dem alkohoHschen Gährungsprocesse
^ ertraut waren. Der Branntwein ist ein wichtiges und, wenn massig
genossen, für nördliche Völker ein sehr heilsames Nahrungsmittel.
Welche Verheerungen aber hat er angestiftet, als er in südliche
Breiten drang! Die Urbevölkerung Amerika's, Afrika's und der
Südsee hat furchtbar durch diese Vergiftung gelitten. Um Brannt-
wein haben die rothen Indianer ihre Jagdgebiete verkauft, um
Branntwein werden noch heutigen Tages die kostbaren Pelzthiere
im nördlichen Amerika schonungslos von den amerikanischen
Jägern vertilgt, Branntwein ist eine Rimesse für schwarze Sklaven,
Branntwein hat manche idyllische Zustände der oceanischen Insel-
welt verderbt und geschändet.
Als das erste Schiff, welches die Reise um die Welt vollendete,
nämlich die Vittoria unter Elcano vom Geschwader des Magellan,
in Sevilla ankam und in directer Fahrt von den Bandainseln die
Peschel, Abhandlungen. II. iS
2 74 ^"'" mathematischen und physischen Geographie.
köstlichen indischen Gewürze mitbrachte, erregte diese kaum ge-
hoffte glückliche Erreichung sehnsüchtiger Wünsche bei manchem
Kopfe Bedenken. Aus den Berichten der Zeitgenossen kann man
sehen, mit welcher Freude und Bangigkeit zugleich das Schiff
empfangen wurde. Eine Muscatnuss wurde zum erstenmal mit
Blatt und Stiel an den spanischen Hof gebracht und ging be-
wundert von Hand zu Hand durch den Kreis der Damen und
Cavaliere, welche die Frucht mit Nase und Auge bewunderten,
denn noch nie vorher hatte man das längst gekannte Gewürz als
Frucht an Zweig und Blatt zu sehen bekommen. Wie soll das
aber werden , fragte man sich , wenn die ehemals so theuern Ge-
würze jetzt wohlfeil werden, vom Palast zum Bürgerhaus, von
diesem zur Hütte ihr Genuss sich verbreitet? Es wird, so fürch-
tete man, ein verweicWichtes Geschlecht heranwachsen und der
Untergang des persischen und des römischen Reiches steht der
lateinischen Christenheit bevor.
Nichts von allen diesen Befürchtungen ist bis jetzt eingetreten.
Wir haben zu den uralt einheimischen geistigen Getränken , als
Bier imd Wein, noch Branntwein , Thee , Kaffee, Chocolade ; wir
haben einen starken Verbrauch von Zucker und allen möglichen
alten und neuern Gewürzen in unsere tägliche Consumtion auf-
genommen, und unter dem Einfluss dieser Nahrungsmittel haben
gleichwohl die europäischen Völker zwei neue Welttheile bevölkert,
und alle zur See erreichbaren Nationen entweder sich unterworfen
oder in irgend eine, wenn auch nur materielle, Abhängigkeit gebracht.
Es giebt aber auch jetzt noch gar manches furchtsame Gemüth,
welches mit einer Art Scheu eine solche „unnatürliche" Ernährung
betrachtet. Unter unnatürlich versteht man in der Regel alles,
was die Natur nicht freiwillig gewährt. Unnatürlich in diesem
Sinne wäre es aber auch, den Wein von Bordeaux, der Pfalz und
des Rheingaues zu trinken , denn die Rebe verdankt ihre dortige
Acclimatisirung nur künstlicher menschlicher Pflege. Ja selbst
unsere Brodfrüchte sind nicht heimisch, nicht in Deutschland, nicht
einmal in Europa; sie würden wild nicht fortkommen, ja sie sind
zwar in verwildertem, aber noch nie in wildem Zustande
irgendwo angetroffen worden. Unsere Halmfrüchte verlangen eine
besondere Bearbeitung des Bodens und obendrein noch Düngung.
Diese Cultur ist also ein überaus künstlicher Process, und dennoch
hat sich die Bevölkerung Europa^s fortschreitend vermehrt. Ja es
Ueber die Veränderungen in der Ernährung der europäischen Völker etc. 275
scheint beinahe , als wolle die Natur uns lehren , dass gerade
da, wo irgend eines ihrer Erzeugnisse besondere Pflege des
Menschen verlangt, es am herrlichsten gedeihe. Die köstlichen
Gemüse , die jetzt allenthalben, wo sich der Gartenbau gehoben,
.so schmackhaft und in solcher kolossalen Grösse erzeugt werden,
verdanken wir nur der höchsten Kunst und sorgsamsten Pflege.
Die Orangen sind da am süssesten, wo die Bäume noch in der
kalten Jahreszeit zugedeckt, und die köstlichsten Weintrauben fand
Alex. V. Humboldt in Astrachan, wo sie vor der vollen Härte des
russischen Winters geschützt werden müssen. So erringt auch
der Mensch die höchsten geistigen und physischen Fähigkeiten an
der Nordgränze der gemässigten Zone, obgleich er erst aus tiefen
Schachten den Stoff holen muss, dessen Verbrennung die sehr
„natürliche" Temperatur des Winters mildern muss. Wir sind in
diesem Sinne sämmtlich Treibhauspflanzen, und eben weil wir es
sind, weil unsere physische Pflege weit höhere Anstrengungen
verlangt als die ,, süsse Gewohnheit des Daseins" in einer schwe-
benden Hängematte, unter dem Schatten der Cocospalme oder des
Brodfruchtbaumes — eben desswegen sind wir die Herren der
Welt und unser Europa die Metropole des menschlichen Geschlechts.
Erst in neuerer Zeit aber ist es gelungen, den wissenschaft-
lichen Beweis zu führen , dass alle jene Nahrungsmittel , die wir
bisher rein wegen ihrer Fremdartigkeit für schädHch hielten, unsern
Organismus nicht nur nicht stören, sondern ihm sogar Wohlthaten
erzeugen. Es giebt nichts gesünderes als das Theetrinken, voraus-
gesetzt, dass der Thee selbst gesund oder rein sei.
Wenn wir von Thee sprechen, so meinen wir nicht bloss jene
Blätter, die in China, und seit ein Dutzend Jahren am Südabhang
des Himalaya in Assam und Nepal erzeugt werden, sondern auch
den Paraguaythee , der in Südamerika, den Appalachan-, den Os-
wego- und den Labrador-Thee , welchen die rothen Indianer aus
den Blättern einheimischer Gewächse sich bereiten. Wir rechnen
ferner dazu den Thee, welchen die farbigen Bewohner von Su-
matra aus den Blättern der Kafifeestaude erzeugen. So haben
unter verschiedenen Breiten und Längen die verschiedensten Völker
instinctartig ein Nahrungsmittel aufgesucht, welches unseren Körper
ausserordentlich zu erquicken und zu erfrischen vermag. Der
Chemiker aber hat später nachgewiesen, dass alle diese Theesorten
chemisch einander sehr nahe stehen. Die frisch gepflückten Thee-
2'nS Zur mathematischen und physischen Geographie.
blätter haben weder einen zusammenziehenden Geschmack noch
einen aromatischen Geruch. Beides erhalten sie erst nach dem
Rösten. Die Theeblätter enthalten so viele nährende Substanzen,
dass wir uns, wenn wir sie als Gemüse essen wollten, davon mit
demselben Erfolge wie von Bohnen oder Erbsen nähren könnten.
Die charakteristischen Stoffe, welche das Theeblatt enthält, sind
ein flüchtiges Oel, zweitens das sogenannte Them und die Gerb-
säure. Die Gerbsäure ist es, welche dem Thee seine Farbe giebt.
Sie löst sich im Wasser langsamer als das Oel und das Thein.
Diese beiden Stoffe werden sehr rasch aufgelöst, und wenn man
daher den Thee ,, länger ziehen" lässt, so bemächtigt man sich
fast nur der noch ungelösten Gerbsäure. Diese giebt dem Thee
einen zusammenziehenden Geschmack und ist wahrscheinlich eine
völlig gleichgültige Substanz, insofern sie keinen Einfluss auf die
ermunternden Wirkungen jenes Labsals hat , obgleich auch eine
andere Ansicht darüber vertheidigt werden kann. Gerbsäure ge-
winnt man aus Eichenrinde und benutzt sie bekanntlich als Lohe
bei der Lederbereitung. Unser Magen wird daher einem ganz,
ähnlichen Processe ausgesetzt, wenn wir im Thee viel Gerbsäure
trinken. Er wird buchstäbHch gegerbt, und eine Folge davon ist
es, nach der Ansicht mancher Chemiker, dass leidenschaftliche
Theetrinker, wie die Engländer, ihre Suppen so höllisch würzen,
und Senf, Pfeffer, Salz etc. in solchem Uebermass verbrauchen.
Dass aber wirklich Gerbsäure in unserer Theekanne enthalten,
davon kann sich jedermann leicht überzeugen. Die Galläpfel ent-
halten nämlich wie der Thee Gerbsäure, und Gerbsäure mit einer
Lösung aus Eisenvitriol giebt unsere Tinte. Man braucht daher
nur in einen braunen Theeaufguss etwas Eisenvitriollösung zu
giessen , so erhält man eine ganz brauchbare Tinte. In hundert
Loth Thee ist ein Loth Theeöl enthalten, ein flüchtiger Bestand-
theil, dem das Arom und der Geschmack des Thees im hohen
Grade eigen ist. Wahrscheinlich ist diesem Oel die narcotische
Wirkung des Thees zuzuschreiben. Dieses Oel ist es , welches
den Theekostern Kopfschmerz und Schwindel verursacht und wess-
halb der frische Thee eine eigenthümliche berauschende Wirkung
hat. Die Chinesen lassen aus Vorsicht den Thee immer ein Jahr
alt werden, so dass sich ein Theil dieses Oeles verflüchtigen kann.
Ein Jahr und mehr als dieses muss nothwendig ^•erstrichen sein,
ehe der Thee in unsere Haushaltungen gelangt, so dass wir jenes
Ueber die Veränderungen in der Ernährung der europäischen Völker etc. 2 7 7
Oel nicht mehr zu fürchten haben. Weit merkwürdiger noch als
das Oel und die Gerbsäure ist die Anwesenheit eines Stoffes,
welchen die Theeblätter enthalten, und den man Thein nennt.
Trocknet man einen hellen Theeaufguss in der Wärme ein, so
erhält man einige farblose Krystalle. Diese Krystalle sind das
Thein, wovon die Blätter etwa 2 Loth in jedem Hundert enthalten.
Dieses Thein besteht aus 50 Theilen Kohlenstoff, 29 Theilen
Stickstoff, 16 Theilen Sauerstoff und 5 Theilen Wasserstoff.
Das quantitative Verhältniss in dieser Verbindung hat fiir den
Chemiker einiges Interesse, uns aber ist das Thein durch einen
andern Umstand merkwürdig. Es findet sich nämlich nicht bloss
im chinesischen Thee, sondern auch im Kaffee, im Paraguay-Thee
und im brasilischen Guaranabrod, eine aus dem Samen der Paul-
linia austrahs bereitete Chocolade. Der ächte Cacao (Theobroma
cacao) enthält statt des The'ins einen Stoff, den man Theobromin
genannt hat und der ähnlich wie das Thein zusammengesetzt ist,
nur dass er sieben Hunderttheile mehr Stickstoff und verhältniss-
mässig weniger von den drei andern Bestandtheilen besitzt. Instinct-
artig also hat in Brasilien, in Centralamerika, in Nordamerika,
in Abyssinien und in China die Urbevölkerung ein vegetabilisches
Product entdeckt, und als Nahrungsmittel in Gestalt von Thee,
Kaffee, Chocolade zubereitet, welches denselben wunderbaren Stoff,
nämlich das Thein und das Theobromin enthielt, und wodurch
in den Augen des Chemikers der Thee erst recht zum Thee, der
Kaffee zum Kaffee, der Cacao zum Cacao wird, denn alle ihre
übrigen Bestandtheile finden sich allenthalben, das Thein aber
gehört ihnen als specifisches Merkmal. Das Thein soll sogar, wie
wir bereits oben bemerkt haben, in den Kaffeeblättern vorhanden
sein, welche den Farbigen auf Sumatra den chinesischen Thee zu
ersetzen vermögen.
Die Chemie aber ist nicht dabei stehen gebUeben, uns über
die Richtigkeit der menschlichen Instincte und ihre Ueberein-
stimmung in der Wahl der Nahrungsmittel an so verschiedenen
Orten aufzuklären, sondern sie hat uns auch über die wohlthätigen
Folgen dieser scheinbar so „künstlichen" Genussmittel belehrt.
Man kann vom Kaffee und noch mehr vom Thee, vor allem aber
\om Cacao behaupten , er sei nahrhaft , denn er enthält ja jene
Bestandtheile, die wir theils zur Blutbildung, theils zum Athmungs-
i)rocess bedürfen. Allein wenn sich in hundert Loth Thee nur
278 Zur mathematischen und physischen Geographie.
zwei Loth Thein befinden , so wird man finden , dass davon in
einer Tasse kaum Vsoo ^^^ V400 Loth sich aufgelöst finden kann.
Was also der Thee oder der Kaffee zur directen Ernährung bei-
trägt, ist ausserordentlich gering. Desto merkwürdiger und einfluss-
reicher sind die mittelbaren Wirkungen.
Der menschliche Körper ist bekanntlich in fortdauernder Zer-
setzung und Erneuerung begriffen. Er ist wie ein Ofen , der be-
ständig geheizt werden will. Wir führen ihm in der Nahrung
Brennstoffe zu, die durch den Zutritt der atmosphärischen Luft"
buchstäblich verbrannt werden, und deren gasartige Verbrennungs-
producte wir in Gestalt von Kohlensäure wieder ausathmen,
während die Schlacken oder Rückstände auf anderem Wege fort-
geschafft werden. Ausserdem aber verbrauchen wir täglich und
beständig einen Theil der in Fleisch, Blut und Knochen ver-
wandelten Nahrungsmittel, und diesen Verbrauch müssen wir neu
ersetzen. Diese zersetzten Theile werden im Urin abgeführt , und
je mehr im Urin Harnstoff und Phosphorsäure enthalten ist,
in demselben Verhältnisse darf man sagen, ist die Zersetzung
unserer Körperbestandtheile rasch oder langsam fortgeschritten.
Ein Theil unseres physischen Ichs wird uns beständig entzogen,
und dieser Theil findet sich haui^tsächlich im Urin. So stellt
der Mensch eigentlich ein fortwährendes lebendiges Subtractions-
und Additionsexempel dar, während sich, so lange dieses irdische
Leiden dauert, die täglichen neuen Bildungen und Ausscheidungen
die Wage halten. Wenn wir nun eine Medicin besässen, welche
diesen Process vermindern oder aufhalten würde, so bedürften wir
weniger ' Nahrung , denn wir nehmen eben nur die Nahrung
um die täglich durch das Leben selbst erlittenen innern Verluste
an Muskelfasern oder überhaupt an den stickstoffhaltigen Ge-
weben unseres Körpers zu ersetzen. Eine solche Medicin ist aber
im Thee, Kaffee, Cacao etc. enthalten. Man hat nämlich gefun-
den, dass in Folge des Genusses von Thee, Kaffee und der ver-
wandten Nahrungsmittel die Menge der im Urin enthaltenen zer-
setzten Körpertheile sich vermindere, oder mit anderen Worten,
dass dieser innere Zersetzungsprocess langsamer erfolge. Es kommt
aber auf eins hinaus, ob wir bei grössern Verlusten mehr Nahrungs-
mittel zum Ersatz zu uns nehmen oder durch Verminderung dieser
Verluste eine geringere Menge Nahrungsmittel bedürfen. Nun
kommt aber im Alter eine Zeit, wo der Magen nicht mehr so
Ueber die Veränderungen in der Ernährung der europäischen Völker etc. 27g
viel Nahrungsmittel verdauen kann, um jene täglichen innern Ver-
luste zu ergänzen. Der Körper zehrt dann vom Capital und ver-
liert täghch mehr an Umfang und Gewicht. ' In dieser Zeit erweisen
jene Getränke ihre höchsten Dienste, denn sie vermindern die
Geschwindigkeit des Verfalls, die sonst nichts mehr aufzuhalten ver-
mag. Diese Wirkungen vermögen schon durch 3 — 4 Gran Thein,
welche etwa in einem Loth Thee enthalten sind, täglich erzeugt
zu werden. Es hat sich aber gefunden, dass man über einen
täglichen Verbrauch jener Menge The'ins nicht hinausgehen darf,
weil sich dann der Pulsschlag beschleunigt, die Einbildungskraft
überreizt , und ein Zustand erzeugt wird , der an Berauschung gränzt.
Wenn wir nun gewahren, dass Zufall und Erfahrung den
Menschen auf so wunderbare Nahrungsmittel geführt haben, so
sollten wir auch diesem Instinct vertrauen, welcher in allen Theilen
der Erde die verschiedensten Völker an narcotische Genussmittel
gewöhnte. Namentlich hat der Tabak seit dem Ende des 16. Jahr-
hunderts einen Eroberungszug durch die ganze Welt angetreten.
Das Tabakrauchen war den Völkern von Nordamerika, der An-
tillen, der Küsten des caraibischen Golfes bekannt, es war aber
noch nicht bis nach Peru gedrungen, als die Spanier dort einfielen,
ein wichtiger Beweis , dass kein Verkehr zwischen den Cultur-
reichen Amerika's über und unter dem Aequator in der Zeit vor
der Entdeckung bestanden hat. Man hat Tabakspfeifen in Grab-
mälern auf dem Unionsgebiet gefunden, die mit tausendjährigen
Bäumen bewachsen waren. So weit reicht das Alterthum des
Tabakrauchens in die Geschichte hinauf. Die besten Autoritäten
unter den Aerzten haben bis jetzt sich dahin ausgesprochen, dass
das massige Tabaksrauchen der Gesundheit nicht schädlich sei.
Auch der Tabak ist ein Nahrungsmittel im weitern Sinne, insofern
er den Hunger zu vertreiben vermag.
Herr Porter hat im Jahre 1850 ausgerechnet, dass das eng-
lische Volk etwa 24 Mill. Pfund für Branntwein, 24 Mill, für Bier und
71/2 Mill. für Tabak, also beinahe 57 Mill. Pfund Sterling für
solche extravagante Nahrungsmittel ausgebe, mehr also als die
britischen Staatsausgaben in Normaljahren betragen und mehr als
die Hälfte des gesammten britischen Bedarfs an Brodfrüchten,
selbst wenn der Quarter Weizen 60 statt 50 Sh. gelten solle.
Allem Vermuthen nach geben die arbeitenden Classen in England
den dritten Theil ihres Verdienstes für solche Genussmittel aus.
2 8o ^^^'^ mathematischen und physischen Geographie.
Man weiss aber auch, dass in Indien, wo durchschnitdich im Jahr
mit einem Sixpence (i8 kr.) per Kopf die Kosten für Bekleidung
bestritten werden , der Aufwand für narcotische Genussmittel das
zweite grösste Item in den Haushaltungen bildet.
Diese grossen Veränderungen in Kost und Nahrung der euro-
päischen Völker, welche seit 300 Jahren eingetreten sind, müssen
nothwendigerweise auf den physischen Zustand von Einfluss ge-
wesen sein. Wir wissen nicht, ob dieser Einfluss ein günstiger
oder ungünstiger gewesen sein mag. Dürften wir nach der Ent-
wickelung der politischen Kraft, nach der Bereicherung unserer
Kenntnisse und unseres Wissens, nach den grossartigen materiellen
und geistigen Fortschritten urtheilen , so wäre die Frage leicht zu
entscheiden. WissenschaftUch aber können das Problem nur der
Chemiker und der Physiolog gemeinsam lösen, und im Resultate
einer Analyse möchte leicht eine Offenbarung hegen , die einen
Verfall oder eine höhere Entwickelung dieses Geschlechtes uns
drohen oder verheissen würde.
9. Ueber das gegenwärtige Wissen von
den Erdbeben.
(Ausland 1869. Nr. 47. 20. November.)
Bei Gelegenheit der kürzlichen Erdstösse im Rheinthal sind
Aeusserungen mit Zuversicht ausgesprochen worden, die uns deut-
lich bewiesen haben, dass selbst der gebildete Theil unter uns
schlimmer daran ist, als der ungebildete, der gar nichts weiss,
nämhch dass er von dem Irrthum beherrscht wird, als müsse
früher oder später ein Vulkan nahe am Sitze oder dem Focus
des Erdstosses ausbrechen. Von vornherein möchten wir daher
jedem rathen, alles, was er über die Erschütterungen unseres Pla-
neten zu wissen glaubte, mit einem Schwamm, wenn diess mög-
lich ist, auszulöschen, und zuerst mit dem Geständniss zu beginnen,
dass wir gar nichts wissen, oder wenigstens erst zu wissen an-
fangen. Eine strenge Untersuchung jener Erscheinungen fand erst
in der Zeit von 1858 — 1862 statt, und wir verdanken sie dem
Briten Mallet, der sich Ende Januars 1858 nach den schweren
Erschütterungen Calabriens am 16. December 1857 nach dem
Schauplatz der Verheerungen begab. Das calabrische Erdbeben
ist das erste, welches methodisch beobachtet wurde, und mit ihm
beginnt unsere Kenntniss.
Erdbeben können absichtlich hervorgerufen und überwacht
werden. Jeder Schlag des grossen Hammers in der Krupp'schen
Gussstahlfabrik bei Essen ruft ein Erdbeben hervor. Der Schlag
ist so heftig, dass Gebäude auf beträchtlichem Abstand von dem
Hammer beschädigt wurden. Jeder Schuss aus einem Belagerungs-
geschütz, jede springende Mine in einem Bergwerk oder einem
Steinbruch euzeugt ein Erdbeben, ja jeder schwere Wagen, dei
282 Zur mathematischen und physischen Geographie.
durch unsere Strassen rasselt, erschüttert unsere Gebäude. Durch
eine äusserst empfindliche optische Vorrichtung konnte Mallet
beobachten, dass eine Quecksilberoberfläche noch auf 100 Schritt
(yards) vom massigen Schlag eines Hammers auf Gestein und auf
50 Schritt durch Stampfen des Fusses erschüttert wird. Als im
Jahre 18 10 von der bekannten Shakespeare-Klippe ein Stück ins
Meer sank, wurde in Dover eine Erderschütterung gespürt wie
von einem Erdbeben, und noch viel stärker war der Stoss im
Jahre 1772, in Folge einer gleichen Veranlassung. Was wir also
unter Erdbeben gewöhnlich verstehen, unterscheidet sich nur durch
die Stärke der Erschütterung. Wenn man auf Sternwarten an
mächtigen Instrumenten ein sonst nicht fühlbares Schwanken der
Grundlage beobachtet hat, während kurz zuvor in weiter Ferne
ein Erdstoss stattfand, so ist diess genau das, was wir erwarten
dürfen. Bleibt ein Fusstritt 50 Schritt, ein Hammerschlag 100
Schritt noch an einem Quecksilberspiegel bemerkHch, so wird es
von der Stärke des Stosses abhängen, ob er noch auf 50 und auf
100 Meilen gefühlt werden kann. Es ist aber ein sehr gefähr-
licher Irrthum, wenn man behaupten wollte, dass der Sitz einer
Erschütterung sehr tief in der Erdrinde gewesen sein müsse, wenn
sie auf sehr grosse Entfernungen noch bemerkt werden konnte.
Wenn also nach dem Lissaboner Erdbeben der Carlsbader Strudel
ein paar Tage stockte, so wird man sich denken, dass die Er-
schütterung, bis nach Carlsbad fortgepflanzt, irgendwo \on einer
Spaltenwand etwas Erdreich ablöste, welches den Quellencanal
verstopfte, wie durch eine ähnliche Verschüttyng von Klüften das
Erdbeben von Riobamba verursacht haben mag, dass der Vulkan
von Pasto am 4. Februar 1797 plötzlich aufliörte Dampf aus-
zustossen.
Die Erschütterungen pflanzen sich nach Mallets Versuclien
bei Entzündung von Minen mit ungleicher Geschwindigkeit fort,
je nach der Beschaffenheit des erschütterten Bodens. Bei Sand
war die Geschwindigkeit 825 Fuss (feet), bei stark zerklüftetem
Granit 1306 und bei dichter geschlossenen Granitmassen 1665
Fuss in der Secunde. Bei dem Lissaboner Erdbeben betrug die
Geschwindigkeit der Fortpflanzung je nach den verschiedenen
Berechnungen 3^/3 bis 5V2 deutsche Meilen in der Minute, also
ähnlich wie obige Ergebnisse.
Die Form der Bewegung ist die einer Welle von einer äusserst
Ueber das gegenwärtige \Vis3en von den Erdbeben. 283
flachen Wölbung und Vertiefung sowie grosser Breite. Das beste
Gleichniss von der Gestalt der Bewegung gewährt ein Kornfeld,
dessen Halme vom Wind bewegt werden. Bei der letzteren Er-
scheinung muss man zweierlei streng unterscheiden , nämlich die
Bewegung der Aehrenwelle über das Feld und die Bewegung der
einzelnen Aehre, die vollendet ist, wenn sie sich beugt und wieder
aufrichtet. Die Aehrenwelle bewegt sich nämlich viel rascher als
die einzelne Aehre, und genau so ist es bei Erdbeben; denn
während sich die Stosswelle sehr rasch fortsetzt mit der halben
Geschwindigkeit einer abgeschossenen Kanonenkugel, bewegt sich
das einzelne Körperchen, durch welches die Welle hindurchgeht,
vielleicht nur wie ein etwa 2 — 3 Fuss tief frei fallender Körper.
Für das calabrische Erdbeben ermittelte Mallet eine Geschwindig-
keit der Welle von 1000 Fuss, eine Geschwindigkeit der Wellen-
theilchen von nur 8 Fuss. Die Erdwelle muss sich aber durch
verschiedene Mittel fortpflanzen über Ebenen und felsige Gebirge,
durch Landseen und Meeresstücke. Die Wirkung ist daher eine
sehr verschiedene. Im allgemeinen darf man sagen, dass die See
stärker aus ihrem Gleichgewicht erschüttert wird, als das Land
und eine Ebene, die ja doch nur meist aus lockerem Erdreich
besteht, mehr als ein angränzendes felsiges Hochland. Die mäch-
tigsten Wirkungen treten dann ein, wenn eine Erdstosswelle erst
über eine Ebene gerollt ist und ein Massengebirge erreicht. Wird
der Gebirgskamm dann auch nur ganz unmerklich und die Ebene
selbst nur sehr massig erschüttert, so treten dafür an den Rändern
beider Gebiete, besonders da, wo die Ebene am Gebirgsabhang
sich aufrichtet, die schlimmsten Störungen ein, wie man diess l)ei
dem calabrischen Erdbeben von 1783 beobachtet hat, wo alle
weicheren Erdarten, die auf der Granitachse des Gebirges auf-
lagerten, am heftigsten gestört wurden.
Wichtiger noch ist Mallets Verfahren zur Bestimmung des
Ursprungsortes der Bewegung, oder mit anderen Worten des
Herdes der Erschütterung. Denken wir uns, dass, in einem
grösseren Umkreise um den Ausgangspunkt des Stosses in massi-
gen Entfernungen Obelisken aufgestellt wären, so werden diese
sämmtlich in der Richtung der Erschütterung umfallen, und zwar,
wo nicht absonderliche Verhältnisse obwalten, mit der Spitze nach
einwärts. Man braucht also nur den von ihnen angedeuteten
Richtungen zu folgen, so wird man dort, wo sich die Linien
*
284
Zur mathematischen und physischen Geographie.
schneiden, an der Oberfläche der Erde den Punkt finden, von
welchem scheinbar die Erschütterung ausging. Mallet begab
sich nun auf den Schauplatz der calabrischen Verheerungen, und
er suchte sich diejenigen umgestürzten Bauwerke aus, welche am
unzweideutigsten die Richtung des Stosses durch ihre Trümmer
bezeugten. Nun entwarf er auf einer Karte sechzig Pfade der
Erschütterungswelle. Sie alle führten in einem Umkreis von 2
deutschen Meilen , dessen Mitte die Stadt Caggiano einnahm.
Wiederum vereinigten sich 48 von jenen 60 in einem concentri-
schen Kreis von i deutschen Meile Durchmesser, 32 in einem
Kreise von etwa 10,000 Fuss Durchmesser, endlich 16 in einem
Raum von nur 500 Schritt Durchmesser, dem Mittelpunkt aller
übrigen Kreise. Dort lag also der Focus oder Ausstrahlungspunkt
an der Erdoberfläche,
Allein an der Erdoberfläche selbst durfte nicht der Ausgangs-
punkt gesucht werden , sondern in der Tiefe, Bestände unsere
Erdrinde aus einer ganz gleichförmigen, also gleich elastischen
Masse, und erfolgte der erste Stoss irgendwo in der Tiefe, so
müsste sich die Stosswelle in concentrischen Sphären verbreiten-
War der Sitz des Stosses bei A (Fig. i), so wird die Welle
8 ^,.,^JU_J^^.,_3_
^r f e' d' c 4
/ ■ e d e f (/
V
zunächst an den Kreisbogen cc', dann dd', dann ee', dann ft"',
dann gg' «anlangen. Erst bei B erreicht sie jedoch die Erdober-
fläche als senkrechter Stoss, bei i und i' schon unter beträcht-
lichen Winkeln, und je weiter sie sich fortpflanzt unter immer
spitzeren Winkeln. Fern vom Focus werden die Stösse beinahe
horizontal erfolgen. Denken wir uns aber, dass der Stoss von C
kam, so lehrt die Figur selbst, dass dann bei i die Richtung des
Stosses mit der Oberfläche einen viel steileren Winkel bildet, als
Ueber das gegenwärtige Wissen von den Erdbeben.
285
wenn der Sitz des Stosses bei A, also seichter gewesen wäre. Ist
durch die vorausgehenden Untersuchungen der Punkt B ermittelt
worden, der senkrecht über dem Focus lag, so wird man nun
Bauwerke, z. B. Mauern aufsuchen, die mit der Richtung des
Stosses in gleicher Ebene lagen, wie es bei Fig. 2 von d e f g
vorausgesetzt wird. In dieser Mauer werden sich senkrecht zur
Richtung des Stosses parallele Risse hh' und ii' zeigen, und eine
einfache Rechnung lehrt dann, da der Winkel B h' C gefunden
ist, wie tief unter B der Ursprungsort des Stosses (A) gelegen sein
muss. Mit anderen Worten, je mehr wir uns von dem Ort B,
Avo der Stoss senkrecht war, entfernen , desto mehr werden sich
die Risse an günstig gelegenen Bauwerken einer Horizontale nä-
hern. Aus 26 Stossrichtungen berechnete Mallet nacli dem
Austrittswinkel die Tiefe des Focus. Die grösste dadurch an-
gezeigte Tiefe war 49,359 Fuss (2V32 d. geogr. Meilen), allein
bei 23 Stossrichtungen blieb die Tiefe geringer als 43,284 Fuss
{i'^^/'i2 d. geogr. Meilen); 18 Stossrichtungen zeigen fast überein-
stimmend 34,930 Fuss oder i^ie d. geogr. Meilen, und diess war
jedenfalls der wahre Ausgangspunkt des Stosses. Die geringste
Tiefe, die gefunden wurde, betrug beiläufig 16,705 Fuss. Wir
können also sagen, dass aus einer Tiefe von etwa 1^/2 deutschen
Meilen der Stoss erfolgte.
Jetzt woTwir wissen, in welcher Art sich der Erdstoss fort-
pflanzt und in welcher Tiefe er entsteht, müssen wir versuchen
aus den Spuren, die er hinterlässt, auf die Umstände zu schliessen,
2 86 Zur mathematischen und physischen Geographie.
die ihn vielleicht hervorbringen. Die ältere Schule der Vulkanisten
machte von den Erdbeben den grössten Gebrauch, um alle Un-
gleichheiten der Erdoberfläche zu erklären. Galt es in Gebirgen
ein Thal zu öff"nen, so wurde ein Erdbeben herbeigerufen, sollte
die Hebung eines Landes erklärt werden, so mussten die Erdbeben
helfen. Namentlich hiess es, dass die Westküste von Südamerika
ruckweise aus dem stillen Meere steige imd nach jedem Erdstosse
wollte man einen solchen Ruck beobachtet haben. Gewöhnhch
beruft man sich auf das P^rdbeben bei Talcahuano an der chileni-
schen Küste, wo von Fit/:roy und Charles Darwin ein Empor-
rücken der Küste um etliche Fuss beobachtet worden sei. Die
Aeusserungen Darwins und Fitzroy's schhessen jedoch alle Zweifel
nicht aus. Wenn noch bei Sir Charles Lyell zu lesen ist, dass
1822 die Küste bei und in der Nähe von Valparaiso um 3 — 4
Fuss gehoben, worden sei, so gründet sich das auf Behau ptimgen
einer Mrs. Graham. . Es soll auch gar nicht geleugnet werden,
dass die Küste dort steige, nur dass diess nicht nothwendig ein
Verdienst von Erdstössen gewesen sei. Es befand sich nämlich
damals gerade in Valparaiso der berühmte Muschelsammler Cum-
ming, also ein vortrefflicher Naturforscher, der wohl täglich den
Stand des Meeres beobachtete, und dieser konnte nach dem Erd-
beben kein Wahrzeichen von einer Hebung des Landes oder einer
Aenderung des Meeresspiegels wahrnehmen. Weit besser beglau-
bigt ist eine Erhebung der Küste Neuseelands um ethche Fuss
bei Wellington am 23. Januar 1855 in Verbindung mit einer
Senkung. Unzählig sind überhaupt die Beispiele von Landsen-
kungen während und in Folge eines Erdbebens. Selten verläuft
ein grösseres Erdbeben, ohne dass wir lesen, es habe sich an
irgend einer Stelle eine vorher niCht gekannte Vertiefung mit
Wasser gefüllt und ohne den ohnehin schon heimgesuchten Frank-
furtern Besorgnisse erregen zu wollen, möchten wir nur anführen,
dass es viel weniger uns überraschen würde zu vernehmen, die
ehemalige Bundeshauptstadt sei in die Erde versunken, und es
habe sich an ihrer Stelle ein See gebildet, als dass im Rheinthal
oder den angränzenden Gebirgen sich irgend ein neuer Vulkan
erhoben habe. Liest man Sir Charles Lyell über die Erdbeben,
so wird er fast überall uns von Thatsachen kleiner Erhebungen
berichten, und liest man Gustav Bischof, so wird man nur von
Senkungen hören. Senkungen sind in der That die vorwiegenden
Ueber das gegenwärtige Wissen von den Erdbeben. 287
Erscheinungen. Beim Lissaboner Erdbeben versank der Quai
sammt allen Schiffen, die an ihm festlagen, ins Meer, und bald
darauf fand man an der nämUchen Stelle, erst bei hundert Faden
(600 Fuss) Grund. Bei dem calabrischen Erdbeben vom Jahr
1783» welches aus 949 Stössen bestand, denen 1784 noch 151
nachfolgten, bildeten sich nicht weniger als 215 Seen und Moräste.
Bei den Erdbeben in Syrien, China, Cumana und Indien wird
uns ebenfalls von Bildungen neuer Seen und Moräste berichtet.
Bei dem vorjährigen Erdbeben , welches Arica verheerte , ist die
Stadt Cotacachi verschwunden und an ihre Stella jetzt ein See
getreten.
Auf diese Erfahrungen gestützt, haben nun unsere Jungnep-
tunisten Volger, Mohr und vor allem Gustav Bischof, die Erdbeben
erklärt durch Einstürzen von Hohlräumen in der Erde. Dadurch
erhielte der alte Aristoteles recht, welcher schon bemerkt hatte,
dass Erdbeben in höhlenreichen Gegenden am häufigsten auftreten.
Dass unterirdische Wasser, wenn sie das Kalkgebirge oder ein
Salzflötz auflösen, sowie wenn sie zwischengeschaltete Thonlager
erweichen , zuletzt einen Einsturz der Decke bewirken müssen,
darüber darf kein Wort der Entgegnung verloren werden. Wie
uft stösst nicht der artesische Bohrer auf Hohlräume im Erdinnern ?
Stürzen dann die geogn ostischen Stockwerke in die Tiefe hinab,
so muss an der Oberfläche ein See oder Morast entstehen, die uns
gleichsam eine Abbildung liefern der Hohlräume , welche vorher
in der Tiefe vorhanden waren. Solche Einstürze können aber
recht leicht nur die mittelbare Folge eines Erdbebens sein , denn
waren Höhlungen vorher vorhanden und das Gewölbe zum Ein-
sturz reif, so bedurfte es nur einer geringen Erschütterung zum
Verschütten. Sehr viele Erdbeben mögen überhaupt nichts weiter
sein als Einstürze von Höhlen, wenn es immerhin auch schwierig
bleibt, sich die Hohlräume plötzlich ausgefüllt zu denken, und
nicht vielmehr, dass sich das Hangende allmählich senkt und rutscht.
Umgekehrt ist die Hypothese der Vulkanisten, die Erdbeben
durch Bildung von stark gespannten Dämpfen zu erklären, nicht
mehr haltbar. Sie dachten sich nämlich, dass Wasser in das heisse
Erdinnere dringe, dort in Dampf sich verwandle und dieser seine
Decke emporhebe. Diess passt auf das calabrische Erdbeben von
1857 nicht, denn gesetzt, die Wärme des Erdinnern wachse fort-
während um I ° F. auf 60 Fuss (feet), so erhält man folgende Werthe.
288 ^^^"^ mathematischen und physischen Geographie.
Spannung
Tiefe des Erdbeben-
Erdwärme
des Dampfes
stosses.
Fuss.
Grade Fahrenheit.
Atmosphären
Minimum . .
• 16,705 .
• • 339-4 • .
. • 7-85
Mittel . . .
• 34,930 .
. . 643.1 . .
. 148.88
Maximum . ,
. 49-359 •
. . 883.6 . .
. 684.11
Wasserdampf in eine Höhle eingeschlossen, hätte selbst unter
der oben angenommenen höchsten Temperatur nur 8550 Fuss
Kalkfelsen zu heben vermocht, während das Minimum der Tiefe
des Focus doch 16,705 Fuss betrug. Hebungen bei Erdbeben
sind daher auf diesem Wege nicht zu erklären. Weit besser ist
es mit Mallet anzunehmen, dass sich im Innern der Erde ein Riss
von ganz geringer Mächtigkeit bildete, dieser mit Wasser sich
füllte, welches sich in hochgespannte Dämpfe verwandelte. Den
Riss beim calabrischen Erdbeben hat Mallet hypothesisch berech-
net. Er begann in einer Tiefe von etwa einer deutschen Meile
und erstreckte sich weiter abwärts auf i^/^ deutsche Meilen, nicht
genau senkrecht , sondern mit einer Neigung gegen Südosten,
auch nicht gerade streichend, sondern gekrümmt auf etwa 2^/4
deutsche Meilen Ausdehnung. Die Zeit, die zum Auseinander-
reissen erforderlich war, betrug mindestens 7 ^2 Secunden , kann
aber auch 32 gedauert haben. Der Dampf drückte die Wände
auseinander und das Erdbeben pflanzte sich als Welle bei Zusam-
mendruck elastischer Körper fort.
Wenn die Bildung eines Risses oder einer Kluft die erste
Veranlassung der meisten Erdbeben ist, so lässt sich aus folgender
Statistik ersehen, welche Nebenursachen sich als wirksam zeigen.
Milne hat nämhch eine Tafel von 139 schottischen und 116 eng-
lischen Erdbeben entworfen, und als Durchschnitte gefunden:
Zahl der Erdbeben.
Allgemeines monatliches Mittel = 21.2.
Mittel der Monate von März bis August == 16.1.
Mittel der Monate von September bis Februar = 26.3.
Umfassende Untersuchungen dieser Art verdanken wir jedoch
Perrey. Auch er berechnete bei isländischen und skandinavischen
Erdbeben , die er leider zusammengeworfen , für die Sommerzeit
von April bis September ein monatliches Mittel von 14,5 , für die
Winterzeit von 20,1. EndHch hat er nachgewiesen, dass die Erd-
beben häufiger eintreten in den Syzygien (Neu- und Vollmonds-
Ueber das gegenwärtige Wissen von den Erdbeben. 289
Zeiten) als in den Quadraturen (erstes und letztes Mondviertel),
ferner häufiger in der Erdnähe des jMondes (Perige) als in der
Erdferne (Apoge). Endlich ist es ein Ergebniss der Erdbeben-
Statistik, dass Erschütterungen häufiger eintreten, wenn der Mond
sich im Meridian des erschütterten Gebietes befindet.
Diess beweist uns deutlich , dass die Erdbeben häufiger sich
einstellen im Winter, weil sich die Erde in Sonnennähe befindet,
überhaupt bei allen Stellungen von Sonne und Mond, die an dem
erschütterten Ort die Hebung einer Fluthwelle bewirken würden,
wäre nicht festes Land, sondern ein schrankenloser Ocean dort
vorhanden gewesen. Diese unläugbaren Thatsachen haben leider
zu dem irrigen Schlüsse geführt, dass das geschmolzene Erdinnere
(sein Dasein vorausgesetzt), von Ebbe und Fluth bewegt werde,
ja die Schule der Vulkanisten hat sogar in dem Zusammentreften
von Erdbeben mit jenen theoretischen Fluthzeiten der Erdrinde
eine Bestätigung von dem heissflüssigen Zustande des Erdinnern
finden wollen. Der richtigen Deutung begegnen wir bei Sir John
Herschel (About volcanos and earthquakes § 57). ,,Die Zugkräfte
von Sonne und Mond, obgleich sie nicht Ebbe und Fluth in der
starren Erdrinde bewirken können, erzeugen doch das Bestreben
zu solchen Bewegungen und würden sie bei einem flüssigen Zu-
stande wirklich hervorrufen." "Wir müssen uns also die Erd-
schichten in der Umgebung eines Ortes, dem ein Erdbeben droht,
im Zustande irgend einer Spannung denken, der jedoch die Co-
häsion noch nahezu gewachsen ist. Irgend eine Dislocation in
der Erdrinde ist bevorstehend, tritt daher bei einem Gleichgewicht
von Kraft und Widerstand noch ein fluthbildendes Bestreben
hinzu, so wird das Erdbeben reif. Bei dem letzten Erdbeben im
Rheinthale sind wohl die Massenzugkräfte von Sonne und Mond
nicht betheiligt gewesen, denn wenn auch der Stoss erfolgte einen
Tag vor Neumond und nahe der Zeit einer Erdennähe des Mon-
des , so stimmt doch wiederum die Tageszeit nicht , denn sonst
hätten die beiden Stösse kurz vor oder kurz nach den Culmina-
tionen (Mittag oder Mitternacht) eingetreten sein müssen.
Die Vertheilung der Erdbeben über die Oberfläche unseres
Planeten lässt manches ahnen über die ersten Ursachen ihres
Auftretens, denn gewisse Gebiete werden beständig, manche selten,
manche gar nicht von Erdbeben heimgesucht. Ueberall wo thätige
Vulkane liegen, sind die Erdbeben zahlreich, auch ist es nicht
Peschfl, Abhandlungen. II. 19
200 Zur mathematischen und physischen Geographie.
anders zu erwarten. Die Lava-, Schlacken- und x\schenmäntel
(Krater) der Vulkane sind durch ausgefüllte Spalten (Gänge)
strahlenförmig durchsetzt. Jede Oeffnung einer solchen Spalte
geschah gewaltsam und hatte eine Erschütterung zur Folge. Die
Beispiele, dass Lavenergüsse ohne Erschütterung sich vollziehen
(Sandwichinseln) , sind dagegen ausserordentlich selten. Wo es
also Vulkane giebt , müssen auch Erdbeben häufig sein , es wäre
wunderlich, wenn es anders wäre. Da nun die Vulkane entweder
im Meere selbst, auf Inseln oder hart am Meere, sehr selten bin-
nenwärts liegen, so folgt schon aus diesem Umstände, dass Erd-
beben auf Inseln und an Küstenländern häufiger sein müssen.
Daher haben für uns die Erdbeben Siciliens sowie an der West-
küste Italiens, auf den griechischen Inseln, auf Island, auf mehre-
ren atlantischen Archipelen, längs der Westküste von Südamerika,
auf den Sandwichinseln, in Neu-Seeland, an der Küste von Neu-
Guinea, im Bereich der Sunda-, Banda-, Molukken- und philippi-
nischen Inseln, selbst in Japan und den andern vulkanischen Insel-
kränzen Nordasiens sammt Kamtschatka nichts befremdendes.
Erdbeben suchen auch mit Vorliebe die Stätten erloschener
Vulkane heim. Gewöhnlich folgen auf den Ausbruch eines Vul-
kans ebenfalls Erdbeben. Diese entstehen wahrscheinlich in Folge
der Abkühlung, denn schwindet die Wärme , so müssen sich die
von ihr ausgedehnten Felsmassen zusammenziehen und in Spalten
zerklüften. Dieser Process dauert bei der geringen Wärmeleitung
der Felsarten und bei der tiefen Lage der Lavaseen unter einem
vulkanischen Gebiete wahrscheinlich durch geologische Zeitalter
hindurch. Ihm verdankt England, das in früheren Erdaltern
vulcanisch bewegt wurde , seine häufigen Erschütterungen. Das
gleiche gilt von der vormals vulkanischen Auvergne, von den
caspischen Niederungen in der Nähe des erloschenen Elbrus, von
den sibirischen Gebieten am Baikal-See; und wenn man sich für
die rheinischen Erdbeben nach einer Ursache umsieht, so genügt
wohl ein Blick auf eine geologische Karte, die uns dort eine An-
zahl erloschener Feuerberge zeigt. Manche erloschene Vulkane
haben sich aber das Erschüttern der Erde völlig abgewöhnt, denn
die Insel Mauritius im indischen Ocean, ein altvulkanisches Bau-
werk, kann seit unbestimmbar langer Zeit nicht gezittert haben,
sonst wäre der seltsame Felsblock auf dem Gipfel des Pierre Botte
längst herabgestürzt.
Ueber das gegenwärtige Wissen von den Erdbeben. 29 1
Diess alles sind vulkanische Erdbeben, welche schon ein be-
hutsamer Geognost wie Naumann zum Missvergnügen Humboldt's,
von andern Erdbeben, die er plutonische nennen wollte, gern ge-
sondert hätte. Aber auch plutonische dürfen wir sie vorläufig
noch nicht nennen , sondern bloss nichtvulkanische. In früheren
Zeiten konnte freilich Hofifmann noch wagen, das Erdbeben in
Syrien mit dem Ausbruch des Jorullo in Mexico in ursächlichen
Zusammenhang zu setzen, aber jetzt, wo wir über die Flegeljahre
des Vulkanismus hinaus sind, wird ein derartiger Griff nur Heiter-
keit erwecken, denn da die Erde an verschiedenen Punkten täglich
mehreremal erschüttert wird und es etliche Vulkane giebt, die be-
ständig speien, so kann man sagen: kein Erdbeben ohne Vulkan-
ausbruch, kein Vulkanausbruch ohne Erdbeben.
Erdbeben treten auf fern von allen Vulkanen. Selbst die
calabrischen Erdbeben möchten wir zu den unvulkanischen rech-
nen, wie die Erschütterungen Jamaica^'s, sowie die von Cumanä
und Caracas, vor allen aber die syrischen sowie die seltenen ägyp-
tischen, ferner die häufigen in Kleinasien bei Brussa, im Industhal
(Run of Catch), im Innern von Persien, in Skandinavien, in der
Schweiz, das Erdbeben von Lissabon, endlich vor allen die uner-
klärlichen Erschütterungen der Mississippi-Ebene, die in der Nähe
von Neu-Madrid vorher ungekannte Seen schufen. Selbst manche
Erschütterungen der Andenketten mögen nicht durch vulkanische
Kräfte erregt worden sein, sondern nur von Einstürzen geogno-
stischer Stockwerke herrühren , wie schon Boussingault vermuthet
hat. Ueberhaupt sind Gebirge jüngerer Erhebung wie die Anden
und die westlichen Alpen eben wegen ihrer Jugend nichtvulkani-
schen Erdbeben sehr ausgesetzt, wie sich umgekehrt Welttheile
von hohem geologischen Alter grosser Ruhe erfreuen. Das öst-
liche Südamerika gehört zu den erdbebenfreiesten Ländern ; frei-
lich fehlen ihm auch die Vulkane und die Beobachter, welche die
Stösse den Zeitungen melden könnten. In Südafrika kann nach
Livingstone's Zeugniss wegen eigenthümlicher Felsbildungen, die
mit Einsturz drohen, seit undenklichen Zeiten kein Erdbeben ge-
herrscht haben; auch Australien gehört bis jetzt zu den friedfer-
tigsten Planetenstellen. Selbst junges Gebiet, aber dann ohne
Gebirge oder nur von sehr alten Gebirgen durchzogen, ist gewöhn-
lich erdbebenfrei , denn von der norddeutschen Tiefebene über
19*
2 02 Zur mathematischen und physischen Geographie.
das europäische Russland und Sibirien bis zum Baikal -See, wo
erloschene Vulkane auftreten, herrscht der tiefste Erdfriede.
Zusammengefasst bedeuten uns alle diese Thatsachen, dass
Erdbeben seltener sein werden, i) im Abstand von thätigen Vul-
kanen, 2) im Abstand von vormals thätigen Vulkanen, 3) im Ab-
stand von dem Erderschütterer Poseidon, also im Binnenlande,
und nicht auf Halbinseln, Inseln oder Küstengestaden, 4) im Ab-
stand von jung erhobenen Gebirgen , überhaupt auf grösseren
Tiefebenen (obgleich auch sie nicht gänzlich frei sind), 5) in alten
Erdtheilen im Gegensatz zu den jüngeren.
Vor allem erfordert der jetzige Stand der Wissenschaft, dass
die Vulkanisten alle Erdbeben, die auf einem nicht vulkanischen
Gebiete auftreten und die sie zu Gunsten ihrer Hypothese con-
fiscirt hatten, als Streitgegenstand wieder herausgeben. Jede plötz-
liche Störung der Lagerungsverhältnisse muss ein Erdröhnen der
nächsten Umgebung hervorbringen, jedes plötzliche Zerreissen der
Erdrinde in Klüfte wird eine Erdwelle erzeugen, Spaltenbildungen
aber sind denkbar auch ohne heissflüssiges Erdinnere und ohne
jede Betheiligung vulkanischer Kräfte.
10. Thäler und Seen in den Schweizer
Alpen.
(Ausland 1870. Nr. 28. 9. Juli.)
Vielleicht erinnert sich irgend ein getreuer und günstig ge-
stimmter Leser dieser Wochenschrift einer „Ferienreise nach dem
Mittelmeer", oder da es schon fünf Jahre her sind, dass sie in
diesen Spalten veröftentlicht wurde, eher noch aus dem vorigen
Jahre der ,, Reise über den Apennin."') Im vergangenen Früh-
sommer verlor sich der Verfasser nicht so weit als vormals nach
Süden, sondern hatte sich den Ceresio oder Luganer See als Ziel
und Rastplatz ersehen. Zu dieser Wahl bestimmte ihn zunächst
die geographische Neugierde, dieses wunderHch gegliederte Süss-
wassergefäss näher zu betrachten, da seine Umrisse aussehen, als
ob noch einmal der Corner See, zusammengeschweisst mit dem
Lago Maggiore, aber im kleinen, hätten wiederholt werden sollen.
Der Ceresio übte jedoch noch eine andere Zugkraft, so oft seine
Umgebung auf der unschätzbaren Karte der Schweizer Geologen
(Studer , v. Escher u. s. w.) gemustert worden war, wegen der
Porphyre, die dort mächtig hervorbrechen. Porphyr fehlt auf der
Xordseite der Schweizeralpen, und da der Ferienreisende noch nie
ein Porphyrgebiet betreten oder vielmehr früher an solchen geo-
gnostischen Schaugerichten ohne Liebe und Verständniss vorbei-
geeilt war, so Hess sich dort utile dulci , das heisst auf deutsch :
das Geologische mit dem Angenehmen verbinden.
An Naturreizen ist nämlich der Luganer See verschwenderisch
ausgestattet, und er kann sich darin mit seinen beiden Nachbarn,
i) Die Berichte über beide Reisen folgen weiter ui
2Q4 Zur mathematischen und physischen Geographie.
dem Verbano und Lario, vollständig messen. Der erstere, besser
gekannt als Lago Maggiore, eröffnet an einer einzigen glanzvollen
Stelle grossartige Blicke , sonst sind seine Ufer und seine Fernen
ziemlich alltäglich , um nicht zu sagen ermüdend. Die genuss-
reiche Strecke liegt wie allbekannt, auf dem kurzen Wege von
Laveno nach Baveno, da wo die beiden Schenkel des Sees zu-
sammentreffen, wovon der eine jedoch, nämUch das Thal der
Simplonstrasse , grösstentheils schon durch GeröUe wieder zuge-
schüttet, nur noch wenig mit Wasser erfüllt wird. Dort über drei,
vier und fünf vorliegende kühn geschwungene Ketten, sanft ab-
gestuft in südUchem Blau , wird im Hintergrund die Monterosa-
gruppe sichtbar, worauf Berlepsch seine Touristenkundschaft in
seinem Reisehandbuche vorzubereiten vergessen hat. Dort liegen
auch die Eilande der Enttäuschungen, die der Familie Borromeo
angehören, und zu denen auch die leider dem Wanderer uner-
lässliche Isola bella (prononcez : Isola burlesca) gezählt wird.
Eben so steigern sich die Reize des Comer Sees nur auf einer
kurzen Strecke, und zwar genau auf einer dem Lago Maggiore
homologen Stelle, nämlich in der Tremesina, da wo bei Bellaggio
der See sich in den Arm von Como und Lecco gabelt. Genau
die nämliche Erscheinung wiederholt sich im Rheinthal, zwischen
Ragatz und Sargans , nur dass dort von einem ehemaligen See,
genau so geformt wie der Comer See mit zwei Schenkeln , nur
noch der eine , nämUch das erhabene Becken von Wallenstadt
noch jetzt von Süsswasser erfüllt wird. So grossartige Bilder wie
von Tremezzo und Cadenabbia am Comer See, oder auf dem
Borromeischen Zwickel des Lago Maggiore, entfaltet unser Ceresio
nirgends, denn man muss sich an den Uferwänden des Luganer
Sees schon hoch erheben, um einen Blick auf die Schneeberge der
Centralkette zu gewinnen. Dafür aber ist der Luganer See,
obgleich höher gelegen, weit südlicher durch seinen Pflanzenwuchs
als der Lago Maggiore, und auch die Bauart von Häusern und
Ortschaften erscheint italienischer als an den Ufern des Verbano.
Obendrein gehören seine Bewohner, unter deren jüngeren weib-
lichen Bevölkerung hässliche Gesichter oder Gestalten schwer auf-
zufinden, Schönheiten dagegen so wohlfeil sind wie die dortigen
Kirschen im Juni, zu ihrem Lobe sei es gesagt, noch immer der
Schweiz an, denn selbst ein längerer Aufentlialt wurde dem Ver-
fasser auch nicht durch einen Versuch von Prellerei verbittert.
Thäler und Seen in den Schweizer Alpen. 295
Wem daher die Zeit oder die Mittel zu einer Wanderung nach
dem Süden der Halbinsel nicht ausreichen, wer aber doch ein
wenig kosten will von italienischer Natur , der versäume nicht,
wenn er sich in der Nähe befindet, einen Abstecher sei es nach
dem Comer See oder nach unserm Ceresio. Dort sieht er bereits
die zarten Farben des Südens im fernen Gebirgshintergrund an
ausserordentUch edlen Umrissen und Linien. Das blaugrüne See-
wasser leuchtet kräftig, und das Laub der Haine dunkelt tiefer
unter der Wirkung der südeuropäischen Sonne. Wohlhabenheit
herrscht auf gesegnetem Boden. Die Villen sind sauber gehalten,
und Spuren von Vernachlässigung nirgends bemerkbar. Hurtige
wohlgenährte und hübsch aufgezäumte Rosse schütteln ihr mun-
teres Schellenbehänge, selten wird gebettelt und nirgends zeigt
sich menschliches Elend in neapolitanischer Verwilderung — wohl
aber hat sich noch ein Rest ^on malerischer Tracht in den
Schleiern erhalten, womit Frauen und Fräulein den Kopf bedecken,
sowie in den sandalenartigen Holzschuhen, die auf deii Steinplatten
der Strassen lustig klai^pern.
Lugano endlich bietet deutschen Begierden etwas, was ihnen
fast überall anderwärts auf der Halbinsel vom Norden bis zum
Süden versagt wird, nämlich einen Gang ins Freie. Ein längerer
Aufenthalt am Comer See wird fast unerträglich für denjenigen,
der mit den Augen schwelgen will, denn er ist entweder auf seinen
Balcon, oder die Terrasse seines Wirthshauses, oder auf Wasser-
fahrten angewiesen. Ein Spaziergang dagegen wird ihm \erwei-
gert, denn tritt er vors Haus , so hat er unter den Füssen eine
staubige Strasse, und zur Rechten wie zur Linken hohe Mauern,
über die hie und da nur ein südeuropäischer Obstbaum seine
Zweige herabsenkt. So ist es allenthalben in Italien, wo eifriger
Landbau betrieben wird. La Lugano dagegen öffnen sich fächer-
förmig nach allen Seiten Strassen ohne Mauern zu Spazier-
gängen, deren jeder etwas neues und w^illkommenes bringt. Merk-
würdig reich ist die Umgegend an Schlangen, so dass man wohl
auf einer kurzen Strecke deren drei begegnen kann, und dann
gern glaubt, dass malerische Mauerruinen auf der Strasse von
Melide nach Lugano einem Hause angehören, welches die Bew^oh-
ner räumen mussten, weil sich allzuviele Vipern bei ihnen ein-
fanden. Endlich sollte der Ferienreisende in Lugano, wo er zum
fünftenmal italienischen Boden betrat, den ersten lebenden Scorpion
2q6 Zur mathematischen und physischen Geographie.
ZU Gesicht bekommen, während er bis dahin als ungläubiger Tho-
mas das Vorkommen dieser Bestie mit dem Giftdolche in ItaHen
nur für eine Verleumdung zum Abschrecken nervöser Gemüther
gehalten hatte.
Auch am Lago Maggiore wird uns die Möglichkeit des Spa-
zierengehens im Freien geboten, nur ist dort, wie schon bemerkt
wurde, das südliche Gepräge der Vegetation nicht so auffallend.
Die Goldorangen, die der Neuhng auf Isola bella im dunklen
Laube nicht glühen sieht, müssen im Winter hinter Glas geborgen
werden, und doch gelangen sie selbst dann nicht zur Reife, son-
dern höchstens nur daneben die härteren Citronen und Limonen.
L'ebrigens ist selbst am Luganer See der Baum , welcher durch
seine Belaubung die Abhänge waldartig umhüllt, nur die Castanie,
die wir ja schon am Neckar und in der Rheinpfalz gedeihen sehen.
Freihch liefert sie dort nur die kleinen dreieckigen Früchte, nicht
die Marronen, aber in Bezug auf das Laub gleicht sie ganz der
ultramontanen Art oder Spielart. Doch wird niemand die Ca-
stanie als einen Baum anerkennen, der um in eine fremdartige
Welt versetzen könnte. Die Feigen dagegen erreichen bereits ein
stattliches Wachsthum mit kuppeiförmiger Krone. Doch ist auch
die Feige schon am Genfer See allenthalben anzutreffen , wenn
auch in schwächeren Stammdurchmessern. So bleibt denn nur
die Cypresse und der Oelbaum übrig , welche im Vergleich zur
Genfer Flora den Pflanzenwuchs am Ceresio-See um eine Terz
oder eine Quinte (wenn man so messen darf) an südlichem Ein-
druck erhöhen. In den Parken freilich trifft man viel immergrüne
Lorbeerarten, dazu freistehende Gebüsche von Camellien und Rho-
dodendren. Mit Vorliebe werden auch Coniferen und Araucarien
gepflegt. Die cahfornische Mammuthkiefer (Wellingtonia gigantea)
muss viel zeitiger Lugano als Süddeutschland erreicht haben, denn
es steht dort ein Exemplar von 20 Fuss Höhe. Vor allen sind
es aber die beiden geschwisterlichen Cedern vom Libanon und
vom Himalaya, vorzüglich die letztere , die anmuthige Deodara,
das Sinnbild einer Trauer, für die sich kein Trostwort finden
lässt, die mit Vorliebe gepflegt werden. Es versteht sich dabei
von selbst, dass es nirgends an Magnolien fehlt, sowohl immer-
grünen wie laubwerfenden , die im Juni gerade ihre schneeigen
Tulpen öffneten und ihren überwältigenden Jasminduft ausströmen
Hessen, Aber auch Bäume, die in unserer Heimath eifrig gepflanzt
Thäler und Seen in den Schweizer Alpen. 207
werden, gewinnen auf der sonnigen Seite der Alpen an günstiger
Wirkung. So tief wie in der italienischen Schweiz schwärzt sich
wohl nie die Laubkuppel einer Blutbuche in Deutschland, ja es
bedarf einer nähern Prüfung, um den Baum wieder zu erkennen,
zumal wenn durch eine kluge Berechnung des Gärtners der Far-
bengegenssatz dadurch verschärft wird , dass sich hinter dem
dunkelnden Buchenwipfel eine Silberlinde erhebt. Alle unsere
Baumgärten leiden an dem Uebelstand, dass ihre Belaubung bis
an den Boden herabreicht und zwischen und unter ihr dann nur
sonnige Stellen mit dumpfig schwülen abwechseln. An den ita-
lienischen Seen aber trifft man jene herrlichen .Platanenhaine, von
wenigen weit abstehenden Stämmen gebildet, die ihre Schäfte oft
dreissig oder vierzig Schuh hoch erheben, ehe die Astbildung be-
ginnt. Ein grünes Dämmerlicht fällt dann herab auf den schat-
tenkühlen Boden, während reine Luft ungehindert durch die hal-
lenartigen Baumstämme streicht.
Am Südabhang der Alpen herrschen krystallinische Felsarten,
Gneis und Glimmerschiefer überwiegend vor, und treten an man-
chen Stellen bis an das Schlemmland der Po-Ebene heran. An
ihnen ruft die Verwitterung und Zerklüftung andere Umrisse und
Linien hervor als an den geschichteten Gesteinen, Uebrigens
fehlen auch solche und zwar aus der Lias- und Triaszeit keines-
wegs dem Luganer See, dessen landschafthche Reize durch kühne
Dolomitfelsen am Arme von Porlezza nicht wenig erhöht werden,
während sein südliches Becken zwischen Wänden von Porphyr
und Melaphyr sich hinabsenkt. Ein solches nahes Zusammentreffen
so mannichfacher Felsarten verschiedenen Urspi^ngs und verschie-
denen Alters trägt nicht wenig dazu bei, dass die Ufer wiederholt
ihren landschafthchen Ausdruck wechseln. Doch bleibt die Haupt-
zierde des Ceresio der Monte Salvatore, welcher, halbinselartig
auftretend, den See zwingt sich wie ein Hufeisen zu krümmen.
Von jeder Himmelsgegend aus betrachtet bietet dieser Bergrücken
mit seinem aufgesetzten Kopfe ein anderes Bild, sieht man ihn
aber aus Norden sein Haupt auf hohem Genick emporrecken, so
gleicht er einigermassen einer Vogelgestalt.
Für den Bewohner einer deutschen Ebene , der meilenweit
wandern muss, bis er ein anstehendes Gestein trifft, den vielleicht
die herangewachsenen Kinder neugierig und sehnsüchtig fragen,
wie wohl ein Felsen in Wirklichkeit aussehen möge, bleibt es
2q8 Zur mathematischen und physischen Geographie.
immer bedeutsam, wenn er sich wieder einmal zwischen krystal-
linischen Felsarten bewegt. An den italienischen Seen und auf
beiden Seiten der Gotthardstrasse findet er dann Gelegenheit genug,
sich an dem Anblick der merkwürdigen Gesteine zu sättigen. Vor
allem ist es die Spaltbarkeit von Glimmerschiefer und Gneiss, die
ihn in Erstaunen versetzt. Da springen von den Wänden die
schönsten Platten und Tafeln herunter. Die Blöcke im tobenden
Gebirgsstrom nähern sich stets der Würfelform, oft wieder durch
glatte Risse zu Hälften geborsten. Alle Ecken, Leisten und ein-
springenden Kanten sind wie nach dem Winkelmasse angefertigt.
Am Lago Maggiore geht der Telegraphendraht über obelisken-
artige, IG Fuss hohe Pfeiler aus dem örtlichen krystallinischen
Gestein. So leicht und so sicher muss sich dieses also spalten
lassen, dass solche Steinsäulen in Betracht ihrer Dauerhaftigkeit
wohlfeiler zu stehen kommen als Stangen aus Tannenholz. Ja
selbst in den Rebgärten werden die Lauben ebenfalls durch solche
krystaUinische Monolithen getragen. Man begreift daher leicht,
warum so viele Geologen schon diese Felsarten als umgewandelte
geschichtete Gesteine angesehen haben, doch genügt eine nähere
Prüfung wiederum, dass das Auge den Unterschied zwischen
Schichtungsebenen und Spaltungsflächen rasch und sicher heraus-
findet. Wurden jene krystallinischen Felsarten in teigartigem Zu-
stande, gleichviel ob kühl oder schmelzflüssig , von unten nach
oben gepresst, so bedurfte es nur eines ausreichenden seitUchen
Druckes, um auch bei ihnen Schiefer ung und mit der Schieferung
die Spaltbarkeit hervorzurufen.
Es waren aber nicht bloss die Porphyre, Glimmerschiefer,
Gneisse und Protogine, welche den Ferienreisenden nach Lugano
zogen, sondern es bestimmte ihn dazu auch die Aussicht, auf dem
Rückweg die oft durchwanderte Gotthardstrasse noch einmal wieder,
und diesesmal mit andern Augen und mit andern Fragen auf dem
Herzen, zu betrachten. Dazu nöthigte ihn nämlich ein unlängst
erschienenes Buch über ,,Thal- und Seebildung", von dem gefei-
erten Anatomen L. Rütimeyer in Basel, der sich durch seine
classische Beschreibung der Thierwelt in den Schweizer Pfahl-
bauten Geologie und Alterthumswissenschaft zum höchsten Danke
verpflichtet hatte. Rütimeyer suchte in jener Schrift einen Satz
zu vertreten, der mit früher ausgesprochenen Ansichten des Ver-
fassers in Widerspruch stand, nämlich dass das Reussthal, so weit
Thäler und Seen in den Schweizer Alpen.
299
es Querthal ist, als eine ausschliesslich vom Wasser ausgefurchte
Rinne betrachtet werden müsse. ,,Was wir, lautet seine stärkste
Behauptung, mit dem Namen Erosion zu bezeichnen pflegen, kann
anderweitige Hilfskräfte kaum irgendwo entbehrlicher erscheinen
lassen, als in diesem mächtigsten Querthale der Alpen." Es galt
also noch einmal, die Gotthardstrasse mit den Augen des Basler
Anatom.en anzuschauen, und unbefangen zu prüfen, ob die Reuss
die alleinige Schöpferin ihres Rinnsales gewesen, oder ob nicht
auch andere Kräfte ihr früher hülfreich zu^■orgekommen seien.
Je nach ihrer Entstehung werden bekanntlich die Thäler als
orographische oder als Erosionsthäler angesehen, das heisst, man
denkt sie sich entweder durch Aufrichtung oder Senkung von
Gebirgsmassen entstanden, oder durch die Gewalt eiAes Wasser-
gefälles ausgewaschen. Dass das Wasser nichts zu thun hat, wo
Gesteinschichten muldenartig aufgebogen, oder wo der gewölb-
artige Bau einer Falte im Längendurchmesser aufgesprengt worden
ist (Clusen) , oder da , wo sich am Fuss eines steilen Schichten-
absturzes ein mehr oder weniger sanfter Abhang anlehnt (Comben),
CJuse
Mulde
Combi
Schema der drei Hauptformen orographischer Thäler.
darüber hat nie Streit entstehen können. Alle Längenthäler, also
solche, die auf eine sehr beträchtliche Entfernung dem Streichen
einer Gebirgskette parallel laufen, entstanden mit dieser durch
Hebung oder Senkung und durch diese orographischen Bewegun-
gen wurden dem Wasser seine Abflusswege vorgezeichnet. Auch
herrscht kein Zweifel darüber, dass Seiten thäler, die in Stamm-
thäler einmünden, vollständig Schöpfungen des Wassers sind. Nur
ist es leider unendlich schwierig, ja ohne geologische Karten oft
rein unmöglich , bestimmt zu sagen , was ein Stammthal und ein
Seitenthal sei. Die Strecke der Reuss von Gesehenen bis Ander-
matt, der Glanzpunkt der diesseitigen Gotthardstrasse mit der
-.QO Zur mathematischen und physischen Geographie.
wilden Felsenöde, der Teufelsbrücke und dem Urner Loch, könnte
als ein Stammthal der Reuss betrachtet werden , denn sie liegt
genau in der Verlängerung des Hauptrinnsales. Allein wie gerade
Rütimeyer vortrefflich gezeigt hat, ist diese Strecke eine ganz
junge Arbeit des Wassers, und ehe dort die Furche der Reuss bis
in das Urseren-Thal sich hineingearbeitet hatte, war das Wasser
des Gesehenen -Thaies der Hauptstrom, und die Reuss bis zur
Teufelsbrücke bildete sein Seitenthal. ")
Jeder, wer eine nur leidliche Karte der Schweiz vor sich hat,
wird sich von der längst anerkannten Thatsache überzeugen, dass
die Nordalpen (Berner Oberland, Titlis- und Tödigruppe) gegen
Süden getrennt und begränzt werden durch ein Längenthal, in
dem jetzt der Rhone nach West, dann die Reuss im Urseren-Thal
gegen Ost, und endlich ebenfalls gegen Osten der Vorderrhein bis
Chur fliiesst. Dieses Thal ist uralt, es war sogar bereits vorhan-
den, ehe neuere Erhebungen der Alpen es wieder zerstückten.
Schon der hellsehende Goethe war als junger Mann aufs höchste
betroffen, als er das erstemal aus der wilden Schlucht der don-
nernden Reuss durch den kurzen Urner Tunnel hinausgelangte in
das stille, zahme, sonnige, grüne Urseren-Thal, aber er ahnte noch
nicht, dass dieser plötzhche Bühnenwechsel zum Theil darauf be-
ruhte, dass er auf einer ganz jugendlichen engen Wasserfurche
hinübergetreten war in ein Thal, vor dessen Alter jeder geologisch
Gebildete Ehrfurcht empfinden wird, welches Zeiten gesehen haben
muss, wo die Alpen noch nicht den Alpen der Eisenbahnreisenden
glichen, wo sie vielleicht noch Aehnlichkeit mit dem Jura besassen.
Ein BUck auf die geologische Karte von Studer und Escher ge-
nügt, um sich zu überzeugen, dass das Urseren-Thal früher nicht
der Reuss angehört haben kann, sondern dass es vormals fremden
Wassern als Rinnsal diente, entweder nämlich hing es mit dem
Vorderrhein zusammen, und wurde von ihm getrennt durch das
Aufsteigen von Massen unter dem Oberalppass, oder es hing mit
dem Rhone zusammen, bis in der Gegend der Furka eine Hebung
eintrat. Nachdem diese Hebung erfolgt war, und bevor die Reuss
die Spalte bei der Teufelsbrücke tiefer ausgefurcht hatte, wird das
i) Zur Verständigung für solche Leser, denen die Ausdrücke der schwei-
zerischen Geologen nicht geläufig sein sollten, fügen wir den Holzschnitt (p.
299) bei, der sich von selbst erklärt.
Thäler und Seen in den Schweizer Alpen. ^OT
Urseren - Thal ein Becken ohne Abfluss gewesen sein müssen,
wenigstens gleicht die glatte Thalebene bei Andermatt vollständig
einem ehemaligen Seeboden. Vorläufig ist im Urseren -Thal das
Gefäll der Reuss noch sehr massig, aber die Dinge werden sich
rasch ändern. In den meisten Gebirgsthälern mit fliessendem
Wasser wechseln häufig Strecken, wo die Ausfurchung beinahe
schlummert, mit Strecken, wo sie hastig vorwärts schreitet. Die
Leistungen der Erosion sind nämlich genau das Product der
Wasserfülle und ihres Gefälles, gemindert durch den Widerstand
der Felsarten, der nach der Beschaffenheit des Gesteins örtlich
steigt oder fällt.') An allen Stellen, wo einen Flusslauf senkrecht
oder unter irgend einem Winkel eine härtere Felsmasse durch-
setzt, muss nothwendig eine Stauung der Erosion eintreten, die
sich innerhalb des Widerstandsgebietes, bei gleichzeitiger Einschnü-
rung durch Stromschnellen oder Wasserstürze, oberhalb durch eine
terrassenartige Ebnung der Thalsohle bei gleichzeitiger Erweiterung
verräth. Die Reuss zwischen der Teufelsbrücke und Amstäg zeigt
gegenwärtig dieses Verhalten nicht mehr, denn die Erosion schrei-
tet fast überall ziemlich gleichmässig fort, und daher senkt sich
auch die Poststrasse ohne Unterbrechung stark abwärts, allein auf
der andern Seite des Gotthards gewährt der Tessin treffliche Bei-
spiele von Thaleinschnürungen mit stürmischer Erosion und ter-
rassenartigen breiten Thalsohlen mit schwächerem Gefäll. Ist aber
zuletzt der harte Querriegel vor dem Flusslaufe durchgesägt, dann,
geht auch die Erosionspause für die oberhalb liegende zahme
Thalstrecke zur Neige, denn rasch schreitet dann die Stromschnelle
rückwärts oder aufwärts durch das weichere Gestein. Der präch-
tige Reussfall, der unter dem Bogen der Teufelsbrücke herabdon-
nert, rückt unmerklich, aber unablässig wie alle "Wasserfälle, rück-
wärts, und muss in einer geologisch nicht sehr fernen Zeit das
Urseren-Thal in eine Schlucht verwandeln. Beim Pfaftensprung
im Reussthal haben wir das Bild eines solchen Hergangs deutlich
vor uns, denn die Poststrasse führt über ein höher liegendes älteres
Rinnsal und überbrückt den Gebirgsstrom, der dort in die felsige
Thalstufe Sein enges Bett hineingetieft hat. Was hier im kleinen
i) Wenn E die Erosionsleistung, m die Menge des Wassers, f das Gefälle.
und w den Widerstand oder die Härte der Felsarten bedeutet, so erhalten
. .^ mf
vnr E = —
■3 0 2 Zur mathematischen und phy!^ischen Geographie.
in vergleichsweise ganz neuerer Zeit geschehen ist, das soll nun,
behauptet Rütimeyer, im grossen im ganzen Reussthale von jeher
sich wiederholt haben. Vom Urner See angefangen rückte die
Reuss allmälich weiter und weiter nach rückwärts , und schuf
allein das mächtige Querthal auf dem nördlichen Abfall der Gott-
hardstrasse. „Die Ausfurchung beginnt unter allen Umständen
jeweilen am Fusse des Gebirges, und die Thäler. so weit sie ein
Product des Wassers sind, wachsen also von hier rückwärts nach
dem Centrum." Rütimeyer will noch an den Felsabstürzen des
heutigen Reussthaies einzelne verschonte Reste von ehemals höhe-
ren Thalsohlen erkennen, wovon die höchsten jetzt 1500' über dem
heutigen örtlichen Stromspiegel sichtbar wären.
Nun wird niemand leugnen wollen, dass das Stammthal der
Reuss und seine Nebenarme, wie sie jetzt vor uns liegen, grossen-
theils ein Werk der Reuss sind. Befindet man sich im Thale
selbst, so zeigt alles den Verlauf, wie ihn ein x\usfurchungshergang
voraussetzt, sobald wir aber Fluelen erreichen, stehen wir an der
Grenze der Erosion, es beginnt vielmehr der Gegensatz, nämlich
die Aufschüttung von Geröllmassen in den Vierwaldstätter See,
Das Reussthal setzt sich aber durch diesen fort , wenn auch nur
als Urner See, und, wie Rütimeyer uns überzeugt hat, über die
Landenge zwischen Schwyz und Art nach dem Zuger See , dem
ehemaligen Ab- und Ausfiuss der Reuss. Der Vierwaldstätter See
.ist nun gewiss ein Thal wie das Reussthal, aber das Fallen der
Schichten, welches fast bei jedem Bergstock an seinen Ufern sich
ändert, zeigt deutlich, dass dieses Seebecken nicht durch Erosion,
sondern durch Hebung und Senkung entstand. Auf der italieni-
schen Seite der Alpen haben wir endlich Seen, die sämmtlich mit
ihren Sohlen unter den Meeresspiegel herabreichen, die also nie
von Süssw asser ausgefurcht, sondern durch Hebung aufgespalten
worden sind, ja diese Spalten öffnen sich nicht einmal sämmtlich
nach dem ehemaligen lombardischen Meere, sondern der westliche
Schenkel des Comer Sees schliesst als blinder Zipfel und ist durch
den Höhenrücken bei Camerlata völlig von der Po-Ebene ab-
gedämmt. Freilich hat sich diess ein so gründlich forschender
Gelehrter wie Rütimeyer längst gesagt. Doch lässt er die italieni-
schen Seen fast gänzlich aus dem Spiele, behauptet aber dafür,
dass die vormals vereinigten Urner und Zuger Seen zunächst durch
Auswaschung der Reuss entstanden seien. Dann lässt er durch
Thäler und Seen in den Schweizer Alpen. -503
eine Senkung plötzlich ihre Sohlen auf ihre heutige Tiefe (1200';
erniedrigt werden, und verstopft den Ausgang und den untern
Lauf des Thaies wieder durch neue Anschwemmungen jüngerer
Bildung. Eine Hypothese, die eine andere und eine zweite Hy-
pothese zu Hülfe rufen muss, sollte, zufolge einer bekannten gol-
denen Regel, aber nie ausgesprochen werden.
Die andere Ansicht, welche wir vertreten, besteht darin, dass,
sowie sich durch Faltung des Bodens an der Längsaxe der Ge-
birge die Längenthäler bilden, zugleich mit der Hebung auch
Querrisse eintreten müssen, die den gehobenen Boden in prisma-
tische Stücke zersprengen. Diese Querrisse findet das Wasser vor
und auf ihnen erfolgt die Erosion mit ausserordentlicher Geschwin-
digkeit, so dass die Querthäler erster Ordnung sämmtlich mit die-
sen Spalten gegeben waren , während die jetzt noch vorhandenen
einzelnen nicht gänzHch zugeschütteten Seestrecken als Urkunden
zurückgeblieben sind, unter denen die italienischen Seen, deren
Sohle bis unter den heutigen Meeresspiegel herabreicht, unzwei-
deutig, ja unwiderlegbar diesen Hergang uns bezeugen.
Gestützt wird diese Ansicht ferner dadurch , dass wir in den
Alpen nur sehr wenige Querthäler erster Ordnung (Linth, Reuss,
obere Aare und Kander) aufzählen können, unter denen die Reuss
für ihre Thalfurchung just die allerschwierigste, nämlich die aller-
breiteste Anschwellung der Alpen sich ausgesucht haben würde.
In welcher Art die Erosion an einem Abhang theoretisch statt-
zufinden hat, lehren die Kratermäntel der Vulkane, und die Insel
Tahiti ist das beste Beispiel einer regelrechten Auswaschung, da
in ihren ehemahgen Feuerkegel speichenförmig die Thäler eingenagt
worden, und nur noch als Zwischenwände Gerippe stehen geblie-
ben sind. Wären die Thäler in den Alpen nur Werke der Ero-
sion, so müssten sie wie auf Tahiti an den Abhängen in gleichen,
sehr kurzen Zwischenräumen sich folgen, und alle, die das Centrum
erreicht hätten, an Mächtigkeit sich nahe kommen. Sie müssten
also die Alpen mit einer Mehrzahl von schmalen Querrinnen
eingefurcht haben. Diess findet jedoch nicht statt, sondern wir
haben nur wenige Stammthäler und zwischen ihnen ganz unbe-
deutende Wasserläufe. Wohl zu beachten ist ferner gerade bei
der Reuss, dass dieser Strom bis Amstäg nur von links mächtige
Nebengewässer empfängt. Dadurch wird uns angedeutet, dass
selbst die Bildung der Seitenthäler durch die orographischen Ver-
204 '""•' mathematischen und physischen Geographie.
hältnisse beherrscht worden sei. So ist das Meyenthal der Reuss,
welches über den Sustenpass nach dem Gadmenthal des Aar-
gebietes sich fortsetzt, ganz sicherlich ein Längenthal der Alpen,
da es der Faltungs- oder Hebungsaxe der Alpen parallel läuft.
Uebrigens leugnet Rütimeyer keineswegs, dass die Richtung der
Thäler abhänge von dem Streichen der Gebirgskette, insofern die
Schichtenstellung , sowie die Zerklüftung in Beziehung stehen
müssen zur Erhebungsaxe, das heisst also mit andern Worten
doch nur , dass die Richtungen , welche die Erosion einschlägt,
immer schon gegeben waren durch den inneren Gebirgsbau also
durch orographische Grundzüge.
Sind wir auch nicht von Rütimeyer zur Lehre von der Aus-
furchung des Reussthaies bekehrt worden, hat sich vielmehr die
Ueberzeugung in uns nur stärker befestigt, dasa die Querthäler
ersten Ranges in den Alpen mit der Hebung des Gebirges ent-
standen seien , so lasse sich doch desswegen niemand abhalten,
die treffliche, auf jeder Seite durch Neues belehrende oder das Alte
neu bestätigende Schrift des Basler Anatomen eifrig zu studiren,
zumal der Verfasser am Schluss (S. in) bekennt, dass er seine
Ansicht ,, keineswegs für vollauf erwiesen" betrachte , sondern
,,seiiie Aufstellung eher einen Gesichtspunkt als eine factische
Erklärung nennen möchte."
11. Die Naturgesetze der Verbreitung des
Goldes auf der Erde.
(Ausland 1863. Nr. 9. 25. Febr.)
Das goldene Zeitalter, in welchem wir jetzt leben, begann mit
der Entdeckung des californischen Goldschuttes im Jahre 1847.
Ausser in Californien ist seitdem auf nicht weniger als sechs ver-
schiedenen andern Gebieten, und seltsamerweise in lauter britischen
Colonien, Gold gefunden worden. Wir werden zeigen, dass damit
die Reihe der golderzeugenden Länder noch nicht geschlossen ist,
dass man sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit noch andere Punkte
bezeichnen kann , wo sich Gold finden muss , denn wir dürfen
nicht vergessen, dass die Wissenschaft die Anwesenheit von Gold
in Australien vorausverkündigt hat. Auf Sir Roderik Murchisons
Rath begaben sich ja bekanntlich cornische Bergleute 1850 nach
Australien, weil ihnen der grosse Geolog das Auffinden von Gold-
schutt dort verheissen hatte. Jene sechs neuen Goldgebiete sind :
i) Neu-Süd-Wales ; 2) Victoria ; 3) Queensland auf dem australischen
Festland, wozu auch noch Tasmanien gezählt werden kann;
4) Neu-Seeland; 5) Britisch Columbien ; 6) Neu-Schottland. Die
Goldfelder dieser letzteren Insel bilden eine vereinzelte Erscheinung
und gehören nicht in den Kreis unserer Beobachtungen, denen ein
interessanter Essay der Edinburgh Review (Goldfields and Gold-
miners) zu Grunde liegt.
Nun ist offenbar — räumlich schon — ein Zusammenhang
zwischen den Goldfeldern Queenslands '), Neu-Süd-Wales, Victoria's,
i) Da, wo der südliche Wendekreis das Festland schneidet, liegt das Gold-
feld Canuna, welches 1857 entdeckt wurde, und bis jetzt als der nördlichste
Punkt der Verbreitung des Goldes in Australien betrachtet wird.
Peschel, Abhandlungen. II. 20
-To5 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Tasmaniens und Neu-Seelands nicht zu verkennen, aber auch
die Goldfelder Californiens und des benachbarten Britisch Colum-
biens stehen nicht bloss unter sich, sondern auch zu dem austra-
lischen Goldstrich in gewisser Beziehung , und nicht bloss zu
diesem, sondern zum ganzen Bau der Erdveste auf der andern
Halbkugel der Erde. Jeder Laie weiss, dass die neue Welt von
einer fortlaufenden, selten unterbrochenen, einfach, doppelt, drei-
fach und mehrfach gegliederten Bodenanschwellung vorwaltend in
der Richtung von Nord nach Süd durchstrichen wird, die wir die
Cordilleren, in Südamerika die Anden nennen. In und an dieser
Kette wird seit Jahrhunderten , in Chili , Bolivia , Peru , Ecuador,
Neu-Granada, Mexico, CaHfornien, Oregon, Washington bis Britisch
Columbia Gold gefunden, Granit aber bildet in der ganzen Längen-
ausdehnung dieser Kette den Kern der Achse. Sie setzt sich
auch in den Granitinseln der patagonischen Küste noch bis Cap
Hom, und am andern Ende von der Vancouver Insel bis zur See
von Kamtschatka fort. Bei gewissen Flutherscheinungen wird an
die californischen Küsten von den Wellen ein blauer Sand an-
gespült, welcher Gold in nicht verächtlichen Mengen enthält und
durch die sogenannten Strandwäschereien (beach diggings) aus-
gebeutet wird. Daraus darf man schliessen, dass der Gold-
schutt sich auch noch eine Strecke weit in die See
hinein erstreckt. Zwischen den Küsten von Britisch Colum-
bien und den Felsengebirgen , dem nördlichen Gliede der Cor-
dilleren , liegt ein breiter Streifen flachen Landes , gleichsam das
Glacis des grossen Gebirgswalles, und auf diesem Glacis befinden
sich die reichsten Goldlager. Nun nehmen die modernen Geo-
logen, und mit gutem Grunde, an, dass auch dermaleinst vor den
südamerikanischen Anden oder Cordilleren sich ein ähnliches
Glacis oder ein Küstensaum in das stille Meer hinein erstreckt
habe. Besässen wir irgend ein Mittel , die See dort durch un-
geheure Wasserbauten abzuschneiden und auszuschöpfen, so würde
dieser Boden uns Goldschuttländer gewähren wie Britisch Columbien
oder Californien.
Sir Roderik Murchison hat ferner bewiesen, dass alle gold-
führenden Felsarten aus dem silurischen Zeitalter stammen. Nun
wissen wir alle, dass die silurischen Felsarten zu den paläozoischen
Gebilden gehören, und zwar zu den ältesten paläozoischen Gebilden,
Die Naturgesetze der Verbreitung des Goldes auf der Erde. ^o?
ZU jenen Steinschichtungen , in welchen man die frühesten Ver-
steinerungen organischer Wesen antrifift. Gold hat sich in keinem
geschichteten Gestein der secundären und der tertiären Epoclie
gefunden, sondern nur in krystallinischen, in paläozoischen Fels-
arten und in dem Schutt solcher Felsarten, der sich in dem plio-
cenen Bildungsabschnitt der tertiären Zeiten ansammelte. Dess-
wegen kann man mit der grössten Zuversicht behaupten, dass sich
Gold nur an sehr wenigen bevorzugten Stellen der Erdoberfläche
finden wird , wo Felsarten jener geologischen Zeitabschnitte an-
getroffen werden. Nicht nothwendig ist aber, dass, wo man sie
antrifift, Gold auch stets vorhanden sein müsse. Felsarten gleichen
Alters, wie der Gneiss in Skandinavien und Schottland, der lauren-
tianische und huronische des amerikanischen Festlandes, der cam-
brische in England enthalten kein Gold. Das Zeitalter des Goldes
war eine der ältesten , wenn auch nicht die älteste geologische
Periode unseres Erdballes. Am häufigsten trifft man das Gold
in Quarzadern , welche metamorphische silurische Schiefer und
gewöhnlich die untern silurischen Lager durchziehen : häufig gerade
da, wo diese auf den Eruptivgesteinen aufliegen.
Die goldtragenden Küstengebirge Austrahens laufen eben-
falls von Nord nach Süd, von der Nordspitze des Fest-
landes bis zu seiner Südspitze, um unter der Bassstrasse hindurch-
zulaufen und in Tasmanien noch einmal ans Licht zu treten.
Gegen Norden erstrecken sie sich bis zur Spitze der Yorkhalb-
insel, setzen dann als eine Inselkette der nämlichen Felsarten über
die Torresstrasse und landen endhch auf Neu-Guinea, wo sie für uns
in dieser terra incognita verloren gehen. Gilt irgendwo eine Ana-
logie, wie sie sich durch Murchisons Voraussagung in Australien
bewährt hat, so muss auch Neu-Guinea Goldschutt bergen. Weit
im Norden von Neu-Guinea tauchen die Spitzen dieser Kette
abermals in den Ladronen oder Marianen auf, und von diesen
gelangen wir über die Jardines-, Lobos- und Boningruppe nach
den japanesischen Inseln, die bekanntlich sehr reiche Goldminen
besitzen, so zwar, dass eine Zeitlang Silber in Japan an Werth dem
Golde gleich geschätzt wurde. Die Kette setzt sich dann fort
nach Kamtscfiatka und scheint durch den Kranz der Aleuteninseln
mit den nördlichen Ausläufern Amerika's in Verbindung zu stehen.
Auf diesem Gebirgskranz oder parallel mit ihm, in grösserem oder
20*
TQg Zur mathematischen und physischen Geographie.
geringerem x\bstand, zieht sich an den Rändern der Südsee ein
vulkanischer Ring herum, der am Nordpol durch die Aleuten fest
zusammengeknüpft ist und dem wir bis an die Küsten des Süd-
polarlandes, aber nicht weiter folgen können. Sieben Achtel
sämmtUcher bis jetzt bekannter feuerspeiender Berge der Erde
liegen auf diesem Ring und seinen Abzweigungen vertheilt. Nimmt
man an, wie es freilich in neuerer Zeit vielfach wieder bezweifelt
wird, dass die Erde einen feuerflüssigen Kern mit einer erstarrten
oder erkalteten Rinde besitzt , dass die Vulkane die sichtbaren
Reactionen des heissen Erdinnern gegen seine Oberfläche bilden,
wie sich A. v. Humboldt ausdrückt, dass diese Reactionen nur
möglich sind, wo Risse in der erkalteten Erdrinde entstanden sind,
so haben wir uns in diesem Vulkanring einen grossen Spalt von
dem Umfang beinahe einer Erdhälfte zu denken. An diesem
Ring liegen (von Neu-Schottland stets abgesehen) alle modernen
Goldfelder.
Hr. Julian Woods , Verfasser einer Geologie des südlichen
Australiens , weist nach , dass sich vom Berg Gambier an der
Ostgränze der Colonie Victoria bis nach Geelong, 262 engl. Meilen
lang, ein altes vulkanisches Gebiet, ein ,, ehemaliger unterseeischer
Feuersee" ausgebreitet habe, jetzt noch kenntlich an den aus-
gebrochenen Trappfelsen und vielen erloschenen Kratern. Unter
diesen Trappüberschwemmungen trifft man auf die silurischen
Schiefer, welche die grossen Goldreichthümer bergen, und die
silurischen Gesteine ruhen wieder unmittelbar auf den Graniten.
Versetzen wir uns nun in das geologische Zeitalter des Goldes
zurück, so haben wir uns die silurischen Felsen als bereits gebildet
zu denken, durchzogen von mehr oder weniger goldhaltigen Quarz-
adern. Diese silurischen Felsen waren, wie noch jetzt alle alten
oder jungen Felsen, den zerstörenden Kräften des Luftkreises aus-
gesetzt. Sie verwitterten und zerbröckelten samnit ihren gold-
führenden Quarzadern. Das Gold wurde also theihveis befreit und
sammt den einschliessenden Felsarten von den silurischen Bächen,
Wildwassern und Flüssen hinweggeschwemmt. Diese Flüsse
schnitten, wie noch jetzt unsere Flüsse thun , ihre Betten tief in
die Felsen und in das Erdreich des postsilurischeh Australiens
hinein, und auf diesen Betten breiteten sie den Goldschutt aus.
Nach dieser Arbeit der meteorologischen Kräfte erlitten jene Gold-
Die Naturgesetze der Verbreitung des Goldes auf der Erde.
309
bäche eine Ueberschwemmung von Trapj^laven, welche sie mehr
oder weniger ausfüllten. Durch ' die Trappschichten muss also
der Bergmann hinabsteigen, bis er das vergrabene Bett der silu-
rischen Goldbäche erreicht. Er ist dann höchlich erstaunt, wenn
er sich durch den „blauen Stein" (Trapp) hindurchgearbeitet hat,
unter dieser Felsart abgerundete Kiesel und selbst Baumreste an-
zutreffen. Sobald er auf sie stösst, befindet er sich aber am rich-
tigen Ort; er hat das Bett eines silurischen Goldbaches erreicht.
So ist beispielsweise die reichste Goldmine ganz Australiens bei
Creswicks Creek nichts anderes als das mit jüngeren Bildungen
ausgefüllte Bett eines paläozoischen Goldbaches.
Wem diese Verhältnisse klar sind, der wird auch verstehen,
dass es in Australien vorzüglich zweierlei Arten des Goldbergbaues
giebt, nämlich entweder das Ausbeuten der aus silurischer Zeit
noch unangetasteten Quarzadem, oder das Verfolgen der ehe-
maligen überschütteten Goldbäche der silurischen oder vielmehr
postsilurischen Epoche. Der Hauptsitz dieser letzteren Art der
Goldgewinnung liegt in der Nähe von Ballarat, einer Stadt, die
erst in den letzten sechs bis sieben Jahren aufgewachsen ist. Die
Einwohner von Ballarat, obgleich nicht selbst Bergleute, sind doch
bei allen Goldgruben als Actionäre betheiligt, denn das Gold-
schürfen kann in Australien nur mit Hülfe grosser Capitalien be-
trieben werden.
Seltene Fälle abgerechnet, gelangt man zum Gold nur, wenn
man 3 — 400 Fuss tief gräbt. Die Unterlage der Goldseifen bildet
ein weicher Thonschiefer oder Pfeifenthon. Auf dieser Flur findet
sich die goldführende Schicht oder das Waschgut ausgebreitet, und
zwar nicht etwa fleckenweise, sondern in fortlaufenden Canälen
oder Bächen (,,leads"). Es giebt allerdings auch Goldlager, die
sehr seicht unter der Oberfläche liegen und die man als die Betten
ehemaliger goldführenden Seen und Sümpfe betrachtet; die tiefen
Goldlager aber stammen alle von vorweltlichen Flüssen her, deren
Lauf sehr oft gekrümmt war, und die namentlich gern sich spal-
teten, um sich später wieder zu vereinigen, wozu noch jetzt alle
austraUschen Flüsse eine vorwiegende Neigung besitzen. Ihre
Betten wurden, wie wir oben bemerkten, von verschiedenen
Eruptionsheerden aus mit geschmolzenen Basalten ausgefüllt. Bei
Ballarat sind diese Lavadecken gewöhnlich 6 — 10 Fuss mächtig
ojQ Zur mathematischen uud physischen Geographie.
und liegen bisweilen nur ein paar Zoll über dem Goldschutt^ bis-
weilen aber auch loo und 200 Fuss höher, indem sich zwischen
die Goldseifen und die Laven andere nicht goldführende Schichten
— Sand, Kiesel und Felsentrümmer — abgelagert haben. Als jene
flüssigen Laven zu dem sogenannten Blausteine abgekühlt waren,
der in den Colonien als Baumaterial sehr geschätzt ist, wurden
auch sie wiederum von anderem Schwemm- und Schuttland über-
deckt, ja es kommt vor, dass man 4 — 6 solcher Basaltlager und
dazwischen liegende Schichten durchbohren muss, ehe man das
Gold erreicht.
Da die Gegenwart der unterirdischen Goldbäche sich durch
nichts an der Oberfläche verräth, so würde das Goldsuchen in
Australien zu den gewagtesten Unternehmungen gehören, wenn
nicht eine gesetzliche Anordnung es erleichterte, welche genau auf
die bergmännische Erfahrung und die geologischen Verhältnisse
gegründet ist. Man bezeichnet sie kurzweg als das Frontage-
System. Hat nämlich irgend ein Glücklicher, gewöhnlich wohl an
einer seichten Stelle, einen Goldbach erreicht, so muss er den
Fund bei dem Grubenaufseher sogleich anzeigen, wenn er nicht
seinen Finderlohn verheren will, der in Belehnung mit einem er-
weiterten Ausbeutungsbezirk — extended claim — besteht. Je
tiefer nämUch seine Schacht und je mehr Bergleute bei seinem
Unternehmen beschäftigt waren, desto grösser wird der Bezirk des
Fundes ausgemessen, d. h. er darf dem Goldbach unter der Erde
so und so viel Fuss folgen. Sogleich bildet sich nun eine zweite
Gesellschaft und lässt sich mit dem Bezirk (claim) Nr. 2 belehnen.
Nach ihr kommt der Reihe nach Nr. 3 und so fort, bis oft 50,
ja IOC Gesellschaften „protokollirt" worden sind. Da wo die
Gränzen der ersten Finder aufhören, beginnt der Bezirk Nr. 2.^)
Dieser erstreckt sich je nach der Tiefe der Schachte so und so
viel Fuss in gerader Linie von den letzten Gränzen, er schneidet
also ein Stück von dem Bache wieder ab , breitet sich aber nach
rechts und links ins Unbegränzte aus. Da die Kosten des Schacht-
grabens sehr bedeutend sind und man nicht wissen kann , wohin
der Goldbach seine Richtung nimmt, so werden die jn-otokollirten
i) Da man oberhalb und unterhalb arbeiten kann, so werden wahrschein
lieh Nr. 2 und Nr. 3 gleichzeitig in Angriff genonnnen.
Die Naturgesetze der Verbreitung des Goldes auf der Erde. -^n
Nachbarn immer warten müssen, bis ihre Vordermänner Gold ge-
funden haben, welches diese sogleich durch Aufziehen einer Flagge
über dem Mund des Schachtes anzeigen müssen. So folgt man
dem Goldbache von Strecke zu Strecke, und bei diesem Verfahren
werden Generationen noch vergehen, ehe die australische Gold-
beute erschöpft sein wird. Hat der Vordermann Gold gefunden,
so geht die nächste Gesellschaft dann nicht blind an's Werk. Man
sondirt vielmehr mit eisernen Bolzen, bis man auf Basaltlager
stösst. Hat man diese gefunden, so kann man mit ziemlicher
Sicherheit vermuthen, dass man sich über dem Bette eines post-
silurischen Goldbaches befindet. So lange man durch Sand und
Kies zu graben hat, genügt eine Schaufel, ein Kübel, ein Flaschen-
zug und ein Karren, um das ausgehobene Erdreich hinwegzufahren.
Wenn man aber zum Basalt kommt, muss man mit Hammer und
Meisel arbeiten und mit Pulver sprengen. Erst nachdem man
aber etliche solcher Basaltschichten durchstochen hat, beginnt der
grosse Geldaufwand. Es brechen nämlich von allen Seiten Wasser
in die Grube, welche von Maschinen ausgepumpt werden müssen.
Um aber das fortwährende Eindringen des Wassers abzuhalten,
muss der Schacht mit starken Dielen von blauem Gummiholz,
welches so schwer ist wie Eisen, wasserdicht verkleidet werden.
So dauert es drei, vier, ja fünf Jahre, ehe der Goldschutt erreicht
wird, und oft genug müssen die Bergleute, überwältigt vom Wasser,
ihr Unternehmen noch vorher aufgeben. Hat man endlich das
Bett des Goldbaches erreicht, dann werden nach allen Compass-
richtungen Gallerien als Fühlfäden eröffnet, um zu erkunden, welche
neue Richtung etwa der Goldbach einschlage. Man sage sich
jetzt selbst, auf wie lange Zeit diese Art des Bergbaues noch fort-
gesetzt werden kann , da viele dieser Bäche , in einer Richtung
allein, 70 — 80 engl. Meilen Länge besitzen müssen.
Ganz verschieden davon ist eine andere Art der Goldausbeute,
wie sie in grossartiger Weise bei Bendigo (nördhch von Ballarat,
nordwestlich von Melbourne) betrieben wird. Bendigo war einst
ein seichtes Goldseifenfeld. Seine berühmte Wascherde, kaum
3 Fuss unter der Oberfläche, lieferte auf jeden Eimer so und so
viel Pfd. St. in Metall. Wo man aber diesen seichten Goldschutt
abgeräumt hatte, stiess man sogleich auf harte Felsarten. Der
Goldsumpf Bendigo's war bald erschöpft, jenseits seiner Ränder
-7X2 Zur mathematischen und physischen Geographie.
aber neigt sich die felsige Unterlage sehr schräg abwärts, und
dort beginnt sich der Goldschutt wieder in Goldbäche zu theilen,
die im Ballarater Style abgebaut werden. Nicht desswegen aber,
sondern wegen seiner Quarzmühlen ist Bendigo berühmt. Der
Bergmann greift hier nach dem noch unangetasteten Metall, er
sucht es in seiner uranfänglichen Lagerstätte auf, er zerstösst den
Quarz zu Pulver und wäscht ihn aus. Diese Vorarbeiten haben
bei den verschütteten Goldbächen die Gewässer der geologischen
Vorwelt bereits verrichtet. Sie leisteten dem Menschen die Dienste
der Quarzmühlen und besorgten auch theilweise das Auswaschen,
allerdings mit Verschwendung unfasslicher Zeiträume , innerhalb
welcher sie aber auch nichts zu versäumen hatten. Die silurischen
Felsen , die Urlagerstätten des Goldes , denke man sich gespalten
und die Spalten mit Quarz ausgefüllt. Solche Quarzadern oder
richtiger Quarzschichten, senken sich gewöhnlich scheitelrecht und
parallel mit den Schichtungen der einschliessenden Schiefer und
Sandsteine abwärts. Ihre Mächtigkeit schwankt von etlichen
Linien bis zu 30, ja selbst 50 Fuss. In senkrechter Richtung hat
man ihre Ausdehnung noch nie begränzt gefunden, in horizontaler
vermuthet man sie so lang wie das Gebiet der goldführenden
Gebirge, länger als 6 — 8 engl. Meilen hat man jedoch bis jetzt
noch keine Quarzschicht verfolgt. Ihr Metallreichdium ist höchst
verschieden. Bisweilen liefert nur die obere Lage Gold, bisweilen
rauss man 100, ja 200 Fuss tief hinabgehen, ehe man Gold findet,
noch öfters findet man längs einer Ader gar nichts. Da man in
Californien mit Vortheil Quarz ausbeutet, auch wenn er nur
V^iooojooo Gold enthält, so können auch die ärmsten Quarzadern
noch abgebaut werden. Die grosse Streitfrage zwischen Geologen
und Bergleuten in Australien besteht aber darin, ob die Quarz-
schicht im Durchschnitt mit wachsender Tiefe ärmer an Gold werde
oder nicht. Sir Roderik Murchison hat lange geschwankt, und
es scheint auch wirklich sehr schwierig, sich zu entscheiden.
Hr. Selwyn, der amtliche Geolog Victoria's, überzeugte sich jedoch
am Schlüsse vieljähriger Erfahrungen, dass allerdings mit wachsen-
der Tiefe der Grube die Aussichten im Durchschnitt geringer werden.
Es fehlt aber nicht an einzelnen glänzenden Widerlegungen. Bei
den Gruben Mariners Reef und Poverty Reef wurde Gold erst
in 200 und 400 Fuss Tiefe gefunden. So verkaufte einst die Bo-
Die Naturgesetze der Verbreitung des Goldes auf der Erde. xi^
livia Reef Company für 1500 Pfd. St. eine Grube, welche 12,000
Pfd. St. gekostet und bei 150 Fuss Tiefe noch kein Gold geliefert
hatte. Die Käuferin , Ajax Mining Association geheissen , warb
Bergleute gegen Tantiemen (25 Procent der Ausbeute bei sehr
niederm Arbeitslohn), und diese hatten nach zehn Wochen schon
allein an Gewinnprocenten 10,000 Pfd. St. verdient. Das erste
Gold war nämlich bei 170 Fuss Tiefe gefunden worden und
setzte sich bis auf 500 Fuss Tiefe fort, wo die- Quarze noch
immer sechs Unzen Gold per Tonne (20 Centner) lieferten.
12. Die Alpenreisen als geistiges
Bildungsmittel.
(Aus einem Vortrag, gehalten zur Eröffnung der deutschen Alpen-
vereinssection Augsburg.)
(Ausland 1869. Nr. 35. 28. August.)
Wenn unsere würdigen Voreltern, unsere Urgrossväter aus
dem Jahr 1769, m welchem A. v. Humboldt geboren werden
sollte, welches den Dichter des Wilhelm Teil erst als zehnjährigen
Knaben und einen der frühesten Alpenwanderer, unsern Goethe
erst als zwanzigjährigen Jüngling kannte, auf unser heutiges ihnen
räthselhaftes Thun und Treiben herabschauen könnten, so würden
die milder Denkenden unter ihnen wahrscheinlich im stillen sich
sagen, dass ihre Enkel ausserordentlich viel überflüssige Zeit zu
verschwenden hätten. Die unendlich grösste Mehrzahl aller
Alpenwanderer [treibt nämlich nichts anderes, als die Begierde
nach einem ästhetischen LGenusse in die Gebirge. Dass der
Wohnort unseres Geschlechtes, nämlich die Erde, und auf der
Erde gewisse bevorzugte Räume mit Schönheit ausgestattet seien,
ist eine völlig moderne Entdeckung, und es sind noch nicht hun-
dert Jahre her, dass diese Entdeckung Popularität gewonnen hat.
Im Alterthum war wenig Sinn für die Naturreize vorhanden, und
wo er sich regte, wurde das Meer und die Uferlandschaften, es
wurden heitere sanft aufgeschlossene Gefilde, das Gefällige, nicht
das Grossartige gepriesen, ja gerade das Hochgebirge als eine ab-
stossende und schreckenerregende Einöde geschildert und gern
gemieden. So blieb es auch im Mittelalter und noch manche
Jahrhunderte später. Der wackere Sebastian Münster (erste Hälfte
Die Alpenreisen als geistiges Bildungsmittel. -j j z.
des x6. Jahrhunderts), der in die deutsche Schrittsprache zuerst
das Wort Gletscher eingeführt hat, schildert eines der erhabensten
schweizerischen Thäler, nämlich die Taminaschlucht beim Bade
Pfäffers , mit den Worten: „sie sei von hohen und grausamen
Felsen beschlossen", und als er auf dem Gemmipass steht, fühlt
er sich „bis in die Knochen und das Herz erzittern."
Auch bei Johann Jakob Scheuchzer (am Anfang des 1 8. Jahr-
hunderts), dem ersten, der das Barometer zu Höhenmessungen in
die Schweizer Gebirge trug, freilich ehe noch eine genügende
Formel der Ableitung der Höhen aus dem verminderten Luftdruck
vorhanden war, suchen wir vergebens nach Ausbrüchen der Be-
geisterung für Alpenschönheiten. Selbst noch im Jahr 1813 zog
der berühmte schwedische Botaniker Wahlenberg Vergleiche zwi-
schen der Schweiz und dem schwedischen Norden, die gegen-
wärtig für uns fast unverständlich klingen. „Wenn man, sagt er,
von den lappländischen Alpen herabsteigt, umfängt uns ein hei-
terer Birkenwald mit freundlich nickenden Wipfeln. Zu tausenden
tanzen und schwärmen Mücken und Bienen, hüpfen gesellige Ren-
thiere im Lichte der nicht mehr untertauchenden Sonne, die eine
unvergleichliche Lebenslust verbreitet. In der Schweiz dagegen
beschattet uns ein düsterer Fichtenwald, der seine schwärzlichen
Pyramiden hinaufsendet über fette Triften, wo die Alpenrinder
ihren Rücken und unbeweglichen Nacken geduldig dem Regen
und Hagel preisgeben, während aus dunkler Wolke Blitz auf Blitz
niederschmettert, und wo wir uns vergebens umschauen nach ge-
schäftigen Bienen und dem Reigen der Mücken. Die Natur hat
überall dort ein strengeres aber dauerhafteres Gewand angelegt".
Der Sinn für Naturreize erwachte erst in der zweiten Hälfte'
des vorigen Jahrhunderts. Die Schilderungen von Georg Forster,
der mit seinem viel seltener genannten und doch wissenschaftlich
bedeutenderen Vater Johann Reinhold, den Entdecker Cook auf
der zweiten Erdumsegelung begleitete, waren es, welche bei A. v.
Humboldt die Sehnsucht nach fernen Weltgegenden entzündete.
Gleichzeitig mit Georg Forster hat Goethe unserm Volke das
Auge für Grösse und Erhabenheit in der Natur geöffnet. Das Thal
von Chamounix war erst 1741 von den Engländern Windham
und Pococke das erstemal zu wissenschaftlichen Zwecken besucht
worden , und wurde , als es Goethe 1779 durchwanderte , noch,
ziemlich selten berülut. Das einmal erweckte Entzücken an der
2 1 6 Zur mathematisehen und physischen Geographie.
Natur ergriff auch Schiller, der in seinem Wilhelm Teil die Schweiz
abgesehen von einigen Missgriffen, nach Hörensagen überraschend
richtig geschildert hat. Wie wenig Verständniss und Liebe für den
■ästhetischen Naturgenuss noch vor loo Jahren vorhanden war,
lehrt uns eine Musterung aller Gallerien. Die Meister früherer
Jahrhunderte haben keine Landschaften gehefert, oder höchstens
als gedämpften Hintergrund für die Gegenstände ihrer Wahl be-
nutzt, und die ersten Gemälde, welche etwas anderes darstellen,
als bibhsche Scenen, Thaten des Alterthums , Schlachten oder
Stillleben, sind Seeuferstücke oder Haine. Ein Calame oder Rott-
mann hätten wahrscheinlich vor hundert Jahren noch wenig Käu-
fer gefunden.
Jetzt ist die Alpenwelt ein veredelndes Erbauungsbuch gewor-
den , und zwar für das gesammte Volk , meistens zum Verdruss
gerade der eifrigen Alpenfreunde, welche die vormalige Stille ihrer
Lieblingsthäler mit innerem Ingrimm entweiht glauben durch einen
geschwätzigen Schwärm Zerstreuung suchender Touristen. Erwä-
gen wir aber billig, welches unschätzbare Bildungsmittel uns selbst
die Gebirgsreisen geworden sind, so können wir uns nur freuen,
dass jeder Tag im Juli, August und September allein in die
Schweiz Tausende von Fremden herbeiführt. Unter diesen Tau-
senden von Fremden befinden sich zahllose Bewohner des flachen
Nordens, die unter knappen Verhältnissen eine Reihe von Jahren
Thaler zu Thaler sparen müssen, um den heissen Lebenswunsch,
die erste Alpenreise, erfüllt zu sehen. Bemerken wir wohl, welcher
grosse sittliche Hebel mit dem Erwachen so reiner Begierden für
unsere Nation gegeben ist, und wie armselig uns die Geschlechter
des vorigen Jahrhunderts erscheinen, die jenen Genuss nicht
kannten und jenen veredelnden Antrieben nicht folgten.
Die höchste Befriedigung gewährt aber dem Landschaftkenner
nur das Hochgebirge. Wenn auch nicht ausschliesslich , doch
immer vorzugsweise, sind die schroffen Aufrichtungen nur den
grösseren und den jugendlichen Gebirgen, wie unsern Alpen, eigen.
Von dieser Schroffheit und von dem geologischen Bau hängt der
prachtvolle Wechsel der Linien ab , die vielfachen Verbiegungen
der ehemals horizontalen Schichten, und die senkrechten Zerklüf-
tungen, welche die Verwitterungen der Kämme, die Felsspalten,
die Schluchten und viele Thalbildungen herbeigeführt haben. In
diesem Sinne besitzen die Alpen grosse Vorzüge vor den Pyre-
Die Alpenreisen als geistiges Bildungsmittel. ^IJ
näen, denn die sogenannte mittlere Kammlinie, die aus der Höhe
der Pässe abgeleitet wird, beträgt bei den Pyrenäen zwar 7500,
bei den Alpen 7200 Fuss, die höchsten Gipfel dagegen bei den
Pyrenäen 10,212 und bei den Alpen 14,809 Fuss. Diese Ziffern,
welche A. v. Humboldt eingeführt hat , belehren uns , dass die
Pässe in den Alpen auf der halben Höhe der Gipfel, in den Py-
renäen nur auf zwei Drittel liegen, folglich in den Alpen die
Umrisse viel jäher auf- und absteigen als in den Pyrenäen. Eine
Eigenthümlichkeit haben die Pyrenäen, die in den Alpen fehlt oder
von der bis jetzt nur Anfange sich zeigen, nämlich die circusarti-
gen Thäler, die, als Halbrund aufgeschlossen , überall von jähen
Wänden umgeben sind.
Der höchse Reiz der Alpennatur wird wohl immer darin ge-
sucht werden, dass sie, übereinander als Stockwerke geordnet uns
gleichzeitig die Jahreszeiten in Reihenfolge zeigt, dass wir vom
sonnigen Thal aus Obstrevieren, Nussbäumen und edlen Castanien
nach den Höhen schauen, die nur ein weicher Teppich kurzer
Alpenkräuter bedeckt, und wo erst im September die Erdbeeren
reifen, so dass der Cyclus des Jahres nur im Winter und im Früh-
jahr besteht, wie im hohen Norden der Erde, während über ihnen
höher ein ewiger Winter herrscht, der Winter in seiner anmuthig-
sten Form, als reines Schneefeld die starren Höhen überkleidend,
oder rauhe Abhänge mit malerischen Tupfen zierend, oder als
Ader und Netzwerk in Felsenrinnen bis zu den grünen Matten
im Bergschatten herabzuckend.
Ein Gebirge, dem die Schneehäupter fehlen, kann lieblich
und anmuthig sein, der Alpenfreund wird aber immer den Stempel
des Erhabenen vermissen. Prismatisch reine Farben kommen in
der Landschaft nicht vor oder höchstens in den Lufttönen, nur
wenn der Schnee vom Safranlicht der Sonne erwärmt, oder zuletzt
sanft geröthet wird und daneben die blauen Schatten stärker wir-
ken, erhalten wir auch ziemhch unvermischte Brechungen des
Lichtes in der Landschaft. Die viel gepriesenen schottischen
Hochlande, obgleich einige Gipfel wenigstens in die Linie des aus-
dauernden Schnees hinaufragen, können einen Alpenkenner dess-
halb nicht lange fesseln, mit Ausnahme vielleicht der Küste vor
den Hebriden. Alles sonstige, wenn es auf unsern Wegen nach
den mittleren Ketten der Alpen läge , würde uns nicht zu einer
Stunde Aufenthalt verlocken , sondern wir würden , begierig
^ j 8 Zur mathematischen und physischen Geographie.
auf unser grosses Ziel, vorübereilen wie durch unsere Vor-
berge.
In Europa ist es vornehmlich Norwegen, welches die Natur-
freunde von den Alpen dann und wann abzieht. Die dortigen
Fjorde ersetzen unsere Seen, die Schneelinie ist im Hintergrunde
sichtbar, Gletscher reichen herab bis zum Spiegel der See , und
an schäumenden und donnernden Wasserstürzen hat Skandinavien
uns nicht zu beneiden. Achten wir aber auf das Urtheil eines
grossen Kenners unseres Gebirges, Karl Vogt, so weiss er vom
südlichen Norwegen nicht viel verführerisches zu sagen. Es ist
im Grunde nichts anderes, als eine grosse Felsentafel, die, am
Meer einseitig aufgerichtet, nach Schweden zu sanft abfällt. Die
Risse oder Schluchten in dieser Tafel sind die Fjorde , welche,
wie gesagt, unsere Gebirgsseen vertreten sollen. ,,Sie zeigen aber
denselben monotonen düsteren Charakter, den zwei fast senkrechte
Felswände ohne alle Modellirung ihrer Gehänge mit einer horizon-
talen Fläche als Grundlage nothwendig zeigen müssen." Sind
diese Wände erstiegen, so sieht man sich auf einer Terrassenebene,
wo Renthierzucht getrieben wird. ,,Man kann Tage lang dort zu
Pferd und zu Fuss herumirren , fährt Karl Vogt fort , ohne das
Auge an einem charakteristisch geformten Gipfel, an einer wahr-
haft malerischen Aussicht weiden zu können." Vogt vergleicht
das südliche Norwegen, was seine Oberflächenbildung betrifft, mit
dem Jura und der rauhen Alp, die wir alle kennen, aber ganz
sicherlich nicht zu einer Bergreise auserwählen werden. Grössere
Reize soll das nördliche Norwegen entfalten , obgleich wir uns
nicht erinnern, dass bei den Beschreibungen Leopold v. Buchs
oder Charles Martins' in uns eine besondere Sehnsucht nach der
Umgebung des Nordcaps erwacht wäre. Dazu kommt, dass sich
die Gebirgsreise dort in eine Kahnfahrt verwandelt, da die Küste
eben nur vom Meer aus zugänglich ist. Endlich wäre auch noch
das Wetter zu fürchten, denn wenn man nach Karl Vogts Erfah-
rungen in der Schweiz auf drei Marschtage einen Regentag in den
Kauf nehmen muss , so darf man in Norwegen auf drei Tage
immer zwei Regentage erwarten.
Im senkrechten Bau, in der Ausdehnung und der Breite der
Zone hat der Kaukasus viel Aehnlichkeit mit den Alpen. Erst
im vergangenen Jahre ist er das Ziel von Bergwanderern, und
seine beiden höchsten Gipfel, der Kasbeck und der Elbrus, letz-
Die Alpenreisen als geistiges Bildungsmittel. 310
terer 17,425 Fuss (pieds) hoch, von Engländern bestiegen worden.
;Mit der Zeit erst, wenn er öfters beschrieben und verglichen wor-
den ist, wird sich das Urtheil befestigen können, ob er an Schön-
heiten die Alpen übertrifft und worin seine eigenthümlichen Vor-
züge, die er gewiss besitzt, bestehen mögen.
Die Anden Südamerika' s sind noch niemals mit unsern Alpen
verghchen worden. Sie erheben sich sowohl von der Südsee wie
von dem Festlande aus sehr schroff, auf der Westseite am Meer
liegen trostlose Wüsten , auf der Ostseite ein dichter Wald. Der
breite Rücken des Gebirges sind aber Hochebenen, schon weit
der Waldgränze entrückt, auf denen als Ränder die zwei oft drei-
fachen Ketten aber ohne Baumwuchs im Vordergrunde aufgerich-
tet sind.
So wird denn unsern Alpen der höchste Preis von Gebirgs-
schönheit allein vom Himalaya bestritten. Er vereinigt vieles,
was wir in unsern Bergen nicht suchen dürfen. Dort liegt der
höchste Gipfel der Erde, der Gaurisankar, 29,002 Fuss (feet) oder
37,212 Fuss (pieds), so hoch beinahe, als wenn man sich die
Jungfrau auf den Montblanc gesetzt dächte. Dort sind auch schon
Höhen erstiegen worden, wo das Quecksilber im Barometer auf
14 Zoll (pouces) sank, der Luftdruck also nur eine halbe Atmo-
sphäre betrug. Am Fuss der Berge erstreckt sich eine tropische
Pflanzenwelt: Elephantengras, Bambusdickichte und wo es Wasser
giebt auch Palmenhaine. Auf luftigen Höhen finden wir eine
Anzahl der edelsten Ziergewächse aus der Familie der Rhododen-
dren, aber Strauch- und fast baumartig, so dass unsere Alpenrosen
nur kümmerlich jene Familie vertreten. Dort ist die Heimath der
sinnigsten, den Eindruck einer Persönlichkeit am meisten hervor-
rufenden, Baumgestalt aus der Famihe der Nadelhölzer, nämlich
der Deodara, von einer Libanonceder nur dann zu unterscheiden,
wenn die geschwisterlichen Formen dicht neben einander stehen.
AVer vollends mit den ästhetischen Genüssen einer Bergwanderung
das edle Waidwerk verknüpft, wird dort die höchste Aufregung
und den grössten Wechsel vereinigen können. Am Fusse des
Gebirges, im Dschengellande oder Terai lauern Bär und Panther,
Tiger und Nashorn. Höher hinauf zwischen den immergrünen
Eichen und Cedern, unter die sich die Rhododendren mischen,
mag er das Bergschaf, die Gemse und andere Antilopenarten be-
schleichen. Am oberen Rande der Baumgränze findet er den
^20 Zur mathematischen und physischen Geographie.
Ibex und noch höher das Schneeschaf, das Wildschaf, das Riesen-
schneeschaf, das Bergrind (Yak) und das Kijang oder Wildpferd
meist in Familien oder Heerden beisammen. Das Revier dieser
Thiere liegt so hoch wie der Montblancgipfel, und wenn der Waid-
mann rastet, oder auf dem Anschlag liegt, kann er sein Auge an
Eisgebirgen laben, deren Hörner meist über 20,000 Fuss messen,
während unter ihm in tief eingeschnittenen Thälern aus gewaltigen
Gletschern nicht als Bäche, sondern als wasserreiche Flüsse, der
Ganges oder die Dschamna hervorbrechen. Die Einöde jener
erhabenen Alpenthäler wäre vollkommen, wenn nicht dem Hindu
alle seine Ströme geheihgt wären, so dass sich in der Nähe ihres
Ursprungs immer Tempel und Wallfahrtsstätten befänden.
Mit indischen Erhabenheiten können sich freilich unsere Alpen
nicht messen, und es bliebe uns daher nichts übrig, als uns ein-
zugestehen, dass es noch weit schönere Gebirgswelten auf der Erde
gäbe als die unsrige, die wir an günstigen Tagen im Süden un-
serer Hochebene aufsteigen sehen , wenn wir uns nicht wieder
trösten könnten, dass wir etwas besitzen, was dem Himalaya fehlt.
Er hat keine Seen. Nur in einem wenig grossartigen Theile
des Himalaya liegt Kaschmir an einem See, ausserdem aber giebt
es nur kleine Becken, die wir Weiher nennen würden, nichts was
sich mit unsern Alpen-Meeren wie der Genfer- und der Bodensee,
nichts was sich mit den italienischen, was sich mit dem Vierwald-
stätter, dem Thuner, dem Wallenstätter, dem Achen-, dem Kö-
nigs- und dem Traun-See vergleichen könnte. Von Valparaiso
über Santiago de Chile führt ein vielbegangener Pass über die
Anden nach Mendoza, welches vor wenigen Jahren ein Erdbeben
gänzlich vernichtete. Ehe die Cumbre oder das Joch erreicht wird,
sieht man zur Linken in Schluchtentiefe einen kleinen, blanken,
schwarzen See. Die Eingebornen haben ihn das Auge des Inca
genannt. Und in der That, die Seen sind die Augen der Gebirgs-
welt, und Alpen ohne Seen sind uns blind wie Belisar.
Alpenseen finden sich nur im Felsengebirge Nordamerika' s,
jedoch nicht auf beiden Abhängen wie bei uns , sondern nur am
Abhänge nach dem stillen Meer zu. Die Felsengebirge werden
jetzt immer häufiger besucht, tmd so weit man aus Beschreibungen
und Gemälden sich ein Urtheil bilden kann, haben sie ungemein
viel landschaftliche Aehnlichkeit mit unserer Gebirgswelt. Es fehlt
ihnen nicht an Schneegipfeln , an Gletschern , an Wasserstürzen,
* Die Alpenreisen als geistiges Bildungsmittel. ^ 2 i
sie sind die Heimath der höchsten Bäume der Erde, der WelUng-
tonien, zu den Nadelhölzern zählend, aber emer eigenen Gattung
Sequoia angehörend. Noch deckt aber die Höhen und die Thäler
völlig geschlossener Wald, und wer eine lebendige Anschauung
unserer Alpenwelt zur Pfahlbauernzeit gewinnen will , der sollte
rasch die Felsengebirge besuchen, ehe die betriebsamen Yankee
allzuviel Sägemühlen errichtet haben werden.
Vor ethchen Jahren waren die Engländer eifrig bemüht, die
Frage zu lösen, warum es nur in den Alpen, nicht in den Pyre-
näen, nicht im Kaukasus und nicht im Himalaya Gebirgsseen gäbe.
Wilde geologische Träumereien wurden über den Ursprung dieser
Thalspalten veröffentlicht, und vor allem an die Eiszeit und ihre
Gletscher ganz unbillige Zumuthungen gestellt, nämlich das Aus-
pflügen jener Becken verschuldet zu haben, die auf italienischem
Gebiet mit ihrer Sohle nicht nur bis, sondern noch um 1000 und
mehr als 1000 Fuss unter den Meeresspiegel hinabreichen. Ueber
den Bau dieser Becken, die theilweise in hohlen Terrainfalten oder
Muiden, theils in senkrechten Klüften, theils in den tiefen Stellen
eingesunkener Felsmassen liegen, hat Desor uns den besten Auf-
schluss gegeben. Doch beantwortet er nicht die Frage, warum
in andern Gebirgen, denen doch weder Mulden, noch Spalten,
noch Comben fehlen, keine Seen sich finden. Und doch lässt sich
der Sachverhalt nicht schwer erklären. Die Seen, aus denen uns
das Spiegelbild der Gebirge entgegentritt, gehören zu seinen ver-
gänghchsten Reizen. Mögen sie völlig abgeschlossen liegen oder
von einem Fluss durchzogen werden, jedes Wasser, was ihnen zu
oder durch sie hindurchrinnt, jedes Gewitter, und jedes schmel-
zende Schneefeld führt Sand und Schutt in ihr Becken, und jeden
Tag vermindert sich, wenn auch unmerklich, der Rauminhalt dieser
Gefässe. Portus Valesiae lag zur Römerzeit noch am Genfer See,
jetzt schon eine Wegstunde landeinwärts. Schritte die Ausfüllung
jenes Beckens in gleichem Tempo fort, so würde die Trocken-
legung des Genfer Sees in 70,000 Jahren vollendet sein. Ein
solcher Zeitraum erscheint dem Laien freilich unfasslich gross,
allein die neuere Geologie hat uns an weit gewaltigere Ziffern ge-
wöhnt. Dass am Fusse der Alpen sehr viele Seen in historischen
Zeiten verschwunden sind, bezeugen uns viele bairische Ortsnamen.
Unsere Torfstiche und Moose erzählen uns ebenfalls von frühern
Zeiten, wo sich noch weit mehr stehende Wasser als gegenwärtig
Pcschel Abhandlungen. II. 21
322
Zur mathematischen und physischen Geographie.
in unserer nächsten Heimath ausbreiteten. Warum also die Alpen
und der westliche Abhang der Felsengebirge noch Seen besitzen,
und warum sie in den Pyrenäen, im Kaukasus und im Himalaya
fehlen, lässt sich nun leicht beantworten. Die Alpen und die
Felsengebirge haben noch nicht so viel Zeit gehabt, um alle jene
Seen auszufüllen und in glatte Thalebenen zu verwandeln. Wir
schliessen also daraus, dass die Alpen später aufgestiegen sind
als jene andern Gebirge, weil sie ihre Jugendreize sich noch er-
halten konnten. Was den Himalaya betrifft, könnten wir noch
hinzusetzen, dass er ^•ielleicht rascher gealtert sei als unsere Ge-
birge. Unter den Tropen ist der Kreislauf des Lebens im allge-
meinen viel schleuniger. Auf eine frühe Reife tritt ein frühes
Welken ein. Die Gewässer Indiens aber werden gefüllt von den
tropischen Monsiuiregen, die mit grosser Heftigkeit sich ergiessen
und weit mehr Schuttland herabführen, schon weil sie periodisch
eintreten. Selbst wenn auch der Himalaya sich in dem gleichen
Weltalter wie unsere Alpen aufgerichtet haben sollte, würden seine
Gewässer viel rascher die Thalspalten ausgefüllt haben als die
unsrigen. Geologisch gesprochen sind die Felsengebirge, der Hi-
malaya und die Alpen jugendliche Erhebungen der Erdoberfläche,
älter jedenfalls als die Pyrenäen und wahrscheinlich als der Kau-
kasus. Da nun die Gebirgsseen in unsern östlichen Alpen fehlen
und am häufigsten auftreten in der Schweiz, so würde die Yer-
muthung berechtigt erscheinen, dass die westlichen Alpen eine
jüngere Erhebung als die Ostalpen seien. Und wirklich bestätigt
auch die Geologie vollständig diese Annahme, denn die Hebung
stand in den Ostalpen viel früher still, als in den westhchen Alpen.
Unmerklich und fast unbeabsichtigt hat ims eine Zergliederung
der Naturreize auf das Gebiet der Causalitäten geführt. So mag
es und so sollte es auch jedem Alpenwanderer ergehen! Wenn
wir in einer Gebirgseinöde stehen und nichts gewahren als viel-
leicht die rauhe Oberfläche eines Gletschers und grimmige Felsen-
orgeln über prallen Wänden, so erweckt der Anblick uns die trü-
gerische Vorstellung einer ewigen Erstarrung. Plötzlich dröhnt die
leere Bühne vom Fall eines schweren Körpers. Ohne dass wir
es vielleicht gesehen haben , wissen wir , dass ein Felsenstück
irgendwo abgebrochen ist. Langsam aber sicher trägt es der
Gletscher nach Jahren ins Thal hinab. Keine Kraft ist in der
Natur vorhanden , die den Stein wieder auflieben , welche die
Die Alpenreisen als geistiges Bildungsmittel.
32:
Beschädigung ausbessern würde, die Zerstörung schreitet rastlos
fort, und wir müssen uns eingestehen, dass das, was uns entzückt,
ganz sicherhch Aergänglich sei, wie ja nach dem Spruche des
Dichters nur das VergängUche schön geschaffen wurde. So wie
es uns klar wird, dass auch die Gebirge etwas gewordenes und
zeitlich begrenztes sind, treten sie uns menschlich viel näher, und
es regt sich der Wissenstrieb in uM, wie denn die Alpen gewor-
den sein mögen, was sie jetzt sind.
Selbst der flüchtigste Wanderer wird schon bemerkt haben,
dass die Felsmassen einem Mauerwerk gleichen, dass Schichten
über Schichten liegen und zwischen jeder Schicht Fugen sichtbar
sind, die oft stundenlang sich verfolgen lassen, bald völlig w-ag-
recht verlaufend, bald nach oben oder unten gewölbartig gebogen,
bald geknickt, ja bald zusammengerollt und zusammengeschoben
wie eine Schicht von Papierblättern. Mit wenig Ausnahmen, wo
nämhch nicht eine völHge Ueberstürzung stattfand, wird die oberste
Schicht vor Zeiten, bevor die Hebung eintrat, ein Stück Meeres-
boden oder eine ebene Landoberfläche gewesen sein. Bedenken
Sie nun, dass das tiefste Bergwerk, nämlich das bei Kuttenberg
in Böhmen, nur 3545 Fuss in die Tiefe hinabreicht, und durch
Kunst also das Erdinnere nur wenig aufgeschlossen ist, so werden
Sie mit Freuden inne werden, dass, wenn Sie im Zermatt - Thale
stehen, Sie in Wahrheit tief unten neben den Eingeweiden des
Matterhorns herumwandeln, welches vielleicht um 9000 Fuss noch
Ihren Standort überragt. Die Thäler erscheinen in diesem Sinne
als klaffende Wunden in der Oberhaut des Planeten. Dringen wir
nun gar zu den Centralketten vor, wo die Granite und Gneisse
fächerförmig aufgestiegen sind und die auf ihnen ruhenden Schich-
ten wie Papierhefte zusammengebogen oder überstürzt haben, so
gewahren wir noch mehr vom tieferen Erdinnern, imd zugleich
erkennen wir dankbar, dass das, was uns so sehr entzückt, die
Erhabenheit der Alpen, zunächst diesen gehobenen Massen seinen
Ursprung dankt. Mit innerer Genugthuung werden wir uns dann
sagen, dass die Alpen nicht bloss etwas malerisches sind, sondern
dass sie neben frischer Luft, neben Alpenblumen und grossen
meteorologischen Schauspielen auch interessant werden können,
dass sie eine Geschichte haben, ihre Selbstbiographie uns erzählen,
dass man in ihnen lesen kann wie in einem spannenden Roman,
und zwar in einem guten Roman, keiner schalen Erzählung. Freilich
21*
T2A. Zur mathematischen und physischen Geographie.
ist der Roman geschrieben mit hieroglyphischen Zeichen, die lange
die Entzifferer auf eine Geduldsprobe gestellt haben. Der grosse
Saussure, dessen reifere Jahre beinahe völlig ausgefüllt wurden mit
irgend einer Alpenwanderung oder der Vorbereitung zur nächsten,
gestand am Schlüsse seines grossen Werkes , er habe nach uner-
müdlichem Suchen im Bau der Alpen nichts beharrliches gefunden
als den Wechsel, mit andern Worten, dass er den Schlüssel nicht
gefunden habe. Seitdem der ältere ChampoUion auf ägyptischen
Denkmälern die Namen Kleopatra und Ptolemäus buchstabiren
konnte, schritt die Entzifferung von Jahr zu Jahr fort, und jetzt
liest man hieroglyphische Texte mit grosser Bequemlichkeil. Seit
Saussure's Zeit hat auch die Geologie das Buchstabiren erlernt,
und prüft mit vielem Behagen jetzt die Urkunden, welche ihr die
Alpen erschlossen haben. Vielleicht schreckt mancher Laie zurück
vor den Mühseligkeiten ebenfalls das geologische ABC zu erlernen.
Allein nur das Unbekannte erscheint uns besonders schwierig.
Bei der Geologie kommt hinzu, dass sie nichts ist als eine Reihe
von Triumphen des menschlichen Scharfsinns, der durch eine Kette
strenger Schlüsse aus dem Bestehenden dessen Vergangenheit er-
mitteln konnte, so dass wir im Lernen zugleich ergötzt werden.
Die Alpenvereine , insofern sie Tausende von Wanderern in
die Gebirge locken, werden unter diesen Tausenden manchen zu
tieferen Erforschungen anregen, und der Geologie dann neue Kräfte
zuführen. Von den Vereinsmitgliedern selbst Averden aber mit der
Zeit immer mehr und mehr solche Oertlichkeiten im Gebirge auf-
gesucht werden, die neben dem ästhetischen Genuss auch die
Lösung anziehender Räthsel verheissen. Wem aber die Schweiz
ein bevorzugtes Ziel der Wanderung ist, der wird mit Eifer sich
dem Studium von Studer's, Desor's und Oswald Heer's Schriften
zukehren, und dabei inne werden , welchen höheren Werth der
Naturgenuss erhält, wenn er nicht bloss schwelgt in Umrissen und
Farben, sondern zugleich die Kräfte verehrt, welche das erhabene
Bauwerk aufgerichtet haben.
ni,
Zur Länder- und Völkerkunde.
1. lieber den Mann im Monde.
Eine ethnographische Musterung.
(Ausland 1869. Nr. 45. 6. November.)
Es giebt wohl kein Volk und keinen Völkerstamm auf Erden,
der nicht an die Flecken im Monde eine kleine Erzählung oder
Deutung geknüpft hätte, und wenn die nachfolgende Musterung
nicht vollständig erscheinen sollte, so mögen besser Belesene das
Fehlende ergänzen, Reisende aber und Heidenbekehrer werden
vielleicht durch das Gegebene angeregt, so oft sie mit Naturvölkern
in Verkehr kommen, ihnen abzulauschen, was sie selbst über das
sogenannte Mondgesicht gedacht haben oder was von ihren Vor-
fahren ihnen überliefert worden sei.
Ein Geheimniss ist es noch, warum der Mond von verschiedenen
Völkern mit dem Hasen in Beziehung gesetzt worden ist. Die
hottentottische Namaquahorde verehrt den Mann im Monde als
ein höheres Wesen und geniesst zugleich das Fleisch des Hasen
nicht, weil ihnen dieses Thier geheihgt erscheint (Waitz, Anthro-
pologie Bd. 2, S. 342). „Eines Tages," so lautet ihre Ueber-
lieferung, ,,rief der Mond den Hasen und trug ihm folgende Bot-
schaft an die Menschen auf: Wie ich sterbe und wieder erneuert
werde, so sollt auch ihr sterben und wieder lebendig werden.
Der Hase eilte gehorsam hinweg, aber anstatt der Worte „wie
ich sterbe und wieder erneuert werde" sprach er: „wie ich sterbe
und nicht wieder geboren werde." Als ihn bei geiner Rückkehr
der Mond um die W^orte befragte, die er dem Menschengeschlecht
überbracht habe, und der Hase alles genau wiederholte, rief das
liimmlische Licht : „Was ? Du hast dem Menschen gesagt ; wie ich
sterbe und nicht wieder geboren werde, so sollst auch du sterben
328
Zur Länder- und ^'ölkerk^l^dc
und nicht wieder lebendig werden !" Und mit diesen Worten
schleuderte er einen Stecken nach dem Hasen, der ihm die Lippen
aufschlitzte, woher sich die sonderbare Form der Schnauze jenes
Thieres herschreibt. Der Hase ergriff schleunig die Flucht und
soll noch heutigen Tages flüchtig auf der Erde streifen. Die alten
Namaqua aber pflegten hinzuzusetzen: ,,Wir zürnen noch immer
dem Hasen, weil er uns eine so schlimme Botschaft verkündigt
hat, und enthalten uns seines Fleisches" (Andersson, Lake Ngami,
London 1856. p. 328). In der 13. Fabel des indischen Hitopadesa
giebt sich ein Hase vor dem Elephantenkönig für den Botschafter
des Mondes aus, um die Seinigen vor den Tritten der Dickhäuter
zu retten, und beruft sich darauf, dass der Mond in seiner Scheibe
den Hasen als Wappenthier trage (Hitopadesa, ed. A. Boltz,
I^eipzig 1868. S. 5g), In der That heisst in Indien der Mond
ein Hasenträger, auch wird der Mondgott abgebildet in einem
Wagen , von zwei Antilopen gezogen und einen Hasen in der
Hand haltend. Wie die Hottentotten, der Rest einer vormals viel
weiter über Südafrika verbreiteten Menschenrace , zu einer Sagt-
gelangte, die so viel gemeinsame Züge mit einer indischen besitzt,
ist ein anziehendes, aber schwer zu lösendes Räthsel. Uebrigens
hat man in Indien die Mondflecken nicht immer mit den näm-
lichen Augen angesehen, denn andern erschienen sie wie die Gestalt
eines Rehes (Humboldt, Kosmos, Bd. 3, S. 539), daher auch unser
Trabant den Namen des Rehträgers führt. In Siam erblickt man
in dem Schattenbild der Lichtscheibe bald einen Hasen, bald ein
altes Ehepaar, einen Grossvater und eine Grossmutter, welche die
Felder im Mond bestellen und eben einen Reishaufen aufschütten
(Bastian, Völker Ostasiens Bd. 3 S. 242). Die dortigen Buddhisten
wiederum erzählen, dass ihr Religionsstifter sechs Jahre lang um
die höchste Verklärung gerungen und sie nicht eher erreicht habe,
als bis er den Buchstaben Om in der Mondscheibe zu erkennen
vermochte (a. a. O. S. 349). Die Japanesen wiederum wollen in
den schattigen Umrissen auf der Mondscheibe ein Kaninchen wahr-
nehmen , das in einern Mörser mit der Keule Reiskörner .'Jtösst
(A. Bastian, a. a. O. Bd. 5, S. 480).
Die Eskimo, deren Sprache uns zu dem Schluss berechtigt,
dass sie aus Asien nach der neuen Welt eingewandert sind und
die wir zu den mongolischen Racen zählen dürfen, betrachten den
Mond als jungem Bruder der weiblich gedachten Sonne. Bei den
Ueber den Mann im Monde.
329
Verfinsterungen herzt und küsst die Schwester ihren Liebling, und
es sind die Spuren ihrer russigen Hände , die im Angesicht des
Mondes als Flecken zurückgeblieben sind (Bastian , Ostasiatische
Völker, Bd. 4, S. 120). Die mongoHschen Buräten deuten sich
die Zeichnungen ausführlicher. Es lebte einmal , so erzählen sie,
ein Mann mit seiner Frau im Walde, die ihre Tochter zum Wasser-
schöpfen ausschickten. Da sie zu lange ausblieb, verwünschte die
ärgerhche Mutter sie in Sonne und Mond. Die Sonne ergriff sie
zuerst , überliess sie aber ihrem Bruder , dem Monde , als dieser
geltend machte, dass er auf seinen nächtlichen Wanderungen eines
Wächters bedürftiger wäre. Das Mädchen hatte im Schrecken,
als sie beide Himmelskörper auf sich losrücken sah , nach den
Zweigen eines nahen Busches gegriffen, und als der Mond sie mit
sich in die Höhe hob, brach der Blätterbüschel ab, den sie noch
jetzt in der Hand hält, während sie in dem andern Arm den
Wasserkrug trägt, wie es im Mond zu sehen ist (x\usland 1866,
^. 535)-
Wir begegnen hier bei einem mongolischen Völkerstamm zuerst
der Wendung, dass die Flecken einen Menschen vorstellen, der
um irgend eines Vergehens oder Missgeschicks willen in die Mond-
scheibe verbannt worden sei, und wir knüpfen daran sogleich eine
Sage, die uns nach Polynesien versetzt. Auf Samoa, der grössten
unter den Schiflferinseln , erzählen die Eingeborenen: „Während
einer Hungersnoth sass Sina mit ihrem Kind im Zwielicht und
klopfte ein Stück Rinde vom Maulbeerbaum zu Tapa oder Kleider-
zeug. Der Mond stieg just herauf und glich in ihren Augen einer
geräumigen Brodfrucht. ,, Warum, rief sie, ihn fest ins Auge
fassend,, warum kannst du nicht herabkommen und meinem Kind
einen Bissen von dir gönnen?" Der Mond; entrüstet über die
Zumuthung sich anbeissen zu lassen, eilte hernieder und nahm sie
mit sich hinauf sammt Kind . Hammer , Klopfbrett und allem
Uebrigen. Daher heisst es noch jetzt auf Samoa: ,, Schaut droben
Sina und ihr Kind, und ihren Hammer und ihr Brett" (Turner,
Nineteen Years in Polynesia, London 1861, p. 247, und Pritchard,
Polynesian Reminiscenses , London 1866, p. 402). Die Südsee-
insulaner sind aber viel zu geschäftige Mythenschöpfer und zu
reich begabt mit Einbildungskraft, obendrein weit getrennt von
einander und vereinsamt, als dass sie nicht auch gänzlich ver-
schiedene Fabeln erdacht haben sollten. So heisst es auf Raro-
330
Zur Länder- und Völkerkunde.
tonga, etwas über 200 deutsche Meilen ostsüdöstlich von Samoa
in der Cooksgruppe gelegen: „Eine der Göttinnen gebar einen
Sohn , dessen Vaterschaft zwei Götter beanspruchten , und ihre
Rechte darauf so triftig begründeten, dass' nach dem Urtheilsspruch
das Kind in zwei Stücke zerhauen und jedem eine Hälfte gegeben
werden musste. Der Gott, welcher Kopf und Schultern erhalten
hatte , schleuderte seinen Antheil in den Himmel und es wurde
daraus die Sonne ; der andere Gott aber , der mit seinem Stück
nichts anzufangen wusste, warf es in den Busch. Kurz nachher
begegnete ihm der Sonnenverfertiger und als er auf die Frage,
was aus seinem Antheil geworden sei, erfuhr, dass er ihn weg-
geworfen habe, bat er: ,,Ueberlasse ihn mir." Als er ihm ab-
getreten worden war, schleuderte ihn der Sonnenverfertiger eben-
falls in den Himmel, und es entstand daraus der Mond, So oft
nun dieser seine Hörner zeigt, belehren die Eltern ihre Kinder,
es seien die Beine des Knaben, die dunklen Stellen aber, die in
der vollen Scheibe sichtbar werden , deuten sie als Flecken der
Verwesung, die das Fleisch ergriffen hatte, während es im Busche
lag" (Sunderland and Buzacott, Mission Life in the Islands of
the Pacific. London 1866).
In Nordamerika sahen die Potewatami, nach denen noch jetzt
eine Grafschaft in Jowa benannt wird, im Mond ein Weib sitzen
und einen Korb flechten, mit dessen Vollendung die Welt unter-
gehen müsse, wenn nicht während der Verfinsterungen ein Hund
mit dem Weibe kämpfen und den Korb beständig zerreissen
würde (Waitz, Anthropologie, Bd. 3, S. 224). Aehnlich erblicken
die Osseten, also ein indogermanischer oder arischer Volksstamm
des Kaukasus, im Mond einen angeketteten Dämon,- der grosse
Ueberschwemmungen anrichten würde, wenn er sich jemals los-
risse (Ausland 1868, S. 255). Auf eine andere Art erklären
sich die Incaperuaner die Mondflecken. ,,Eine Lustdirne verliebte
sich in die Schönheit des Mondes, und um ihn zu stehlen, stieg
sie in den Himmel hinauf. Als sie aber Hand an den Mond
legen wollte, schloss er sie in seine Arme und hält sie noch jetzt
gefesselt" (Commentarios reales por el Ynca Garcilasso. Lis-
boa 1609 II, 23. tom. I, p. 48 verso). Auch hier kehrt die Vor-
stellung wieder, dass für einen sträflichen Gedanken ein Mensch
in die Mondscheibe geheftet worden sei.
Diess führt uns zum wahren Mann im Monde, zu jenem
Ueber den Mann im Monde. ^^i
nämlich, der im „Sommernachtstraum" mit einer Laterne, einem
Hund und einem Dornenbusch auftritt (Act. V, Sc. i) oder für
den sich im Sturm (Act. II, Sc. 2) Stephano ausgiebt, so dass
CaHban in die Worte ausbricht: „Ich habe dich im Monde ge-
sehen, meine Gebieterin zeigte dich mir, deinen Hund und deinen
Busch." Shakespeare spielt hier auf eine Sage an, die seine Zeit-
genossen von ihren Ammen einsogen, deren aber schon Alexander
Nekam (geb. 11 57), der Milchbruder Richard Löwenherzens, ge-
denkt. „Kennst du nicht, sagt er (De naturis rerum libri duo, ed.
Thomas Wright, London 1863, p. 54), die Geschichte von dem
Bauern im Monde, der den Dornbusch trägt, und auf den sich
der Vers bezieht:
Rusticus in luna quem sarcina deprimit una
Monstrat per spinas, niilli prodesse rapinas.
Hier ist also der Büsser im Monde ein Bauer, der Holz ge-
stohlen hat, etwas später aber wtu'de in England dem Volkswahn
eine Beziehung zum alten Testamente angefrömmelt , denn der
stille Dulder in der Lichtscheibe sollte jener biblische Frevler sein,
den die Kinder Israel auf frischer That ergriffen, als er am Sab-
bath Holz gelesen hatte, und den der Herr von der ganzen Ge-
meinde ausserhalb des Lagers steinigen liess (Numeri XV, 32
bis 35). Viel älter ist aber eine altnordische Sage, von der sich
schwache Spuren auch in England finden, und welche Baring Gould
in seinen „Mythen des Mittelalters" erläutert und gedeutet hat:
,,Mani, der Mond, stahl zwei Kinder von ihren Eltern und trug
sie mit sich in den Himmel. Ihre Namen waren Hiuki und Bil.
Sie hatten Wasser geschöpft von der Quelle Byrgir, im Schlauche
Soegr, der an der Stange Simul hing, die sie auf ihren Schultern
trugen." Noch heutigen Tages sollen die schwedischen Bauern
ihren Kindern die Mondflecke erklären, als wäre ein Knabe imd
ein Mädchen sichtbar, die einen Eimer Wasser zwischen sich tragen
(Quarterly Review 1867. Nr. 244, p. 443). Ueberrascht be-
merken wir hier, dass das Wasserschöpfen, mit den Mond-
gespenstern verknüpft, in einer Sage germanischer Stämme wieder-
kehrt , nachdem wir es vorher bei den burätischen Mongolen an-
getroffen hatten. Im europäischen Mittelalter waren übrigens die
Deutungen der Mondflecken sehr verschieden. Was sich bei Dante
findet , wird uns am Schlüsse beschäftigen, aber Ristoro d'Arezzo
332
Zur Länder- und Völkerkunde.
(Composizione del mondo , lib. III, cap. 8i), der 1282 schrieb,
findet wie die Verfertiger unserer Bauernkalender noch heutigen
Tages, dass der Mond ein menschliches Gesicht zeige. Mit einer
umständHchen Darstellung erfreut uns sein deutscher Zeitgenosse
Albert v. Bollstädt (De Coelo et mundo lib. II, tract. III, cap. 8
Lugd. 1651, pag. 118), bei dem es von den Flecken im Monde
heisst: ,,Wir behaupten, dass diese Zeichnung dem Monde selbst
angehört, der seinen StofiFen nach der Erde gleicht. Bei öfterer
und schärferer Betrachtung dieser Schattenstellen gewahren wir,
dass sie sich von dem östHchen nach dem untern Rande erstrecken
und einem Drachen gleichen, der seinen Kopf nach Westen, seinen
Schweif längs dem untern Mondrande nach Osten richtet. Der
Schweif selbst endigt nicht in einer Spitze , sondern in Gestalt
eines Blattes mit drei sich begränzenden Bogenlinien. Auf dem
Rücken des Drachen aber erhebt sich das Bild eines Baumes,
dessen Zweige von der Mitte des Stammes aus sich nach dem
untern und östHchen Rande des Mondes senken. Auf die Krüm-
mung des Stammes aber stützt sich mit Kopf und Ellenbogen
ein Mensch, dessen Schenkel von oben herabreichen nach den
westlichen Theilen der Mondscheibe. Dieser Gestalt schreiben die
Astrologen beherrschende Einflüsse zu."
Verfügten wir über eine grössere Anzahl von Deutungen , so
würde der Reichthum an Trugbildern um eben so viel Muster
vermehrt werden, denn wir bemerken, dass sich die verschiedensten
Völker und wahrscheinlich alle Völker durch jene geheimnissvolle
Zeichnung in der Lichtscheibe zum Nachdenken angeregt gefühlt
haben. Und wie unser Geschlecht mit teleologischer Gier am
liebsten das allnächtliche Schimmern und Funkeln aus den Tiefen
des Weltraums sich zum Genuss bereitet denken möchte, so hat
es auch die Lichtscheibe des Mondes gern in den Schauplatz
eines menschlichen Romans zu verwandeln getrachtet, denn einer
Mehrzahl von Sagen lag der Gedanke zu Grunde, dass die Flecken
irgend ein Geschöpf unserer Art vorstellen sollten, und zugleich
dachte man sich den oder die Bewohner des Trabanten nicht
eben glücklich, sondern entweder geraubt und hinaufgetragen oder
selbst hinaufgestiegen und dort festgehalten. Das eine oder das
andere geschieht aber in vielen Sagen wegen irgend einer frevel-
haften Begierde oder zur Strafe für irgend ein Vergehen. Eine
solche Wendung empfängt die Fabel in dem Munde von Völkern,
Ueber den Mann im Monde. ^^^
die, SO weit unser Wissen oder unser Vermuthen reicht, nie einen
Verkeiir mit einander gehabt haben, wie die Narnaquahottentotten,
die Nordeuropäer, die Samoaner und die Incaperuaner. Der beste
Gewinn , den wir daher aus den Vergleichungen ziehen , ist wohl
der, dass jene lichtflecken im Monde, in denen man alles erdenk-
liche hinein zu deuten vermocht hat, zum Ausspinnen einer kleinen
Er/ählung dienen mussten, der ein sitthcher Hintergrund nicht
fehlte. Darf diess, möchten wir fragen, nicht unter die Reihe
von Wahrzeichen gerechnet werden, dass die Menschen mit blauen
und schwarzen Augen, mit straffen und mit wolligen Haaren, mit
durchsichtiger oder mit gefärbter Haut, mit gerade und mit schief-
gestellten Zähnen , doch so nahe Geistesverwandte sind , dass
sich ihre Gedanken und Thorheiten mehr als einmal begegnen
mussten r
Der Mann im Monde gewährt aber auch die ernste Gelegen-
heit , uns darüber zu belehren , auf welchem Wege wir dahin ge-
langt sind , die Spukgestalten unserer eigenen Einbildungskraft zu
vertreiben. Die Mondflecken haben nicht bloss ihre mythologische,
sondern auch ihre wissenschaftliche Geschichte. A'ielfach hatten
sich schon die griechischen Gelehrten mit den nicht leicht ver-
ständlichen Gestaltenwechseln unseres Trabanten beschäftigt und
das Räthselhafte daran glücklich entziffert. Von dem Pythagoräer
Heraklitus wurde der Mond als eine halbkugelförmige Schale be-
trachtet , die nur von ihrer Aussenseite das Licht zurückwarf und
die sich beständig um eine Achse drehte. Dadurch wurde die
Sichelgestalt, das Wachsthum und die Abnahme des Lichtes leidlich
erklärt. Sehr schwierig blieb es , den Mond sich als eine Kugel
und als verkleinerten Erdball zu denken , denn wenn der halbe
Mond wie ein leichtes Gewölk am Tageshimmel verweilt, sehen
wir nur Luftbläue an der Stelle der unbeleuchteten Hälfte, während
in jenen Zeiten eine Sichtbarkeit auch des übrigen Mondkörpers
als schwarze Halbkugel erwartet werden durfte. Der beste Mond-
kenner des Alterthums war jedoch unstreitig Anaxagoras. Er
that, was in ihrer damaligen Lage die Wissenschaft am besten
fördern konnte, er entwarf Zeichnungen von den Flecken oder
Mondkarten, wenn n:an solche Anfänge mit einem anspruchsvollen
Namen belegen will. Könnten solche Urkunden spätem Zeiten
überliefert werden, so hätte ein ferneres Geschlecht sich zu über-
zeugen vermocht, dass die Flecken sich nicht verwandeln, gerade
•j-24 Zur Länder- und Völkerkunde.
SO wie man gegenwärtig auf streng entworfene Mondkarten dringt,
damit künftige Beobachter entscheiden mögen , ob sich wirkhch
etwas an der Mondoberfläche ändere , ob namentlich die Kegel
in den dortigen Ringgebirgen noch Lavabäche ausbrechen lassen,
oder ob der Mond längst ein kalter Mann unter den Himmels-
körpern geworden sei. Anaxagoras erblickte schon in den Flecken
Höhen und Tiefen der Mondoberfläche , wenn er sie sich auch
vorläufig nur entstanden dachte aus der verschiedenen Dichtigkeit
der Trabantenstofte , von denen die leichteren höher aufgestiegen,
die schwereren dem Kugelmittelpunkte näher geblieben wären
(Plut. de placitis philos. II, 25). Demokrit dagegen spricht schon
deutlich von Mondbergen und Mondthälern, und bei den späteren
Gelehrten erhielten sogar schon einige der Flecken Namen, wie
Schlucht der Hekate , elysäische Felder , Ebene der Persei)hone
(Plut. de facie in orbe lunae, cap, 29).
Wir besitzen sogar eine eigene Schrift ,,über das Gesicht im
Monde" vom Pseudoplutarch , welcher die Flecken in der Scheibe,
unsere fälschlich sogenannten Meere, als Schatten hoher Mond-
gebirge erklärt, eine Ansicht, welche freilich schon zu seiner Zeit
nicht mehr haltbar sein konnte, sobald man nur zur Klarheit über
die Verhältnisse einer Vollmondbeleuchtung gelangt war. In jener
Abhandlung (cap. III) wird aber einer Hypothese des Clearchus
gedacht , die noch jetzt als geistreich uns erfreuen kann. Der
Mond nämlich wurde als eine glänzende Spiegelscheibe und das
Fleckenbild als eine landkartenähnliche Zurückwerfung des Erd-
kreises gedacht, und zwar so, dass die hellen Stellen von den
pestlanden, die schattigen aber nur von dem Mittelmeere herrühren
sollten. Dass der Mond wirkhch von der beleuchteten Erde Licht
empfängt, gewahren wir an dem aschfarbenen Schimmer, durch
welchen neben der schmalen Sichel der unbeleuchtete Theil wie
eine abgetuschte Kugel sichtbar wird, eine Erscheinung, die von
dem als Maler wie als Physiker gleich grossen Leonardo da Vinci
schon richtig erklärt wurde (Kosmos, Bd. 3, S. 499).
Fühlen wir uns zu den alten Griechen wegen ihres Natur-
wissens und ihres eifrigen Suchens nach der Wahrheit stets mächtig
angezogen , so könnte uns dagegen das Mittelalter leicht mit Ban-
gigkeit erfüllen, als hätte die bereits gewonnene Erkenntniss. die
in ungelesenen Pergamenten schlummerte, wieder erlöschen können.
Allein auch im Alterthum fehlte es nicht neben scharfsinnigen
Ueber den Mann im Monde. 225
^"ermuthungen am Spielzeug einer jugendlichen Einbildungskraft,
und der geduldige Mond musste sich bequemen, dass man in
seiner Maske die Züge einer Sibylle erkannte (Clemens Alexan-
drinus, Strom, lib. I, cap. 15). So war auch damals das strenge
Erforschen der Wahrheit nur die Sorge weniger Auserwählten.
Der bigotte Pöbel von Athen verfolgte * einen Protagoras und warf
einen Anaxagoras in den Kerker, weil er die götthch verehrte
Sonne mit einem glühenden Meteorstein verglichen hatte (Plutarch.
Nicias, cap. 23). Wenn daher auch im Mittelalter beim Volk
sichtbaren Erscheinungen der Körperwelt wie jenem Flecken irn
Monde Bedeutungen angedichtet wurden, die durch ihre Aben-
teuerlichkeiten an die Stufe südafrikanischer oder polynesischer
Naturvölker der Gegenwart erinnern, so mangelte es doch nicht
an geistigen Grössen , welche mit gleicher Freiheit dachten wie
die begabtesten Gelehrten des Alterthums. Ein Alexander Nekam
wiederholte die Fabel von dem verwünschten Bewohner im Monde
nur zur Ergötzung an den unerwarteten Sprüngen der Phantasie,
er selbst aber sieht in den Flecken Erhabenheiten und Vertiefun-
gen in der Oberfläche unseres Satelliten '). Auch Dante, der uns
als Vertreter des besten Naturwissens seiner Zeit gelten kann, der
eingeweiht war in das astronomische und kosmographische Wissen
der Griechen wie der Araber, hat uns eine kleine Abhandlung
über die Mondflecken hinterlassen. An einer Stelle zwar (Inf.
XX, 124 sq.)
gia tiene '1 confine
Damenduo gli emisperi, e tocca l'onda!
Solto Sibilia, Caino e le spine:
E gia jer notte fu la luna tonda.
wird der Mann mit dem Dornenbusch als der bibUsche Kain be-
trachtet , doch hören wir an einem spätem Orte des Gedichtes
(Far. II 49) diess nur als einen Volkswahn bezeichnet:
Ma ditemi, che son li segni bui
Di questo corpo, ch^ la guiso in terra
Fan di Cain favoleggiare altrui.
Der Sänger fährt vielmehr fort, die physische Ursache jener
Lichterscheinungen zu ergründen. Zunächst wird die Vermuthung
jonischer Philosophen widerlegt , als könnte der Mond aus dünneren
i) lib. I c. 14. Aliis visum est corpus luiiae , non esse rotundum , sed
in quibusdam suis partibus esse eminentius, in aliis depressius.
To5 Zur Länder- und Völkerkunde.'
lind dichteren Stoffen sich gestaltet haben, denn wären die Mond-
flecken die dünneren Stellen, so müsste bei einer gänzlichen Ver-
finsterung der Sonne das Licht durch sie hindurchschimmern.
Auch dadurch könne man sich die Flecken nicht erklären , dass
der Mondkörper vielleicht aus Glas bestehe, welches an den hellen
Stellen nahe der Oberfläche, an den dunkleren dagegeir in tieferen
Schichten mit einem reflectirenden Metall belegt sei , denn man
brauche nur hinter sich ein Kerzenlicht aufzustellen und vor sich
drei Spiegel in verschiedenen Abständen, so werde man dessen-
ungeachtet das Licht mit gleicher Wirkung \on der entferntesten
wie von der nächsten Reflectionsfläche zurückgeworfen sehen. Wir
bemerken also , dass der Dichter auf die sinnliche Prüfung sich
beruft, um die Stichhaltigkeit der möglichen Erklärungen zu er-
gründen. Die seinige freilich wird uns jetzt nicht mehr befriedigen,
denn wenn wir seine äusserst dunklen Worte :
Virtü diversa fa diversa lega,
Col prezioso corpo, ch^ Tawira
Nel quäl, si come vita in voi, .si lega.
richtig verstehen , dachte sich Dante den Lichtkegel , der auf den
Mond fiel, nicht als gleichartig in allen seinen Theilen, sondern
örtlich stärker und schwächer. Freilich ist es sehr schwierig, da
Dante immer in doppelter Sprache redet und geheime Neben-
bedeutungen mit äusserlichen Gegenständen verknüpft, da ihm der
Mond nicht bloss der Begleiter der Erde und das Licht nicht bloss
wie uns jene Form der Bewegung ist, die Sehnerven erschüttern
oder empfindliche Salze zersetzen kann, seine Erklärung der Mond-
flecken mit wissenschaftHcher Deutlichkeit festzustellen, allein es
liegt weniger daran , dass das Richtige ausgesprochen , als dass
die Wahrheit auf dem richtigen Wege gesucht worden sei.
Wie in unseren Spuk- und Geistergeschichten bald eine Be-
kreuzigung, bald der Glockenschlag der ersten Stunde, bald ein
Hahnenschrei die Gespenster in ihr Nichts zurückscheucht, so sind
auch die einsamen Bewohner des Mondes , die Hasen , Drachen,
Wasserträger, Holzdiebe und was sie sein mochten, wie Nebel
zerflossen \ov einer nur fünfzehnfachen Verschärfung unserer Seh-
kräfte. Kaum gelangte zu Galilei's Kenntniss die Entdeckung der
teleskopischen Wahrnehmung durch holländische Brillenschleifer,
als er sich selbst ein Fernrohr zusammensetzte. Zu den uner-
warteten Offenbarungen, welche das neue Instrimient brachte,
Ueber den Mann im Monde.
337
gehörte auch die Erkenntniss von der Oberfläche unseres Trabanten.
„Am vierten oder fünften Tage nach Neumond," schreibt GaUlei
im Astronomicus nuncius (Opere, ed. Eugen. Alben, Firenze 1843,
tom. III, p. 63), „wenn der Mond uns mit glänzenden Hörnern
erscheint, wird die beleuchtete von der dunkeln Oberfläche des
Trabanten nicht durch eine scharfe eliptische Linie begränzt, wie
es bei einem vollkommen kugelförmigen Körper stattfinden müsste,
sondern der Rand ist ungleich rauh und ziemlich zerrissen ....
AUe kleinen Flecken stimmen darin überein, dass der schattige
Theil von der Sonne abgewendet liegt, der Sonne gegenüber aber
helle Lichtbegrenzungen sich zeigen. Einen ganz gleichen Anblick
gewährt uns die Erde nach Anbruch des Tages , wenn in die
Thäler das Licht noch nicht hineinfällt, die Berge aber, welche
der Sonne gegenüber Hegen, schon in Helligkeit erglänzen. Und
wie beim Aufsteigen des Tagesgestirns die Schatten in den irdischen
Vertiefungen immer kürzer werden, so verlieren auch jene kleineren
Mondflecken beim Wachsthum der Lichtscheibe an Ausdehnung."
Er fährt dann fort, die Ringgebirge des Mondes mit den Augen
im Schweife des Pfauen zu vergleichen, ja der grosse Ring mitten
in der Mondscheibe erinnert ihn an die plastische Gestalt des
Königreichs Böhmen, und zugleich giebt er schon ein Verfahren
an, wie man nach optischen Grundsätzen die Höhe etlicher Berg-
gipfel im Monde ableiten könne.
Vorbei war es nun mit Gesichten und Gesichtern im Monde,
die Welt war, wie es immer geht, um eine Erkenntniss reicher
und um viele poetische Anregungen ärmer.
Peschel, Abhandlungen. U.
2. Ueber den Baum- und Schlangen-
dienst.
(Ausland 1869. Nr. 51. 18. December.)
Herr James Fergusson, der uns durch eine Geschichte der
morgenländischen Baukunst bekannt geworden ist^, hatte den
Auftrag erhahen, die Vertretung der indischen Architektur auf der
Pariser Industrie- Ausstellung des Jahres 1867 durch Photographien
und Abgüsse einzelner Ornamente zu überwachen. Diess führte
ihn dazu , die Topen oder Glockenbauten bei Amravati und die
älteren bei Santschi näher zu prüfen. Unter ihren Sculpturen sah
er Darstellungen von Baum- und Schlangendienst, die ihm neu
waren und zu weiteren Nachforschungen reizten. Die Heilighal-
tung von Bäumen, die namentlich den arischen Völkern eigen ist,
kann wohl nicht befremden, denn manche Baum formen hinterlassen
auch auf den Hochgebildeten noch immer den Eindruck einer
sinnvollen Persönlichkeit. Schwieriger ist die Erklärung des
Schlangendienstes, zumal die Schlange fast überall als Sinnbild
von Weisheit und Macht aufgefasst wurde. Da nun der Schlan-
gendienst dem Geiste der Veda ebenso wie dem der Bibel wider-
sprechen soll, so glaubt Fergusson sich zu dem Schluss berechtigt,
dass der Schlangendienst dem arischen und semitischen Völker-
kreise als ein fremder Tropfen von einem ,,turanischen Volke"
beigemischt worden sei.
Auch die Aegypter verehrten neben andern Thieren die
Schlange, doch tritt der Schlangendienst bei ihnen in den Hinter-
grund, und entsprang wohl keinem anderen tieferen Bedürfnisse,
[) S. Ausland 1866. S. 11 75.
Ueber den Baum- und Schlangendienst. 330
als dass die Schlange als Lautzeichen den Anfangsbuchstaben im
Namen einer minderen Gottheit bildete. Bei den Hebräern haben
wir nicht bloss Baumdienst und Schlangendienst, sondern Baum
und Schlange, geheimnissvoll vereinigt, treten schon im Paradiese
auf. Der Baum auf dem Berge Horeb war den Israeliten schon
geheiligt, bevor der Herr dort Moses seine Botschaft ertheilte.
Dass Aaron seinen Stab vor dem Pharao in eine Schlange ver-
wandelte, ist dagegen wohl nicht, wie Fergusson meint, eine Ver-
schmelzung von , Baum und Schlange , denn ein Stab ist kein
Baum. Wir möchten noch hinzusetzen, dass die Vereinigung von
Baum und Schlange minder geheimnissvoll erscheint , wenn man
sich erinnert, dass unter den Tropen die walzenförmigen Stämme
von Schlinggewächsen sich schlangenartig um die Bäume winden,
so dass es der kindlichen, durch Beobachtung nicht gezügelten
Einbildungskraft leicht möglich wird, an eine Verwandlung der
Schlangen in Kletterstämme zu glauben. Endlich mag , da
Schlangen sich zum Lieblingssitze auch heilige Bäume erwählen
konnten und, wenn sie öfters dort gesehen worden waren, zwischen
dem unsichtbaren Geist im Wipfel und dem sichtbaren Bewohner,
der Stamm oder Aeste zu umarmen pflegte, irgendein geheimniss-
voller Verkehr geahnt worden sein. Moses selbst huldigte dem
Schlangendienst, denn die eherne Schlange, die er anfertigen liess,
wurde 600 Jahre im Tempel aufbewahrt, bis König Hezekiah
ihren Dienst einstellte und sie zerbrach. Zu den Zeiten der Kö-
nige, heisst es in der Bibel, bauten die Juden Bilder und Haine
auf jeden Berggipfel und dienten unter jedem grünen Baume.
Diess darf man jedoch nur als vorübergehende ketzerische Rück-
fälle in das Heidenthum syrischer Nachbarn betrachten. Seit He-
zekiahs Zeiten verschwindet Baum und Schlangendienst bis auf
das christhche Zeitalter, wo der letztere bei den Secten der Niko-
laiten, Gnostiker und Ophiten ausbrach. Die letzteren setzten die
Schlange höher als Christus, weil sie die Erkenntniss des Guten
und Bösen in die Welt gebracht habe.
Spuren vom Baum- und Schlangendienst bei Phöniciern be-
schränken sich darauf, dass tyrische Münzen vorkommen mit einer
Schlange, die sich um den Baum ringelt. Aus Babylonien hat man
noch nichts derartiges ermittelt, dagegen bildete der Baumdienst
eine sehr gewöhnliche Form der Anbetung in Assyrien. Andeu-
tungen von Schlangendienst (!) darin zu erblicken, dass hellenische
340
Zur Länder- und Völkerkunde.
Götter und Heroen Schlangen ausrotten und zerdrücken, klingt,
zum mindesten gesagt, seltsam. Wohl aber begegnen wir einem
leibhaftigen Schlangendienst beim Orakel in Delphi, sowie in den
Höhlen des Trophonius. Ferner wurden in Epidaurus heihge
Schlangen gehütet und gefüttert noch bis zu den Zeiten des Pau-
sanias. Endlich brachte die Botschaft des Quintus Ogulnius im
Jahre 462 u. c. aus Griechenland heilige Schlangen nach Rom,,
wo seitdem der Schlangendienst nicht mehr ausstarb. Hadrian
räumte einer Schlange aus Indien eine Wohnstätte im Tempel des
olympischen Jupiter ein, nachdem er ihn wieder aufgebaut hatte.
Die Heilighaltung der Schlangen wird ausserdem durch römische
Münzen mit Schlangenbildern bestätigt. Was den Baumdienst der
alten Hellenen betrifft, so braucht nur an den heiHgen Hain von
Dodona erinnert zu werden. * Agamemnon brachte sein feierliches
Opfer in Aulis unter einer heiligen Platane dar, deren Stamm
nach Pausanias noch im zweiten Jahrhundert n. Chr. als heilige
Reliquie in dem dortigen Dianatempel aufbewahrt wurde. Dass
unsere deutschen Vorväter Bäume als Heiligthümer verehrten,
namenthch Eichen, wissen wir alle, ja einen Baumdienst der
freundhchsten Art, den Christbaumdienst , haben wir .bis auf den
heutigen Tag beibehalten.
Einen ächten, vollblutigen Schlangendienst treffen wir jetzt
wohl nur noch bei den Guinea-Negern. In Amerika ist manchen
Stämmen diese und jene Schlangenart heihg, allein ein wahrer
Schlangencultus findet sich bei Rothhäuten nicht. Schlangen treten
allerdings in dem alten Naturdienst der Azteken auf, jedoch wohl
nur als Sinnbilder, und zwar als Sinnbilder der Fruchtbarkeit.
Ein Adler, der eine Schlange im Schnabel fasst, ist bis auf den
heutigen Tag das Stadtwappen Mexico's, aber nur einer alten
Prophezeihung zufolge, dass die Azteken dort eine Stadt erbauen
sollten, wo sie einen Adler auf eine Schlange an einem Cochenille-
Cactus stossen sehen würden.
Schlangendienst ist besonders häufig südlich von den grossen
Gebirgen Inner-Asiens, vom Hindukuh, Himalaya und ihren Ver-
längerungen. In Kaschmir gab es schon in uralten Zeiten Schlan-
genverehrer oder Nagas. Der chinesische Buddhistenpilger Hiuen-
thsang fand um 622 n. Chr. Schlangendienst in Kabul und in
Kaschmir. Wäre Herr Fergusson mit Bastians Schriften bekannt,
so würde er das Nagathum verfolgt haben können bei allen so-
Ueber den Baum- und Schlangendienst. ^41
genannten Indo-Chinesen. So behauptet er nur, dass der berühmte
Tempel von Nakhon Vat in Cambodscha ausschliesslich (!) dem
Dienst der siebenköpfigen Schlange geweiht gewesen war. Naga-
könige, d. h. Fürsten, die dem Schlangendienst huldigten, herrsch-
ten auf Ceylon um 250 n. Chr. Nach dem Mahabharata waren
überhaupt die indischen Eingeborenen Schlangendiener oder Nagas.
Nun kommt aber Fergusson mit einer ganz unglücklichen Hy-
pothese. Er unterscheidet nämlich drei Bevölkerungen in Indien,
Eingeborne (Dschengelstämme), Dravidas oder Turanier (!) und
arische Einwanderer. Da nun durchaus der Schlangencultus tura-
nisch sein muss, so werden die Dravidas in Turanier verwandelt.
Diess ist ein muthwilliger Wirrwarr, der angestiftet wird in dem
ohnehm schon schwierig zu erklärenden Völkergetümmel Indiens,
einzig nur um einen hypothetischen Ursprung der Sculpturen an
ein paar buddhistischen Topen zu rechtfertigen.
Fergusson ist durchaus kein Sprachforscher, er ist nur Histo-
riker der Baukunst. Nun ist bekanntlich früher wiederholt ver-
sucht worden, die Dravidas oder die nichtarischen Indier in die
turanische Sprachfamilie hineinzufassen, d. h. in den Sprachenkreis
der mittelasiatischen Türken. Ob diess gelungen sei oder gelingen
werde, darauf kommt hier nichts an. Verwerflich ist nur die
Spaltung der dravidischen Indier in eingewanderte Turanier und
altangesessene Eingeborene. Bisher hat man die Dschengelstämme
als blutsverwandt mit den Tamulen und andern südindischen Völ-
kern gehalten. Als die Arier nach Indien kamen und die dravi-
dischen Eingebornen unterjochten, wurde ihre reinere vedische
Religion durch den rohen Fetisch- und Götzendienst der Eingebor-
nen beschmutzt, mit denen Blutsvermischungen, bevor die strenge
Kastenordnung eintrat, häufig vorgekommen sein müssen. Von
den Eingeborenen stammt daher auch der Schlangendienst, und
wir wundern uns also nicht mehr, dass in Mittel- und Südindien
fast bei jedem Tempel auch eine fünf- oder siebenköpfige Schlange
als Bild mit vorkommt, ferner, dass an dem Nag-Panschmi-Feste
Brillenschlangen oder Cobras öffentlich in Indien selbst von Brah-
minen verehrt werden. In allen Tempeln südlich vom Bindya-
gebirge mögen sie den Brahmanen angehören oder der Dschain-
Secte, wenn sie aus der Zeit vom 9. bis 13. Jahrhundert stam-
men, findet man die siebenköpfige Schlange am häufigsten. Ueber
den Baumdienst der brahmanischen Indier brauchen nicht viel
342
Zur Länder- und Völkerkunde.
Worte verloren zu werden, denn es ist ja hinlänglich bekannt,
dass der Pipal (Ficus religiosa) den brahmanischen Hindu geheihgt
war und ist, sowie, dass seine Vermählung mit dem Nim (Melia
azadirachta) als eine verdienstliche Handlung unter grossem Ge-
pränge gefeiert wurde. Die Buddhisten dagegen pflanzten den
Bananenbaum oder den Bo (Ficus indica). Vereinigt nun wird
der Baum- und Schlangendienst dargestellt auf den Topen von
Santschi und Amravati.
Im alten Indien kannte man Steinbauten nicht, nur Holz-
bauten. Der Grottentempel von Karli wurde erbaut vom Kaiser
Devabhuti im Jahre 70 v. Chr., und einer von Dr. Stefenson ent-
zifferten Inschrift zufolge war der Erbauer ein Grieche, Namens
Xenokrates. Die Decke der Höhle selbst wurde damals noch
nicht durch Steinsäulen gestützt, sondern mit hölzernen Pfeilern,
von denen jetzt noch etliche sich ganz gesund erhalten haben.
Ferner ist zu bemerken , dass sämmtliche Höhlentempel , unter
andern die von Adschunta und EUora, welche in das erste bis
vierte christliche Jahrhundert fallen, ausschliesslich den Buddhisten
angehören. Steinbauten in freier Luft begannen nicht früher als
unter König Asoka, dem „buddhistischen Constantin", um 250
V. Chr. Diesem schreibt Fergusson auch den ursprünglichen Bau
der Tope von Santschi zu, da er überhaupt 84,000 solcher Kup-
peln in Indien errichtet haben soll. Allein ihm gehört nur der
Kern des dortigen Gebäudes , denn die äussere Umfassung mit
100 Pfeilern, deren Zwischenräume mit Sculpturen gefüllt wurden,
entstand erst nach und nach in langen Zeiträumen, die Thore
erst nach der christlichen Zeitrechnung. Viel jünger ist die Tope
von Amravati, deren Ursprung Fergusson in das vierte christliche
Jahrhundert setzt. Sie besass in unzerstörtem Zustande 112 — 120
Pfeiler. Auf dem Fries sowie an den Pfeilern selbst waren 12 bis
14,000 Figuren in Stein gehauen. Da ferner Marmorbrüche nur
in Ratschputana bekannt sind, so musste der Stein zu den Bild-
arbeiten 120 deutsche Meilen weit nach Amravati geführt worden
sein. Doch ist es recht gut denkbar, dass in Indien noch Mar-
morbrüche entdeckt werden, die jenem Tempel näher lagen. Auf
den Sculpturen der Santschi - Tope sind deutlich unter den Figuren
zwei Bevölkerungen zu unterscheiden, nämlich eine, welche bud-
dhistische Sinnbilder verehrt, und eine, welche dem Baum- und
Schlangendienst huldigt. Es mischen sich durcheinander Anbe-
lieber den Baum- und Schlangendienst. ^4-»
tungen der siebenköpfigen Schlange und heiliger Bäume, mit häus-
lichen Begebenheiten aus dem Leben Sakyamuni's (Buddha's),
Liebesscenen und Darstellungen geschichtlicher Vorgänge. Die
Figtiren selbst sind nicht alle bekleidet, an den Männern aber
sind theils das heutige Dhoti, oder der Hüftschurz, bei den Frauen
das Sari oder die Schärpe zu erkennen. Dagegen sind die übri-
gen, und zwar die meisten Frauengestalten, völlig nackt, nur um
die Hüfte mit einer Perlenschnur geziert, von der vornen Fransen
herabhängen. Eine fast gänzliche Entblössung der Frauen scheint
also damals noch geherrscht zu haben. Wer aber waren die
Baumeister jener ältesten Steinbauten?
Es waren nach Fergusson Griechen und zwar Griechen des
baktrischen Reiches, die Yavana der alten Quellen, dieselben
Griechen , welche die Stempel der ältesten indischen Münzen
schnitten und die im vierten Jahrhundert das Herrscherhaus in
Orissa vertrieben, um dort 146 Jahre zu herrschen. Glaubhaft
wird diese Vermuthung durch den Umstand, dass gerade die Um-
gebung von Amravati ausserordentlich reich an Funden indobak-
trischer Münzen sich erwiesen hat. Soweit ist alles annehmbar
und lässt sich geschichtlich rechtfertigen. Nun kommt aber die
turanische Hypothese. Jene Baumeister sollen nämhch nicht bloss
ihre Kunst nach Indien gebracht haben, sondern auch ihren Baum-
und Schlangendienst. Sie kamen aus Baktrien, also aus Turan,
waren selbst arisch turanische Mischlinge, ,, folglich" Baum- und
Schlangenanbeter. Diese Hypothese trifft der schHmmste Vorwurf,
der eine Hypothese treffen kann : sie ist ganz unnütz , und die
einfachste Annahme ist die, dass die heutigen Dschengelvölker und
die gebildeten Dravidas derselben Race angehören, in Indien alt-
angesessen sind, von jeher Bäume und Schlangen verehrten, und
dieser Cultus mit dem Buddhismus sich mischte , zur Zeit, wo die
ersten Steinbauten entstanden.
3. Die australischen Goldfelder.
(Ausland l86o. Nr. i6. 15. April.)
Wer hätte gewagt, vor zehn Jahren daran zu glauben, dass
nicht allein die californische Golderzeugung zu 50 Mill. Dollars
im Jahr steigen und zehn Jahre sich in dieser Höhe behaupten
könne, sondern, dass zu der californischen noch die australische
Erzeugung sich gesellen würde und ihre vereinigten Wirkungen
dennoch nicht den Goldcurs beträchtlich erschüttern sollten? Zwar
die californischen Erträgnisse scheinen bereits den Gipfel über-
schritten zu haben, die australischen dagegen sind noch in der
Entwicklung begriffen, und nach dem, was wir aus einer interes-
santen Arbeit des Quarterly Review erfahren , ist gar nicht abzu-
sehen, wann die Zeiten einer Erschöpfung eintreten sollen. Einen
Zuwachs, wenn auch von bescheidener Ausdehnung, hat Dr, Hoch-
stetter in Neu-Seeland entdeckt, als sollten sich alle unbekannten
Räume, kaum dass sie von dem Finger der Sachkundigen berührt
werden, in goldtragendes Land verwandeln. Das Gold selbst ist
eine noch minder werthvoUe Erscheinung als wie das zauberhafte
Aufgehen neuer Staaten. Im Jahre 1792 gab es in Neu-Süd- Wales
nur 67 freiwillige Ansiedler, die 3400 Acres Land inne, davon
aber nur 400 wirklich angebaut und 100 erst ,, geklärt" hatten.
Lange Zeit gab es in den kleinen Städten nichts als sehr bildungs-
lose Bewohner , keine würdige Kirche , Schulen bloss für reiche
Kinder, und nur Sträflinge als Schullehrer. Lii Jahr 1830 erschien
ein ,, Schreiben aus Sydney" von einer heutigen Berühmtheit der
Colonie , Herrn Edward Gibbon Wakefield , worin der Verfasser
die Enttäuschungen eines Ansiedlers aus Liebhaberei uns schildert.
Er hatte 20,000 Acres um einen Spottpreis erworben, und bildete
Die australischen Goldfelder,
345
sich ein, eine Grafschaft gekauft zu haben. Die Bäume allein auf
diesem Gebiet wären in England 150,000 Pfd. St. (1,800,000 fl.)
werth gewesen. In Australien aber hätte man sie ausroden sollen,
wenn nicht das Zerstören allein 15,000 Pfd. St. gekostet haben
würde. Der ,,Colonist" war ein reicher Mann, Er hatte sich
vorgenommen, den hübschen Theil seiner Besitzungen für sich zur
Anlage von Parks, Landhäusern und als Jagdgrund zu behalten,
den übrigen Theil aber zu verpachten. Allein zu dem Traum
fehlte das Beste, nämlich Pächter um den Pachtschilling zu be-
zahlen, ja der einzige Diener, den der Verfasser mitgebracht hatte,
verliess ihn kurz nachher, um mit seinen Lohnersparnissen sich
selbst Güter anzukaufen. Weit besser ging es einem schottischen
Ansiedler aus alter Familie. Dieser brachte das beste Capital mit,
nämlich 12 Kinder, wenn auch nur die Hälfte davon erwachsen
war. Anfangs freilich lebte die Familie unter einem Zelt von ein
paar Fässern Hafermehl und etwas Zwieback, Bevor aber diese
Vorräthe verzehrt waren, gab es Hühner vieh und Kartoffeln in
Fülle. Die Arbeit kostete nichts, das Holz nichts, die Rente
nichts und die Anstandsbedürfnisse nichts. Zuerst wurden ein
paar Geissen, dann eine Kuh erworben. Bald sah man eine
Heerde um sich, Butter und Gemüse wurden in die nächste Stadt
verkauft, die Söhne wurden, wie sie herangewachsen waren, un-
abhängige Herren , und die Töchter machten die besten Partien.
So ist die Moral aller Colonisation : das erste Geschlecht darbt
und arbeitet hart, das nachfolgende aber hat es um desto besser.
Erst mit der Entdeckung der Goldfelder kam aber eine selbst-
zahlende Einwanderung nach Australien. Man sagt, dass jeder
Goldgräber mindestens drei Menschen Beschäftigung gebe, die ihn
nähren und bekleiden. Im Jahre 1788 wurde die erste britische
Flagge bei Sydney aufgezogen, und die ursprüngliche Colonie be-
stand nur aus 1030 Köpfen. Jetzt beträgt sie 310,000. Nach
den letzten statistischen Erhebungen giebt es in Neu - Süd - Wales
nicht weniger als 168,929 Pferde, 2,023,418 Stück Hornvieh,
7>736,323 Schafe und 105,998 Schweine. Seit 1848 haben sich
die Einfuhren nach Sydney von 1,2 Mill. auf 6,7 Mill., die Aus-
fuhren von 1,2 auf 4 Mill. gehoben. Neu-Süd- Wales ist aber
längst in Schatten gesunken, seit das goldene Zeitalter für Victoria
aufgegangen ist. Im Jahre 1835 war Melbourne nur noch ein La-
gerplatz, und selbst bis zum Jahr 1851 noch so unbedeutend.
346
Zur Länder- und Völkerkunde.
dass der Name der Niederlassung in Europa kaum gekannt war.
Schon im Jahre 1804 wurde dort Gold gesehen. Das Kriegs-
schiff „Calcutta" hielt sich nämlich im Port Philipp als Station
auf, und Lieutenant Tucker, der die Reise- Erlebnisse beschrieb,
erzählt uns, dass, als die Schiffsmannschaft bei einem Besuch am
Land einen Strom entdeckte, die Matrosen in grosse Aufregung
geriethen, als sie im Sand glänzende^^Körnchen sahen, die sie für
Gold hielten, „welche aber natürlich, fügt der kritische Ver-
fasser hinzu, nur aus Ghmmer bestanden." Schon im Jahr 185 1
stieg die Bevölkerung der Colonie auf 77,345 Köpfe, wovon
28,143 ii^ Melbourne sich aufhielten. Im März 1857 waren diese
Ziffern auf 410,766 und 99,345 angewachsen, im Juni 1858 die
Bevölkerung der Colonie auf 477,345 gestiegen, und jetzt hat sie
längst die halbe Million überschritten. So schnell reiten mitunter
auch die Lebendigen. Im Jahr 1851 hatten die Einfuhren nur
eine Million, 1857 schon 17V4 Millionen und in den sieben Jahren
von 1851 — 1857 zusammen an 82^2 Millionen Pfd. St. betragen.
Diese Colonie liefert jährhch mehr als 10 Millionen Pfd. St. Gold für
die Märkte Europa's, und diese Sendungen haben dem Gewerb-
fleiss der alten Welt einen solchen Antrieb gegeben, wie er histo-
risch seit der Entdeckung Amerika' s und des Seewegs nach Indien
gar nicht dagewesen ist.
Lange Zeit galt, in der Wissenschaft Australien als der jüngste
Erdtheil, bei näherer Untersuchung aber fand sich, dass gerade
Australien das älteste Stück trocknen Erdbodens sei. Die Gold-
lager Australiens liegen in einem Gürtel grosser granitischer, por-
phyrischer und metaphorischer Gebirge , die an manchen Stellen
nadeiförmig aufsteigen und dort der Landschaft den Ausdruck der
Wildheit geben, wie sie andererseits schwer zu überschreiten sind.
Von Mount Kosciusko, dem höchsten Punkte der australischen
Alpen, überschaut man eine Fläche von 300 geogr. Quadratmeilen,
und das ganze innere Flachland war sicherlich ehemals nur Mee-
resboden, umgeben von einem Archipel, bis sich allmählich das
Land hob, der innere Continent entstand und aus den Inseln
Berggipfel wurden. Der Goldschutt Victoria's besteht aus min-
destens drei verschiedenen Goldschichtungen, die sich in Folge
dreimaliger Hebung und Depression gebildet haben. So findet der
Goldgräber eine erste, zweite und dritte Schicht in der Tiefenfolge,
die letzte auf dem noch unangetasteten paläozoischen Gestein,
von welchem alles Gold stammt. Der Reichthum einzelner Stellen
Die australischen Goldfelder.
347
auf diesem Goldland übersteigt alle Begriffe. Eine berühmte Grube
dieser Art hat mit Recht den Namen ,, Goldschmieds Laden"
empfangen. Anfangs war sie bekannt alfe des ,, Grobschmieds
Antheil", da ein solcher Handwerker sie begann. Der Grob-
schmied arbeitete mit acht Personen, die sämmtlich vom Bergbau
nichts verstanden. Der Schacht, den sie anlegten, war höchst
mangelhaft und lebensgefährlich. Als sie unten den Felsen erreicht
hatten, theilten sie 12,800 Pfd. St. (153,600 fl.) oder 1600 Pfd.
St. per Kopf und boten den ,, Antheil" zum Verkauf aus, weil
sie nicht verstanden, einen Stollen zu treiben. EndUch fand sich
eine Partei , die für Grube und Geräth 7 7 Pfd. St. zahlte. Sie
begann ihre Arbeit an einem Samstag und vertheilte noch am
nämlichen Abend 200 Pfd. Sterling auf den Kopf, zusammen 2000
Pfd. St. Sie setzte die Arbeit abtheilungsweise Tag und Nacht
fort, bis sie am Montag eine Dividende von 800 Pfd. St. oder
14000 Pfd. St. im Ganzen vertheüen konnte. Hierauf verkaufte
sie die Grube für eine Woche, nach Ablauf welcher sie wieder
in den Besitz treten wollte. Das Hinabsteigen in die Grube er-
forderte etlichen Muth. Sand und Steine rollten nach und plät-
scherten unten im Wasser. Die Miether für eine Woche gewan-
nen in den ersten drei Tagen schon 12&0 Pfd. St. per Kopf oder
— es waren 12 — 14,400 Pfd. St. zusammen. Dann kam die
frühere Partei wieder an die Reihe, und nachdem sie in einer
Woche durch einfache Tagesarbeit abermals 900 Pfd. St. per Kopf,
9000 zusammen, gewonnen hatte, verkaufte sie die Grube um 100
Pfd. St. an einen Marketender. Dieser schickte eine Bande Gold-
jäger unter Prämienbedingung in die Grube, die nach 14 Tagen
500 Pfd. St. per Kopf, zusammen 5000 Pfd. St. vertheilen konn-
ten. Unter diesen Arbeitern befand sich aber ein alter Fuchs,
welcher am Feierabend des Samstags in den Seitengallerien die
Stützen wegzog. Als der Montag kam, war altes eingesunken.
Der Schlaue aber hatte eilig in der Oberfläche, wo er durch das
Einsinken die richtige Stelle erkennen konnte, einen ,, Claim", das
heisst einen Grubentheil abgesteckt und die Licenz gelöst, worauf
er schleunigst von dort wieder in die Tiefe hinabging. Aus den
ersten vier Eimern Erde, die heraufkamen, sollen nicht weniger
als 40 Pfund Gewicht Gold in groben Körnern gewaschen wor-
den sein, acht andere Eimer gaben noch 20 Pfund, so wurden
aus diesem neuen Schacht nach und nach 55,200 Pfd. St.
348
Zur Länder- und Völkerkunde.
(660,000 fl.) gewonnen und zwar von einer Grundfläche, die nur
24 Fuss ins Gevierte hielte, ein Glücksfall, der vor wie nach nicht
seines Gleichen gesucht hat.
Aus dieser Schilderung schon kann man sehen, dass zwischen
den Goldablagerungen AustraHens und Californiens ein grosser
geologischer Unterschied besteht. Das californische Gold liegt
mitten in den Gebirgen zwischen spitzen Gipfeln, rauhen Kämmen,
aufgeblähten und beunruhigten Schichtungen, also über einer sehr
bewegten Stelle des Erdballes, hat aber nicht als Ruhepunkt die
sanften Ebenen oder schrägen Seiten der Berge gewählt, sondern
sich, von den Wildwassern zu immer feinerem Pulver zerrieben,
in Staubflocken längs der Bänke oder im Bett der grossen Flüsse
angesetzt. Die californischen Goldgräber brauchen also nicht wie
die australischen unter die Erde zu steigen, sondern finden die
goldenen Schichten im Untergrunde unmittelbar unter der Ober-
fläche, mit dem Untergrund vermischt oder in den Löchern und
,, Taschen" der ausgewaschenen Felsen. Selten gehen sie tiefer
als ein paar Fuss, und stets bleiben sie am Rande der Gewässer,
während bei Ballarad und den andern grossen Goldfeldern
Australiens das Metall auf den Pfeifenthonschichten über das
Flachland sich ausbreitet oder angehäuft in Höhlungen tief unter
den Hügelwellen ruht, zu denen der Bergmann nur gelangt, wenn
er seinen Schacht 50 und 300 Fuss tief getrieben hat. Daraus
darf man schliessen, dass der australische Schutt aus viel früheren
Zeiten, der californische dagegen aus den jetzt sichtbaren Gebirgs-
ketten, demnach viel später, gebildet worden ist, also auch viel
früher sich erschöpfen wird. Das Waschgold Victoria's und von
Neu-Süd- Wales ist aber nicht bloss auf einzelne Schichtenstreifen
beschränkt, sondern auf Hunderten, vieleicht Tausenden (englischer)
Quadratmeilen ist Sand, Lehm und Erde mit''Gold gefüllt, welches
sich ohne Ausnahme mit Nutzen waschen lässt. In dem Bezirk
von Goulbourne allein liegt eine Goldfläche von solcher Ausdeh-
nung, dass sie nicht in einem halben Jahrhundert durchgewaschen
werden kann. In den Goldfeldern des Turonthales soll das Gold,
wenn auch nicht besonders reich , doch so regelmässig vertheilt
sein, dass ein Arbeiter so sicher ist.. 10 Schilling im Tage mit
Goldwaschen zu verdienen , wie wenn er sich um diesen Lolin
verdungen hätte, und zwar würden 5000 Goldgräber im Vergleich
Die australischen Goldfelder.
349
zur Flächenausdehnung des Feldes gar wenig zur Bewältigung der
Schätze ausrichten.
Früher herrschte die irrige wissenschaftliche Ansicht, dass die
Goldadern im Quarzgestein nur bis zu gewisser Tiefe reichten und
mit der Tiefe der Goldgehalt abnehme. Die australischen Erfah-
rungen haben diesen Irrthum völlig beseitigt. Die Glücksfälle
beim Quarzbohren sind womöglich noch grösser als beim Aus-
waschen von Schuttland. So ging es unter andern beim „Johnson
Reef", einer Quarzgrube, die nach ihrem ursprünglichen Besitzer
hiess. Dieser hatte 120 Fuss tief gebohrt, ohne Aussicht Metall
zu finden und dann den Schacht verlassen. Da kam ein Fleischer,
Namens Dawborn , welcher seine Ersparnisse daran setzte , um
noch einmal in der Grube sein Glück zu suchen. Er bildete eine
kleine Gesellschaft, der er die nöthigen Fonds vorstreckte; als
man aber 145 Fuss Tiefe erreicht hatte ohne ein Kömchen Gold
zu finden , da beschloss man , den Schacht wieder zu verlassen.
Die Quarzbergleute pflegen in Australien jeden Abend ihre Minen
abzufeuern , damit der Pulverdampf über Nacht sich zerstreuen
kann , während er am Tag die Leute von der Arbeit vertreiben
würde. Am letzten Abend wurden denn auch als Abschiedssalve
die Minen abgebrannt. Dawborn begab sich darauf in ein Wirths-
haus und bot seinen Viertelsantheil an der Grube um 15 Pfd. St.
feil, wurde aber nur mit einem Gelächter verhöhnt. Am andern
Morgen fuhr er allein in den Schacht, um die zurückgelassenen
Geräthe zu holen und einen letzten Blick auf das Grab seiner
Habe zu werfen. Aber ein entzückender Anblick harrte seiner.
Die erste Stampfprobe von 6 Tonnen (120 Centner) Quarz lieferte
370 Unzen (ä 450 fl. circa) oder 1480 Pfd. St., und seitdem
mehrte sich die Ausbeute so rasch, dass bald der Viertelsantheil,
10,000 statt 15 Pfd. St, werth war.
Dicht neben Dawborn wurde auch gebohrt und mit noch
grösserem Erfolg. Einer der Besitzer bot seinen Zwölftelsantheil
thöricht genug um 500 Pfd. St. feil, aber schon die nächsten drei
Quarzvermahlungen machten den Käufer der Actie vollständig für
die Auslagen bezahlt. Auch die grösste und reichste Grube in
der Bendigo-Niederung gab erst Metall, als der Schacht längst
das wissenschaftliche Maximum überschritten hatte. Der arme
Tropf, welcher die Grube gemuthet hatte, verlor den Verstand,
als er am Morgen nach dem erfolgreichen Minenschuss in den
35°
Zur Länder- und Völkerkunde.
Schacht fuhr, und ihm unten allenthalben die Goldstufen entgegen-
starrten. Bei Tarrengower soll ein Deutscher, Namens Weisen-
haaren, bei einer Tiefe von 300 Fuss, aus seiner Grube im Laufe
einer Woche 4 Cntr. — vier Centner Gewicht ! — an Gold, mehr
als 200,000 fl. ! gewonnen haben. Das plötzliche Reichwerden
einzelner Personen aus den niedersten Ständen führte zu den selt-
samsten Erscheinungen. Einen der merkwürdigsten Fälle dieser
Art erlebte Herr William Kelly, Verfasser des Life in Victoria,
welcher Besitzer einer Quarzmühle zur Zeit des Goldfiebers gewesen
war. Eines Tages erschienen ein paar Buben mit Säcken auf dem
Rücken, die um sein Zelt schlichen, nicht aus Neugierde, sondern
in der Absicht, um bemerkt zu werden. Als sie Kelly nach ihren
Wünschen frug, baten sie darum, einen der Mörser und Mörser-
keulen, wie man sie zu Quarzproben braucht, benutzen zu dürfen.
Obgleich ihnen die Erlaubniss ertheilt wurde, machten sie doch
vorläufig keinen Gebrauch, sondern warteten erst, bis die Arbeiter
sich um die Essensstunde hinwegbegeben hatten. Jetzt machten
sie sich an die Arbeit, und als die Quarzsteine, die sie in ihren
Säcken mitgebracht hatten, sich reichhaltig erwiesen, gestanden
sie dem Quarzmüller, dass sie gestern beim Spielen eine kleine
Quarzader mit Gold entdeckt hätten und sie jetzt prüfen wollten.
Damit ihre Eltern aber nichts merken möchten, hatten sie ihren
Weg durch einen Bach genommen, so dass man ihre Fusstapfen
nicht verfolgen könne. Beide Knaben hatten in ihren Säcken
etwas über zwanzig, sicherlich nicht ganz dreissig Pfund Quarz.
Als aber das Pulver gewaschen wurde, ergab sich eine Beute von
13 Pfund (Gewicht) reines Gold, so dass die beiden Buben ein
Vermögen von 624 Pfd. St. (7500 fl.) mit heim nahmen. Zehn
Tage verstrichen, ohne dass sich das Paar wieder sehen Hess.
Endlich kamen sie begleitet von einem altern Burschen und mit
einem Wägelchen voll Quarz. Als sie ihre Säcke öffneten, rissen
alle Anwesenden die Augen auf, denn der Inhalt sah aus wie
goldener Honig, durchwachsen mit Quarz und Eisentheilen. Ein
reicher Quarzbergmann aus Sandhurst, ein Kenner wie irgend
einer, bot den Dreien eine Anweisung von 1200 Pfd. St. für ihren
Quarz an, und er war ein Mann, der viel lieber zu wenig als zu
viel gab. So verstrichen wieder etUche Wochen, als die Buben
erschienen und bei dem Quarzmüller einen bestimmten Vertrag
über die Pulverisirung von sieben Tonnen (140 Ctnr.) Quarz, die
K
Die australischen Goldfelder. ^ql
sie nach und nach zu bringen gedachten, einzugehen suchten.
Das Gestein, welches sie brachten, sah aber nicht sehr preiswür-
dig aus, und als die Vermahlung begann, rieth einer der Arbeiter
Herrn Kelly, nicht eher fortfahren zu lassen, als bis die Buben den
Mahlschatz gezahlt hätten, der 8 Pfd. St. per Tonne betrug.
Doch ergab sich schliesslich beim Aussuchen der Rückstände und
beim Verwaschen ein Ertrag von 17 Pfund und etlichen Unzen
Gold. ,, Diese Erfahrung", sagt unser Quarzmüller, machte mich
für die Zukunft vorsichtig gegen oberflächliche Besichtigung von
Quarzgesteinen, denn bei jenen Mustern war äusserlich nicht ein
Kömchen Gold im Quarz zu erkennen, und wie viel goldhaltiger
Quarz mag nicht schon aus ähnlichem Irrthum zum Chausseebau
weggeworfen worden sein, dass man wirkHch sagen kann, die
Landstrassen Victoria's seien mit Gold gepflastert worden." Da
bei den jetzigen Vorrichtungen, wie wir eben hörten, 8 Pfd. St.
die Vermahlung des Quarzes kostet, so muss das Gestein schon
mehr als zwei Unzen Gold in der Tonne enthalten , wenn sich
nur die Vermahlung und das dabei stattfindende Wagniss bezahlen
soll. Beim Reed Creek, etwa 11 deutsche Meilen von Melbourne
werden reiche Quarzadern bearbeitet, die 16, ja sogar bis 31
Unzen in der Tonne liefern. Dort hat man auch Snen Gold-
klumpen von 730, und später noch einen von 1230 Unzen ge-
funden, das grösste compacte Stück Gold, welches Australien bis
jetzt geliefert hat, das aber immer noch keinen Vergleich zu den
grössten sibirischen Goldklumpen verträgt. Auch dort wird Quarz,
Melcher nur 1^2 Unzen in der Tonne liefert, weggeworfen und
zum Bau von Strassen verwendet. So haben denn die Räder der
Wagen bisweilen durch Zermalmen der Kieselsteine mauche Gold-
stufe schon zu Licht gebracht, namentlich zwischen Castelmaine
und Sandhurst, wo die Strasse aus goldführendem Quarz erbaut
worden ist.
Uebrigens ist die Bearbeitung des Quarzes ein Merkmal, dass
die leicht erreichbaren Schätze Australiens bereits ausgebeutet
worden sind, weil man sonst unmöglich den mühsameren und
kostspieligeren Weg betreten würde. Das Erträgniss dieses Jahres
ist uns noch nicht bekannt geworden. Der Economist vom 10.
März (p. 259) giebt freilich folgende Ziffern an: 1857: 148,126
Unzen; 1858: 255,535 Unzen j 1859: 293,574 Unzen; — allein
er hat offenbar etwas verwechselt, nämlich entweder ist jener
352
Zur Länder- und Völkerkunde.
Ertrag nur derjenige der Decembermonate, oder der von Neu-
Süd- Wales, nicht der von Victoria, welcher letztere allein nach dem
Quarterly Review betrug:
I85I
145,137
Unzen
438,777 Pfd. St
1852
1,998,526
6,i35-,728 „ „
1853
2,497,723
8,644,529 „ „
1854
2,144,699
8,255,550 „ .,
1855
2,751.535
10,904,150 ,, „
1856
2,985,991
11,943,458 „ „
1857
2,762,460
10,987,591 „ „
1858
bis 30.
Juni
1,279,767
5,119,069 „ „
Eine andere Zusammenstellung des Goldertrags der beiden
Provinzen Victoria und Neu-Süd-Wales wiederholen wir hier nach
dem Ausland (1859 S. 369). Dort wurde die Goldausbeute an-
gegeben mit:
I85I
126,000
Unzen
1852
1,750,000
,,
X853
2,475,000
,,
1854
2,360,000
,,
1855
3,230,000
,,
1856
3,613,000
,,
1857
3,033,000
,,
1858
2,81 1,000
„
19,398,000 Unzen.
Die Widersprüche, namentlich stark in den Anfangsjahren,
rühren daher, dass bei der spätem Angabe nur die declarirten
Verschiffungen mit Zuschlag von 10 Proc. zur Ausgleichung für
die nichtdeclarirten Verschiffungen und für die zurückgebliebenen
Werthe als Gesammtertrag angenommen wurden. Nach dem
Quarterly Review sind 17,023,413 Unzen oder 64,122,360 Pfd.
St. von 1851 bis Ende 1857 verschifft worden, was mit unsern
eigenen Angaben übereinstimmt. Nimmt man an, dass im Jahre
1859 wieder 12 Millionen Pfd. St. und in Californien 50 Mill.
Dollars oder 10 Mill. Pfd. St. erbeutet worden sind, so würde
also seit 1848 und respective 185 1 bis Ende 1859 die Ausbeute
Californiens genau 100 Mill., die Australiens 86 Mill. Pfd. St.,
zusammen also 186 Mill. Pfd. St., oder 2232 Mill. Gulden oder
4650 Mill. Eres, betragen haben. Dennoch wie gesagt, hat bis
jetzt ein beträchtliches Sinken des Goldwerthes iii Beziehung zum
Die australischen Goldfelder.
353
Werthe des Silbers sich nicht erkennen lassen. Man erklärt diese
Erscheinung damit, dass das Gold der pacifischen Länder in
Amerika und in Frankreich die alte Silbercirculation verdrängt und
diese ausgestossenen Zahlungsmittel nach Südasien, das heisst nach
Indien und China zur Ausgleichung ungünstiger Handelsbilanzen
verschifft worden seien. Diess halten wir auch für völlig richtig,
doch ist dieser Abfluss des edlen Metalles den höchsten Schwan-
kungen unterworfen. So betrugen nach dem Economist (1860,
Xr. 863) die Sendungen edler Metalle nach dem Morgenlande :
Aus britischen
Aus Mittel
meerhäfen
Gold.
Silber.
Gold.
Silber.
Pfd. St.
Pfd. St.
Pfd. St.
Pfd. St.
I85I
102,280
1,716,100
—
—
1852
921,739
2,630,238
—
—
I853
880,202
4,710,665
93,528
848,362
1854
1,174,299
3,132,003
48,456
1,451,014
1855
948,272
6,409,889
243,239
1,524,240
1856
404,749
12,118,985
74,039
1,989,916
1857
269,275
16,795,235
259,986
3,350,689
1858
166,246
4,415,315
165,230
911,043
4,867,062
51,928,427
884,478
10,075,264
Zusammen 67,755,231 Pfd. St.
Im Jahre 1858 also, wo 22 Mill. Pfd. St. an Gold allein in
Australien und Californien gewonnen wurden, gingen in Folge der
nachwirkenden Handelskrisis und der chinesischen Feindseligkeiten
nur 6 Mill. nach dem Morgenlande, während der Rest von 16
MiU. die Zahlungsmittel in den christlichen Staaten der Welt ver-
mehrte. Lange darf die Ausbeute in gleicher Stärke nicht mehr
fortdauern, ohne zuletzt eine Minderung im Werthe der edlen
oder eines der edlen Metalle fühlbar zu machen.
Wir haben eine Reihe merkwürdiger Glücksfälle im austra-
lischen Bergbauleben angeführt, darum ist es auch billig, dass wir
der Unglücksfälle gedenken, die freiUch ganz besonders charakte-
ristisch sein müssen, um nicht vergessen zu werden. So zeigt
man in den Minen von Victoria ein Grab, welches von allen
Goldgräbern mit religiöser Scheu betrachtet wird. Der unglück-
liche Todte war nämlich mit Freunden und Schulkameraden aus
sehr guten Famihen nach Austrahen gekommen und die Brüder-
schaft hatte zusammen auf Gold gegraben. Ihre Glücksaussichten
Peschel, Abhandlungen. II. 23
354
Zur Länder- und Völkerkunde.
waren sehr gering, dennoch zeigten sie immer unverdrossene Ge-
sichter. Als ihre Baarschaft aufgezehrt war, verkauften sie, was
sie noch an werthvollem Schmuck und Kleinodien mitgebracht
hatten. An einem Tage nun, wo der Unglückliche in der Grube
arbeitete, seine Genossen aber oben die Wascherde heraufzogen,
rief er hinauf: , .Zieht, zieht! meine Bursche, die Stunde hat end-
lich geschlagen !" Die Kameraden zogen kräftig, obgleich die Last
ziemlich schwer war, aber Entsetzen erfasste sie, als statt des
Erdeimers die Leiche ihres Freundes am Strick in die Höhe kam.
Der Unglückliche hatte nämlich, wie sich später ergab, unten in
der Grube den harten Felsen erreicht, wo alle Hoffnungen auf-
hören mussten, und dann aus Verzweiflung die Schlinge des Stricks
sich um den Hals gelegt, um seinem Leben ein Ende zu machen.
Die Brüderschaft stand wegen ihrer Massigkeit und ihres Fleisses
bei allen Goldgräbern in höchster Achtung , so dass , wenn sie
nicht zu stolz gewesen wären, ihr Missgeschick einzugestehen,
augenblicklich Summen aufgebracht worden wären, dass sie ihr
Glück hätten von neuem versuchen können. Nach dem tragischen
Vorfall verschwanden die Kameraden und wurden bei den Minen
nicht vi^ieder gesehen.
Besser ging es zwei conaischen Bergleuten , die der obener-
wähnte Kelly kennen lernte. Sie hatten einen eigenen ,, Claim"
erworben, und ihre erste Quarzprobe lieferte ihnen 30 Pfund Gold
auf die Tonne (also Yee)« Kelly wollte anfangs diesen Angaben
nicht trauen, aber die offenherzigen Bergleute führten ihn in das
Zelt, wo die junge Frau des einen gastlich für ein Frühstück
sorgte, und dort zog der Ehemann unter seinem Bett einen Gold-
kuchen nach dem andern hervor, so dass Kelly anfangs meinte,
er werde durch ein Taschenspielerstückchen geneckt. Kelly fand
es sehr unvorsichtig, solche Schätze so schlecht zu hüten, aber
der Bergmann war unbesorgt, denn noch war ihm nichts schlim-
mes widerfahren. Dass die Goldgräber aus höchst gefährlichen
Elementen bestehen und Verbrechen nicht zu den Seltenheiten ge-
hörten, kann man nicht anders erwarten bei einem Gemisch von
Abenteurern aller Nationen: Briten, Iren, Franzosen, Deutschen —
und die schlimmsten aller Schlimmen, von Californiern. Dennoch
sind die Zustände Australiens im Vergleich zu den californischen
ziemlich ehrbar gewesen, woran wohl der Colonialpolizei das meiste
Verdienst gebührt. Das nützlichste und friedlichste Element der
Die australischen Goldfelder. ^cc
Einwanderung waren jedenfalls die Chinesen, deren Zahl sich nach
der letzten Ermittelung auf 50,000 Köpfe belief. Gegen diesen
Zudrang aus dem himmlischen Reich machten aber aus Brodneid
die anderen Einwanderer Front, obgleich die Chinesen nicht daran
denken, zu bleiben, da sie bekanntlich ihre Frauen in der Hei-
math lassen müssen. Doch soll es ihnen gelingen, bei irischen
Weibern ihr Glück zu machen. Offenbar sind die Australier un-
gerecht gegen die Chinesen, da sie ihnen den grössten Goldfund
der neuesten Zeit verdanken. Chinesen nämlich waren es, die,
um der Einwanderungstaxe zu entgehen , in der Gurchen-Bay
(SüdaustraUen) landeten, dann über die Grampian - Gebirge gingen
und dort erst die Gränze von Victoria betraten. Auf diesem Weg
nun beim Berg Ararat stiessen sie auf wunderbare Reichthümer
in dem berühmt gewordenen ,, Chinesenloch", wo die erste Arbeit
in wenigen Stunden 3000 Unzen lieferte. Diess bewirkte den
grössten „Rutsch" in der Geschichte Victoria's. Nachrichten von
ungewöhnHchen Entdeckungen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer,
und dann konnte es geschehen, dass 20 und 30,000 Goldgräber
wie auf ein Signal aufbrachen, neue, bisher öde Räume bevölker-
ten und eben erst bevölkerte veröden Hessen. In wenigen Wochen
lagerten beim Ararat 60,000 Personen. Eine ungeheure Stadt
wurde systematisch abgesteckt. Magazine, Gasthäuser und Schen-
ken wuchsen wie auf magisches Geheiss aus dem Boden, es gab
Billardzimmer, eine tägliche Postverbindung und eine täglich er-
scheinende Zeitung.
Merkwürdig ist es, dass Victoria auch als kornerzeugendes
Land nicht bloss Süd-Australien und Neu-Süd-Wales, sondern selbst
CaUfornien übertrifft, wie uns folgende Tabelle zeigt. Es wurden
nämlich geerntet:
Buscheis per Acre.
Weizen
Gerste
Hafer
Victoria 1855 — 1857
23.1
20.3
29.3
Tasmania 1850
16.5
24.2
23-7
Süd-Australien 1857
12.0
22.0
25.0
Neu-Süd-Wales, Durchschnitt
von
drei Jahren
15-4
J6.7
16.7
New-York
14.0
16.0
26.0
Californien
20.0
31-5
20.2
356
Zur Länder- und Völkerkunde,
Nicht wenig überraschend ist es, dass Neu-Süd-Wales bereits
1128 Acres Land mit Wein-Cultur besitzt und etwa 11 o bis 130,000
Gallonen Wein im Jahre erzeugt. Proben dieses Gewächses,,
welche zur Pariser Ausstellung gesendet wurden, sollen von den
Preisrichtern für vorzüglicher als irgend ein Muster von Rheinwein
erklärt worden sein. Die australischen Reben jedoch, auf welche
man die grössten Hoffnungen setzt, liefern einen Wein, der weit
mehr dem spanischen als dem deutschen gleicht. Die anfänglich
unfassHch hohen Preise für Nahrungsmittel haben den Ackerbau
so rasch auf seine jetzige Höhe gebracht. Es wurde aber auch
in der schlimmsten Zeit die Tonne Heu mit 50 Pfd. St., der
Centner also mit 30 Gulden bezahlt, so dass damals die jährlichen
Unterhaltungskosten eines Pferdes auf 415 Pfd. St. (5000 Gulden)
sich beliefen, wovon die Hälfte auf Heu, Hafer und Stroh traf!
Dass sich der Viehbestand der Colonie so rasch heben konnte,
darf uns nicht wundern. Man rechnet, dass sich eine Heerde in
zwei Jahren verdoppelt, in vier Jahren vervierfacht, in sechs Jah-
ren verachtfacht, in acht Jahren versechzehnfacht u. s. f. Das
Hirtengeschäft war und 4st wohl noch ein Gegenstand vielseitiger
Bewerbung. Oftmals aber drängen sich Leute herbei , die keine
Ahnung von ihrer Aufgabe haben. Ein Unternehmer, der ge-
schwind reich werden wollte, kaufte 10,000 Schafe, vergass aber
zugleich einen Hund sich zu verschaffen, und musste seine Heerde
sogleich mit ungeheurem Verlust wieder losschlagen. Besser ging
es einem Baccalaureus, der, durch Familienmissgeschick genöthigt,
nach Australien wanderte, nach und nach aber eine Heerde von
3000 Schafen um sich sammelte. Er schlachtet und kocht sich
sein Hammelfleisch selbst, und liest bei einer Unschlittkerze die
alten Classiker, oder Briefe und Zeitungen, welche ihm dann und
wann die Post bringt. Das sogenannte „Ueberländergeschäft",
welches darin bestand, von den Weideplätzen im Innern die Heer-
den nach der Küste zu treiben, überhaupt neue bequeme Wege
für den Viehtransport auszufinden, hat gar manches Kind aus
guter Familie und manchen jungen Gelehrten gefesselt. Dieses Leben
soll für abenteuersüchtige Gemüther die höchsten Reize haben, wozu
sich noch der Umstand gesellt, dass dabei alles gewonnen oder
alles verloren werden kann, denn oft wandern Heerden von Scha-
fen, Hornvieh und Pferden im Werth von 20,000 Pfd. St. monate-
lang in pfadlosen Einöden umher, unsicher von Tag zu Tag
Die australischen Goldfelder.
357
Nahrung und Wasser zu finden. Wurde aber das Reiseziel einmal
erreicht, so ist der Gewinn enorm, und der kühne „Ueberländer"
mit seiner Heerde wird von der Bevölkerung empfangen wie ein
Messias an Palmarum.
Süd-Australien ist zwar vorzugsweise ein ackerbautreibendes
Land, hat aber \'on der Natur als Mitgift in Metall reiche Kupfer-
erze empfangen. Die Burraburragruben sind wegen ihrer Ergiebig-
keit so viel werth wie der Goldquarz Victoria's, und alle nörd-
lichsten Districte der Colonie strotzen auf hunderte englischer
Meilen von Kupfer in höchster Reinheit, so dass es nur an Hän-
den und Capital fehlt, um ein halbes Dutzend neuer Burra-Burra's
zu öffnen. Würde sich die Bevölkerung auch verzehnfachen, es
gäbe noch für alle Hände zu thun, um diese Schätze zu heben.
Bereits sind in Australien die bewohnten Gebiete zu einem
Flächenraum aufgeschwollen wie Grossbritannien , Irland und
Frankreich zusammen genommen. Im Süden , also im volkreich-
sten Theil, herrscht ein ebenmässiges Klima wie in Süd -Europa,
und seit in den Umgebungen der Städte die Einöden und Sand-
flächen cultivirt werden, haben auch die heissen Winde und Sand-
wirbel von Jahr zu Jahr abgenommen. Auch die landschaftliche
Natur bekommt seit der Besiedelung einen freundlicheren, man
möchte sagen einen menschlicheren Anblick. Die meisten austra-
lischen Bäume sind hässlich an Gestalt , eintönig und zottig was
Form und Farbe des Laubwerkes betrifft, während alle die herr-
lichen Gewächse der alten Welt lustig gedeihen.
Zu dem colonialen Sittengemälde gehört auch die grosse An-
zahl der Bankerotte, In Victoria zählte man von 1854 bis 1857
durchschnittlich 200 solcher Fälle, und in den drei ersten Quar-
talen von 1858 sogar 434. Die Gesammtsumme der Schuldmassen
betrug durchschnittlich im Jahre ^/^ Millionen Pfd, St., wovon nur
etwa % gedeckt werden konnten. Schon im Jahre 181 6 gab es
in Sydney eine Bank mit einem Vermögen von 20,000 Pfd. St.,
jetzt aber zählt man in Australien nicht weniger als neun Banken
mit einem Actiencapital von 5,898,835 Pfd. St. In der Provinz
Victoria sind die Depositeneinlagen so gewaltig, dass sich durch-
schnittlich auf den Kopf 12^/^ Pfd. St. (147 fl.) berechnen, so dass
in gleicheni Verhältnisse das Königreich Baiern z. B. 600 Mill.
Gulden baar hinterlegte Depositengelder besitzen müsste. Ver-
schiedene dieser Banken zahlen 20 Proc, Dividende, manche
358
Zur Länder- und Völkerkunde.
brachten es bis auf 40 Proc. Es geschah diess zur Zeit, wo man
den Goldgräbern für die Unze Goldstaub nur 2 Pfd. St. bezahlte,
obgleich diese Unze ein paar Monat später bei der englischen
Bank um 3 Pfd. St. 17 Sh. 6 P. verkauft wurde. Jetzt aber be-
zahlt man die Unze Goldstaub nicht bloss mit 3 Pfd. St. 17 Sh.
6 P., sondern man giebt auch noch 2 Sh. Agio. Wie die Banken
ein solches Geschenk machen können, ist noch ein Räthsel, man
vermuthet indessen , dass die Banken alles Gold desswegen so
hoch aufkaufen, damit die Importeure genöthigt sind, Rimessen zu
kaufen, deren Preis dann in Folge gegenseitigen Uebereinkommens
um so höher gestellt wird. Was die Australier sonst nicht vor-
theilhaft auszeichnet, ist ihr Brodneid und ihre Monopolsucht.
Am liebsten sperrten sie die Thüre ganz zu und Hessen keinen
Einwanderer mehr ins Land. Die Arbeiter haben durch Strikes
ihre Arbeitszeit auf acht Stunden herabgesetzt, unter dem Vor-
wande, dass längere Anstrengungen sich mit dem Klima nicht
vertrügen. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf und acht
Stunden Erholung ist ein beliebtes Demagogenschlagwort. Gleich-
zeitig haben die Arbeiter eine Petition abgefasst, dass alle für Ein-
wanderungszwecke bewilligten Gelder eine andere Bestimmung
erhalten sollten, weil sonst aus England alles Proletariat und alle
arbeitslosen Handwerker wie Heuschrecken in das gelobte Land
fallen möchten.
Im Jahr 1850 wurde bekanntlich Victoria als selbstständige
Colonie von Neu-Süd-Wales abgetrennt, mit einer Verfassung be-
schenkt, und 1857 sogar das allgemeine Stimmrecht (manhood
suffrage) eingeführt, mit einzigem Ausschluss der analphabeten
Personen, solcher, die nicht lesen und schreiben können, so dass
von 512,000 Bewohnern nicht weniger als 160,000 auf die Stimm-
hsten eingetragen wurden. Die Abstimmung ist geheim, so dass
Victoria also die am meisten demokratische Verfassung hier unter
dem wechselnden Monde besitzt. Sehr ermunternd sind vorläufig
die constitutionellen Experimente Victoria's noch nicht. In Zeit
von drei Monaten folgten sich vier Cabinette auf einander, und
das einzige, was sich zu Gunsten der Colonie sagen lässt, besteht
darin, dass in Süd- Australien die Dinge noch schlimmer gehen.
Als dort die neue Verfassung ertheilt wurde, blieb die alte Ver-
waltung am Platz. Nach Eröffnung der ersten Versammlung
stürzte aber die Opposition das Cabinet, und am 2 1 . August wurde
Die australischen Goldfelder.
59
den Siegern die Bildung einer neuen Regierung übertragen. Am
25. August nahmen die neuen Minister ihre Plätze ein, erhielten
aber schon in den ersten Stunden ein Misstrauensvotum, und im
Lauf von 24 Stunden waren sie genöthigt abzutreten. Jetzt wurde
die alte Verwaltung wieder berufen und am i . September beeidigt.
Aber auch dieser Versuch hatte keine Dauer und eine neue Op-
position stürzte diese Verwaltung. Das nachfolgende Ministerium
versprach eine längere Lebensfrist, doch sind wir über seine
Schicksale nicht unterrichtet. Es ist zu hoffen, dass die Bevöl-
kerung an diesen constitutionellen Possen keinen Geschmack fin-
det, und der Ekel zuletzt eine Reaction herbeiführt. Die Briten
preisen es als Zeichen der loyalen Gesinnung ihrer Colonien, dass
die Sammlungen für Stiftungen zu Gunsten der InvaHden des
Krimfeldzuges so glänzend ausfielen, allein ähnliche Zeichen von
Anhänglichkeit gaben auch die Vereinigten Staaten noch kurz vor
der Unabhängigkeitserklärung. Auffallend ist uns gewesen, schon
hie und da auf laute Regungen australischen Heimathsgefühles zu
stossen, so dass früher oder später auch bei den Antipoden der
Gedanke völliger Selbstständigkeit zur Reife kommen wird.
4. Der Werth Indiens für England.
(Ausland 1866. Nr. 38. 18. September.)
Vor dem Jahre 1859 wurde bei jeder Verwicklung auf unserm
Festlande gefragt: welche Partei wird die britische Regierung er-
greifen ? wie wird sich das Parlament entscheiden ? Jetzt fragt kein
Mensch mehr nach dem Hass und nach der Liebe des britischen
Volkes. Das letzte Mal, wo es eine europäische Rolle spielte,
war der Krieg in der Krim, an dem es anfangs mit 30, später
mit 50,000 Mann Theil nahm. Seitdem weiss man nicht mehr,
dass England eine europäische Kriegsmacht sei. Man hat sie
nicht gesehen 1859 in ItaHen, 1864 auf der cimbrischen Halbinsel,
1866 in Deutschland. Wenn die Franzosen Belgien sich aneig-
neten oder das linksrheinische Deutschland bedrohten, wir würden
uns vergebens umsehen nach den Waffengefährten bei Waterloo.
Zwischen 1854 und 1859 fällt der indische Sipahiaufstand und
mit ihm dankte Grossbritannien ab für eine europäische Rolle.
Grossbritannien hat nämlich keine Soldaten und wird keine für
eine europäische Rolle haben, so lange es mit geworbenen Truj)-
pen ficht.
Seine gesammte Hausmacht besteht alles in allem aus 150,000
Mann, seine indische Armee aus etwa 75,000 Mann. Von seiner
Hausraacht muss man reichlich abrechnen 50,000 Mann, die es
zur Bewachung von Gibraltar und Malta in Europa, von Canada,
Jamaica und den Antillen in Amerika, von Australien und Neu-
seeland im stillen Ocean, von Singapur und seinen chinesischen
Häfen in Asien braucht. Es bleiben also daheim, einschliesslich
der Depots für die indischen Regimenter, 100,000 Mann für Gar-
nisons- und Festungsdienste sowie zur Bewachung Irlands. Es ist
Der Weith Indiens für Ensfland.
361
wahr, England könnte bei Beginn eines Krieges Truppen anwer-
ben, sie einüben und seinen Feinden damit zusetzen. Nimmt der
Krieg die Gestalt einer grossartigen Belagerung an, wie die Seba-
stopols war, und zieht er sich durch zwei Jahre hin, so wird
England zum Schluss mit einiger Stärke auftreten können. Dauert
der Krieg aber drei Monate, wie der italienische 1859, oder , .sie-
ben Tage", wie der böhmische Feldzug 1866, so kommt England
jedenfalls zu spät.
Vor dem Jahr 1857 war die Lage eine andere. Damals gab
es noch eine Armee der ostindischen Compagnie, und die Ziffer
der europäischen Truppen in Ostindien blieb beständig unter
30,000 Mann. Jetzt bedarf man 70,000 Mann, um die Hindu im
Zaume zu halten. Wären die alten Verhältnisse 1864 noch ge-
wesen wie vor 1857, so hätte England leicht den Dänen 60,000
Mann zu Hülfe schicken können, während es in Wahrheit höch-
stens 20,000 Mann zu solchen Zwecken verfügbar gehabt hätte.
Man sieht also, es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen
dem Sipahiaufstande und dem europäischen Nihilismus des Lon-
doner Cabinets. In britischen Köpfen macht sich daher die Nei-
gung geltend, zu untersuchen, ob denn der Besitz Indiens seine
Opfer werth sei. Es giebt wohl heutigen Tages keinen Engländer
mehr, der nicht in dem Abfall der Vereinigten Staaten von dem
Mutterlande eine Wohlthat für seine Heimath erblickte. Neu ist
es aber, dass man auch ein Aufgeben Indiens für einen weisen
Entschluss anzusehen beginnt, und dass gegen das Westminster
Review das torystische Quarterly aufgetreten ist, um zu beweisen,
dass Indien noch einen Werth für England besitze und seine
70,000 Mann Besatzung werth sei.
Zunächst ist es überhaupt schwierig, etwas aufzugeben. Oester-
reich hat sich sicherlich verstärkt durch den Verlust seiner italie-
nischen Gebiete. Aber auf die Lombardei, auf Venedig verzich-
ten, ohne gefochten zu haben, wer hätte Oesterreich das ernsthaft
zumuthen wollen? Hat es an innerer Kraft auch nicht eingebüsst,
an äusserem Glänze hat es jedenfalls verloren. England wäre als
Kriegsmacht viel stärker, wenn es Indien aufgäbe, aber an
irdischem und historischem Glanz würde es um so viel ärmer,
das Hochgefühl der Nation würde herabgesetzt, sie träte eine
Rangstufe tiefer, und sie wird daher lieber auf eine europäische,
als auf ihre asiatische Rolle verzichten. Ausserdem ist Indien für
362
Zur Länder- und Völkerkunde.
England das nämliche wie Algerien für Frankreich, eine Kriegs-
schule für Truppen und Feldherren.
Man täuscht sich auch, wenn man glaubt, ein Aufgeben In-
diens würde für Grossbritannien die nämlichen günstigen Folgen
haben wie der Abfall der Vereinigten Staaten. Die Vereinigten
Staaten waren nämUch eine Colonie Englands , besiedelt von der
gleichen Race, reif zur Selbstregierung, als sie sich losrissen , sie
waren vor allen Dingen eine consumtionsfähige Gesellschaft, der
europäischen Zufuhren bedürftig und zur Leistung der nöthigen
Rimessen befähigt. Indien dagegen ist keine Colonie Englands,
der Hindu nennt die britischen Inseln nicht sein Mutterland. In-
dien ist daher eine britische Eroberung und eine Domäne der
vereinigten Königreiche. Der britische Handel nach Indien setzt
eine britische Herrschaft in Indien voraus. Wollten die Engländer
sich begnügen, nur einzelne grosse Hafenstädte, wie Karratschi
am Indus, Bombay, Madras und Calcutta mit wenig zahlreichen
Garnisonen festzuhalten, so würde allerdings ein Theil ihres Han-
dels mit Indien sich retten lassen , aber die Werthzififern müssten
bedeutend sinken, denn es ist nur die europäische Herrschaft,
welche den Hindu befähigt, in grossem Massstab zu erzeugen und
in gleichem Massstabe zu verbrauchen. Zögen die Engländer aus
Indien ab, so gäbe es wieder, wie zuvor, innere Kriege, es wür-
den die künstlichen Bewässerungen verfallen, die Landwirthschaft
machte Rückschritte unter asiatischer Willkürherrschaft, und mit
dem Sinken der Production ginge auch die Consumtionsfähigkeit
verloren. Der indische Handel hat aber ganz gewaltige Grössen-
verhältnisse gewonnen. Die Werthe der Ein- und Ausfuhr be-
trugen
1S34— 35 14,342,000 Pfd. St.
1860 — 61 89,074,000 ,, „
Im letzten Jahre (1861) betrug die ausgeführte Baumwolle 369
Mill. Pfd. im Werthe von 9 Mill. Pfd. St., und sie hatte sich
1864 in Folge des amerikanischen Bürgerkrieges auf 502 Mill.
Pfd. an Gewicht gehoben. Hätte Indien die Lücke, welche das
Ausbleiben der amerikanischen Baumwolle Hess, nicht einigermassen
ausgefüllt, so würde das Elend der Spinner- und Weberbevölkerung
in England noch unendlich grösser gewesen sein. Ganz ähnlich
erging es, als während des Krieges in der Krim die Zufuhren
Der Werth Indiens für England. ^63
russischen Hanfes ausblieben. Damals brachen sich indische
Pflanzenfasern als Surrogate Bahn , und die aufblühende Ausfuhr
von Jute hob sich von 409,243 Pfd. St. im Jahr 1860 auf einen
Werth von 1,598,084 Pfd. St. im Jahr 1863. Indien verspricht
auch neuerdings England einigermassen die Unabhängigkeit von
chinesischen Märkten durch seine Theepflanzungen , wenn auch
die Werthe der Theeausfuhren sich nur langsam in der Zeit von
1860 — 1863 von 101,693 Pfd. St. auf einen Werth von 222,035
Pfd. St. hoben.
Wenn England Indien aufgeben wollte, so Hesse es dort an-
sehnliche Capitalanlagen im Stiche. Eine parlamentarische Un-
tersuchung hat ergeben , dass von indischen Staatseinnahmen in
England bezahlt werden, an
Zinsen für Actien der alten ostindischen
Compagnie 629,970 Pfd. St.
Zinsen für engHsche Darlehen an Indien 1,372,599 „ „
Pensionen für Civilbeamte 246,918 „ ,,
„ ,, Militärbeamte 1,165,043 „ ,,
,, ,, Marinebeamte 53>95i » "
Zinsengarantien für Eisenbahnen 1,669,283 „ ,,
5,137,764 Pf. St.
Capitalisirt man diese Rente zu 3 Proc, so gelangt man zu einer
Summe von 173 MiUionen, und schlägt man dazu noch die capi-
talisirten Zinsen für Eisenbahnen, die mit englischem Geld in In-
dien erbaut worden sind, so erhöht sich das Capital auf 200 MilL,
will sagen auf eine Summe, die dem vierten Theil der englischen
Nationalschuld gleich kommt. Gar nicht berechnen lassen sich
ferner die Summen, welche britische Officiere und Beamte an
Ersparnissen von ihren Gehalten nach Hause senden , obgleich
sie in neuerer Zeit wegen der Lebensvertheuerung in Indien sehr
knapp geworden sind. Darin hauptsächlich besteht der materielle
Genuss des britischen Volkes , dass in Indien eine Legion von
Beamten und Officieren Anstellungen finden, die sehr viele von
ihnen befähigen, einen fürstlichen Haushalt zu führen.
Mit dem indischen Handel fiele auch die Schifffahrt nach
Indien. Zur Vermittelung des Verkehrs dorthin dient eine
Dampferflotte, welche grösser ist, als die einer andern europäischen
364
Zur Länder- und Völkerkunde.
Seemacht, Frankreich und Russland ausgenommen. Die Flotte
der Peninsular and Oriental Company zählt 64 Dampfer von
90,545 Tonnen Register und 18,649 Pferdekräften, die in Kriegs-
zeiten von England zur Verstärkung seiner Seekräfte beigezogen
werden können. An Eisenbahnen hat England in Indien Capita-
lien von 58 Mill. Pfd. St. angelegt, sie befinden sich in den
Händen von 36,533 Actionären, die sämmtlich bis auf 777 ihre
Wohnsitze in England haben. Es giebt, wenn man die Pensionäre
und Actionäre, welche von indischen Einkünften in England leben
zusammenzählt, 126,000 Personen, deren Rente vertreten wird im
Durchschnitt durch ein Capital von 1600 Pfd. St. Alle diese
Leute verlören ihren Zinsengenuss, wenn jemals Indien der Herr-
schaft der Briten entschlüpfte.
Vor dem Sipahiaufstande bot das indische Budget den
traurigen Anblick der fortgesetzten, wenn auch massigen Deficite.
Der Sipahiaufstand schwellte die indische Schuld noch beträcht-
lich auf, die Vermehrung der europäischen Truppen steigerte den
Aufwand für den Krieg, und die Herstellung eines Gleichgewichts
zwischen Einnahmen und Ausgaben erschien ganz hoffnungslos.
Es hat sich aber alles unerwartet gestaltet. Vor dem Sipahiauf-
stand betrug in den drei Jahren 1854 — 57 die durchschnitthche
Jahreseinnahme des indischen Schatzes 31,980,000 Pfd. St., 1861
war sie auf 43 IVIill. und 1863 auf 44 Mill. gestiegen. Von
dieser Mehreinnahme von 12 MilUonen sind nur vier Millionen
auf neu erschaffene Steuern zu rechnen, der Rest von 8 MiUionen
besteht aus dem Mehrertrag alter Steuern. Gegenwärtig besteht
die Roheinnahme aus 46,547,483 Pfd. St., von denen nach Abzug
örtlicher Lasten 36,895,318 Pfd. St. übrig bleiben. Die Kosten
der gesammten Verwaltung sowie der Zinsen für die indische
Schuld belaufen sich nur auf 29,814,211 Pfd. St. Es bleibt also
eine Reineinnahme von 7 Millionen Pfd. St. zurück. Von diesen
mussten allerdings wieder 1,395,285 Pfd. St. an garantirten
Zinsen für Eisenbahnen abgezogen werden. Der Rest aber und
ein kleines Deficit von 263,377 Pfd. St. diente zur Bestreitung
öffenthcher Arbeiten im Kostenbetrage von 5,685,817 Pfd.. St.
Letztere Summe ist ein angelegtes Capital, ein Zuwachs des fisca-
lischen Vermögens. Als ein solches sind namentlich die Bewäs-
serungsbauten von handgreiflichem Nutzen. Trotz seiner dichten
Bevölkerung liegen in Indien noch unermessliche Flächen unbe-
Der Werth Indiens für England. -165
baut, weil sie nicht bewässert sind, denn wo sich Wasser herbei-
schaffen lässt, ist der indische Boden fruchtbar. In der Präsident-
schaft Madras allein sind in den fünf Jahren 1860 — 64, je 500,000
Acres Land durchschnittlich in einem Jahre der Cultur gewonnen
worden.
Unter solchen Verhältnissen wird England gern auf allen
europäischen Glanz verzichten, um sich die fette Milchkuh im
Lande wo der Pfeffer wächst zu erhalten.
5. Süd und Nord in Deutschland.
(Ausland 1866. Nr. 7. 13. Februar.)
Leopold V. Buch pflegte scherzhaft zu äussern : Süddeutsch-
land beginne dort, wo man den Wein nicht mehr aus Kelch-,
sondern aus Schoppengläsern trinke. Er wollte damit sagen, dass
es keine Naturgränze gebe, die eine Zerstückung des Reiches be-
günstigen könne. Zwar giebt es in Deutschland selbst eine Natur-
gränze, aber nicht zwischen Nord und Süd, sondern zwischen
dem tiefen und hohen , zwischen Nieder- und Oberdeutschland,
zwischen den Räumen, die sich nirgends bis zu tausend Fuss
erheben , und solchen , die über tausend Fuss liegen. Mit dieser
Gränze, welche Mitteldeutschland trennt von den Küstennieder-
ungen, fällt so ziemhch auch der Unterschied der Sprachen des
Hochdeutschen und des Plattdeutschen zusammen. Unendlich
viele Norddeutsche verstehen unter Hochdeutsch eine Sprache der
Gebildeten im Gegensatz zu einer Art von Pöbelsprache, und
selbst in Süddeutschland giebt es noch viele gläubige Köhler,
welche sich einbilden, Kinder könnten nur eine „reine" Aussprache
sich aneignen im Dunstkreise einer hannoverischen Bonne. Sie
fürchten einen Fehler zu begehen oder bäuerisch zu reden, wenn
sie ein Wort, welches Stein und Spiel geschrieben wird, Schtein
und Schpiel aussprechen, während doch das Richtige wäre, dass
die Hannoveraner eher süddeutsche Bonnen anwerben sollten,
damit ihre Kinder Schtein und Schpiel sprechen lernen. Ueberall
wo das Hochdeutsch die Volkssprache ist, also in Süd- und Mit-
teldeutschland, herrscht jener Brauch der Aussprache. Das Hoch-
deutsch in Norddeutschland ist dagegen eine fremde importirte
Sprache , deren Worte dort nach den Regeln gesprochen werden,
die im Plattdeutschen gelten. Dass das Hochdeutsch kein Gegen-
Süd und Nord in Deutschland.
367
satz zu einer Vulgärsprache ist, lässt sich leicht nachweisen. Ein
hochdeutsch sprechender Pfarrer aus Norddeutschland kann, wenn
er das rasche Tempo seines Redeflusses mässigt, getrost irgend
eine Dorf kanzel in Süddeutschland besteigen, und seine Gemeinde
wird ihn verstehen bis nach Tirol und an die Gränzen von Italien ;
ein Süddeutscher dagegen, wenn er auch alle Eigenheiten seiner
heimathlichen Mundart völlig abgelegt hätte , wird von einer nur
plattdeutsch sprechenden Gemeinde nicht verstanden werden.
Und doch giebt es auch keine reinen Naturgränzen für das
platte und das hohe Deutsch, unter welchem letztern wir die
Mundarten von Mittel- und Süddeutschland zusammenfassen. Wenn
man von Bonn aus eine gerade Linie nach den Gränzen zwischen
West- und Ostpreussen und Polen zieht, so schneidet man genau
das plattdeutsche von dem hochdeutschen Gebiet ab. Aber diese
Linie führt uns mitten durch die hohen Länder östlich vom Rhein.
Also auch nicht Höhe oder Niederung scheidet die Sprachen,
denn im Harz wird noch plattdeutsch, und in der tiefen Rhein-
ebene von Bingen bis Basel wird hochdeutsch gesprochen. An
einzelnen Stellen jedoch bilden wichtige Abschnitte im Bau der
Stromgebiete Sprachgränzen. So beginnt das platte Sprachgebiet
genau bei der Einmündung der Sieg in den Rhein, bei der Ver-
einigung der Fulda und Werra zur Weser , bei dem Zusammen-
fluss der Saale in die Elbe, wie auch die Oder zwischen den
Mündungen der Neisse und Bober die Sprachgränze bildet. Nicht
leicht trennt irgendwo ein Gewässer die Mundarten schärfer, als
der Lech. Am linken Ufer ist alles schwäbisch, am rechten alles
bayerisch, so dass man auf der Westseite des Lechs sagt : es wird
gutes Wetter, denn wir haben bayerischen Wind bekommen. Der
Ostwind wird hier ein bayerischer Wind, wie bei den ItaHenern
der Nordostwind il Greco hiess, bei den Römern Africus der
Südwest.
Lässt sich eine geographische Gränze zwischen Mittel- und
Norddeutschland nur schwierig ziehen, so verfällt jeder Karten-
zeichner völliger Willkür, wenn er Gränzen zwischen Mittel- und
Süddeutschland feststellen soll. Wollte man sagen, Süddeutschland
sei das Gulden-, Mittel- und Norddeutschland das Thalerland, so
würde ein dualistischer Keil zwischen Sachsen-Coburg-Gotha hin-
eingetrieben, denn am Coburger Bahnhof werden die Fahrbillete
in Kreuzern, in Gotha nach Groschen berechnet. Man könnte
368
Zur Länder- und Völkerkunde.
dann im Ton von Leopold v. Buch auch sagen : Süddeutschland
beginne da, wo der Sechser zwei Groschen, Mittel- und Nord-
deutschland da , wo der Groschen zwei Sechser habe. Wer im
Norden den Süden, oder wer den Süden im Norden nicht kennt,
wird diese Rechnung gar nicht verstehen. Im Süden nennt man
einen Sechser ein Sechskreuzer- und einen Groschen ein Drei-
kreuzerstück, im Norden einen Groschen ein Zwölf-Pfennig- und
einen Sechser ein Sechspfennigstück; aber auch diese Unterschei-
dung schwindet täglich, seitdem man im Süden und selbst in
Oesterreich Thaler prägt, und im Norden theilweis die Zwölftel-
theilung des Groschens einer Decimaltheilung hat weichen müssen.
Doch giebt es immerhin noch Unterschiede zwischen dem
Hochdeutschen im südlichen und im mittleren Deutschland, wenn
auch nicht in der Schrift-, doch in der Verkehrssprache, und nicht
bloss in der Sprache, sondern selbst in der Küche. Der Norden
salzt die Butter, oder wie man auch bisweilen im Süden sagt,
den Butter, der Süden dagegen isst süsse Buter und bereitet die
Speisen mit Schmalz (geschmolzener Butter), ein Ding und ein
Ausdruck, der in denjenigen Theilen Mitteldeutschlands, die wir
kennen, völlig urgewöhnhch ist. Nur in Süddeutschland legen die
Hasen Eier, freilich nur in der Fastenzeit bis Ostern. Aber wie
das Weihnachtsfest mit seinem Lichterbaum, eine altheidnische
Feier der Wintersonnenwende und ein Gegenstück zu den Berg-
feuern der Johannisnächte, allmählich aus Mitteldeutschland nach
Süden vorgedrungen ist, so wird umgekehrt der Osterhase und die
Ostereier, die übrigens auch in Paris ihre Rolle spielen, nach und
nach den Norden heimsuchen. Beim Weihnachtsfest scheiden sich
nord- und süddeutsche Gebräuche durch eine katholisirende Nuance
der letzteren. Ein Weihnachtsbaum in Süddeutschland, gleichviel
ob er ein protestantisches oder katholisches Haus ziere, wäre kein
rechter Christbaum, er trüge denn unter den grünen Zweigen ein
Engel Wachsbild mit goldenen Flügeln, das Christkind (ausge-
sprochen Christkindl) , welches den ikonoklastischen Tendenzen
eines rein gewaschenen Protestantismus doch höchst anstössig und
höchst verderblich erscheinen müsste.
Kleine Schattirungen in der Umgangssprache finden sich un-
zählige, und wer von Nord nach Süd oder von Süd nach Nord
versetzt wird, hat manches zu vergessen und manches zu erlernen.
Hat mein Freund das zweite Stockwerk eines Hauses in Leipzig
Süd und Nord in Deutschland. 2 60
inne, so besuche ich ihn dort „über zwei Treppen", in München
„über zwei Stiegen." Besuche ich in Leipzig meinen Freund über
zwei Treppen, so muss ich an seiner ,,Vorhausthüre" klingeln,
in München dagegen schelle ich an seiner ,,Hausthüre". In
einem von Heinrich Laube's Stücken kommt ein Bedienter herein-
geschlichen und meldet seiner Herrschaft: es habe geklingelt. Aus
dem Gebrauch dieses Zeitwortes kann man schliessen, dass Hein-
rich Laube entweder von Geburt ein Norddeutscher ist, oder doch
zur Zeit, wo er das Stück schrieb, in Norddeutschland gelebt hat.
Was würde ein norddeutscher Familienvater sagen, wenn ein
eilfj ähriges Töchterchen vom Buche aufschauend an ihn die Frage
richtete : Papa, was für ein Thier ist denn eigentlich ein Sperling ?
Dieser absonderliche Fall hat sich wirkHch zugetragen und ist ganz
natürlich, denn in Süddeutschland führt die Spatzenschaft nur einen
einsylbigen Namen. Der Verfasser erinnert sich aber sehr deut-
lich, dass er etwa so alt wurde wie jenes sperlingsunkundige Ge-
müth, als ihm plötzlich die Schuppen von den Augen fielen, dass
der Gockel und der Haushahn eine und dieselbe Anstandsperson
sei. Ein Norddeutscher wird wissen, dass Ross und Gaul syno-
nym sind mit Pferd, aber Ross und Gaul findet er nur in der
Dichtersprache. Wollte er sagen : ich habe ein Ross gekauft, so
würde man ihm das als Affeetation übel nehmen, und nie wird
er es über die Lippen bringen, zu seinem Stallknecht zu sagen:
„Sattle mn- meinen Gaul", denn Gäule in der norddeutschen Um-
gangssprache spannt nur ein Fuhrmann vor den Frachtwagen.
Das Thier, welches im Linne'schen System Capra domestica heisst,
wird in Mittel- und Norddeutschland Ziege, in Süddeutschland
Gais genannt, und obgleich man in Süd und Nord beide Aus-
drücke versteht, so ist doch nur der eine gebräuchlich. In Süd-
und Norddeutschland sagt man ein Rehbock, aber nur in Süd-
deutschland spricht man von Reh- und Hirschgaisen. Im Norden
ist die Gemahlin des Hirsches eine Kuh, wie man sich aber cor-
rect ausdrückt, wenn man ein weibHches Reh erlegt und „einen
Bock schiesst", indem man eine Gais trifft, vermag der Verfasser
leider nicht zu sagen. Was die Sprache der Speisezettel betrifft,
so kommen schon Unterschiede zwischen dem eigentlichen Süd-
deutschland und Oesterreich vor, und ein Münchner befindet sich
in der nämlichen Verlegenheit wie ein correcter Berliner, wenn er
auf der Karte eines Wiener Gasthofes einen Esterhazy- und einen
Peschel, Abhandlungen. II. 24
370
Zur Länder- und Völkerkunde.
LungeRbraten findet. Ein Nordländer wird sehr weit fehl greifen,
wenn er sich in München ein Gans- oder ein Hasenj ung bestellt,
in der Meinung, eine junge Gans oder einen jungen Hasen vor-
gesetzt zu bekommen. Erscheint die Schüssel, so wird er sich
einem Gans- oder Hasenklein gegenüber befinden. Das edle
Erzeugniss der Milchwirthschaft, welches der Süddeutsche Topfen
nennt, und welches er zur höchsten Verklärung iia einen Topfen-
kuchen verwandelt^ ist dem Norddeutschen so unbekannt wie
,, böhmische Dörfer", denn er bezeichnet das Product respects-
widrig als Quark und isst auch ohne zu erröthen seinen Quark-
kuchen.
Eine Anzahl Ausdrücke, die in Süddeutschland in der arg-
losesten Unterhaltung wiederkehren , lernt der Norddeutsche nur
aus der Sprache der gebundenen Rede. Ein Gutsbesitzer im
Norden wird niemals zu seines Gleichen sagen: ,,ich habe meinen
Weiher verpachtet", wenn er von seinen Karpfenteichen reden
will. Das Wort Au ist gänzhch aus der Sprache des Nordens
verschwunden, in München heisst der Stadttheil zur Linken der
Isar, oder links der Isar, wie man in München selbst sagt,
die Au, und wer da die Schönheiten des englischen Gartens zu
würdigen versteht, war nicht schon eingekehrt beim Aumeister?
Den meisten Unterschieden begegnet man aber bei den häus-
lichen Geräthen und bei den Handwerksnamen, und zwar wieder-
holt sich auch dort wieder die Erscheinung, dass Ausdrücke, die
man in Mitteldeutschland nur noch in der Dichtersprache wieder-
findet, im Süden noch im Mund des Volkes leben. Das Wort
Truhe für einen Kasten mit einer Klappe ist noch völlig vulgär
im Süden, Ginge jemand in Berlin zu einem Tischler oder
vielmehr Tischlähr, wie man dort das Wort ausspricht, so würde
er nicht verstanden werden , wenn er eine Truhe sich bestellte.
Tischler giebt es nur nördlich vom Main, südwärts heissen sie
Schreiner, obgleich der edle Ausdruck Schrein auch dort mehr
und mehr verschwindet. Was ein Topf ist, weiss jedermann
im Süden, denn er kennt das Ding aus der Bibelübersetzung durch
die Fleischtöpfe Aegyptens, aber das Wort selbst ist nicht im
Verkehr gebräuchlich. In Mitteldeutschland dagegen ist der Aus-
druck Hafen völlig fremd und wird auch nicht verstanden.
Niemand , wer es nicht wüsste , ahnt dort , dass ein Hafner und
Töpfer in der menschUchen Gesellschaft dieselben Verrichtungen
Süd und Nord in Deutschland.
371
ausüben. Kommt jemand aus Mitteldeutschland nach dem Süden
und sieht er am Ladenschild den Namen eines Spenglermeisters,
so muss er erst hinein durch die Fenster schauen, um zu merken,
dass er es mit einem Klempner zu thun hat. In ganz Deutsch-
land weiss man, dass Metzger und Fleischer synonym sind, allein
Metzger ist ausschliesslich im Süden, Fleischer ausschliesslich in
Mittel- und Norddeutschland gebräuchlich. Diess erstreckt sich
auch auf die Familiennamen. Es wird ebenso viel Mühe kosten,
im Süden jemand anzutreffen, der Fleischer, als im Norden je-
manden, der Metzger heisst. Ein Geschäftsmann, der mit noch
weiterhin benutzbaren Alterthümern an Kleidern und Hausgeräthen
handelt, heisst in Mittel- und Norddeutschland ein Trödler
(welches Wort genealogisch zusammenhängt mit dem englischen
to trade), im Süden ein Käufler, in Deutsch-Oesterreich ein
Tandler. Ein Bottig ist ein ungekanntes Hausgeräth im
Süden, daher kennt man dort keine Böttiger und keine Fami-
lien, die diesen Namen führen , sie wären denn eingewandert ;
dafür hat man dort das Schaff und die Schäffler, ein Aus-
druck, den man jetzt, seit die illustrirten Blätter das deutsche
Publicum mit dem Schäfflertanz in München bekannt gemacht
haben, auch im Norden verstehen wird. Ein Säckler heisst in
der süddeutschen Ladenschildsprache, was in der norddeutschen
Beutler ist. Zu den Fabrikaten, die aus Leder verfertigt werden,
gehören auch die Peitschen, eine Bezeichnung, die von keinem
Deutschen missverstanden wird; dafür hält m.an aber im Süden
immer noch das viel edlere Wort Geis sei fest, welches völlig in
der Verkehrssprache des Norden fehlt. Leser im mittleren und
nördlichen Deutschland werden erstaunen, dass der Süden von
Bindfaden nichts wissen will und, dass statt dessen ein Fremd-
wort aus dem Italienischen , Spagat, im Umlauf sich befindet.
Nicht minder überrascht, um nicht zu sagen empört, werden sie
sein, dass man im Süden nicht weiss, was eine Feueresse,
folglich, auch nicht, was ein Feueressenkehrer sei, da man sich
dort den Schornstein- oder Kaminfeger zum Reinigen der Schorn-
steine und Kamine bedient. Für Räumlichkeiten im Hause giebt
es auch besondere Bezeichnungen. Der Ort, wo die Wäsche ge-
reinigt wird, heisst in Mitteldeutschland ein Waschhaus, auch dann,
wo es nur im Hause liegt; der Süden hat dafür den guten Aus-
druck Waschküche. Bei Anzeigen von Wohnungsvermiethungen
24*
■}'j2 Zur Länder- und Völkerkunde.
in südlichen Tageblätttern lauten die technischen Ausdrücke etwa
so: ,,Eine Wohnung mit 4 Zimmern, Küche, Speise- und son-
stigem Zubehör ist sofort zu beziehen." Hier ist wohl der nörd-
liche Sprachgebrauch zwar langweiliger aber richtiger, wenn er
den Raum zur Aufbewahrung von Speisevorräthen eine Speise-
kammer nennt. Das Wort Wasen für ein mit Gramineen be-
decktes Stück Land ist wohl nicht in unsere Schriftsprache auf-
genommen, wenigstens findet man in den Abdrücken unserer als
classisch geltenden Prosaiker stets dafür Rasen. Was aber ein
Wasenmeister sei, wird niemand ausserhalb Süddeutschland,
wenn er es nicht schon weiss, aus dem Wort errathen , denn ob-
gleich dort die allgemein gültigen Ausdrücke Schinder und
Abdecker recht gut bekannt sind, so hält man doch, um den
Reichthum der Sprache nicht zu verringern, mit Vorliebe an dem
dritten Synonym fest. Wenn ein Hamburger oder Berliner Kind
in München sich verirrt, kann es an einem Schilde lesen, dass ein
Frauenzimmer ihre Dienste als Hofseelen-Nonne dem Publi-
cum anbietet. Was eine Hofseelen-Nonne sei, wird niemand nörd-
lich vom Main errathen, obgleich auch dort Mitglieder jenes weib-
lichen Ordens nicht fehlen. Es handelt sich nämlich um eine
Leichen Wäscherin, und die Vorsatzsylbe Hof- ist nur ein
praefixum majestatis. Ob es auch Hofleichenwäscherinnen im
Norden giebt , wissen wir nicht aus eigener Erfahrung , zweifeln
aber keinen Augenblick daran, da die nördlichen Handwerksleute
viel mehr als die südlichen zur Nobihtirung ihrer Ladenschilder
sich Titelzusätze erkaufen. Eine Geheime-Ober-Hof-Buchdruckerei,
mit welchem Titel sich eine Berliner Firma hat behaften lassen,
wäre geradezu in München ein Ding der Unmöglichkeit, denn sie
verfiele dem grausamsten Volksspott. Was die Prädicate betrifft,
so wird überhaupt der Norden Deutschlands von keinem Volke,
selbst von den Spaniern nicht, an Mandarinenstyl überboten.
Frauen den Beamtentitel ihres Mannes zu geben, ist zwar im Sü-
den nicht ungebräuchlich, aber weit seltener als im Norden. Wer
daher sammt seiner Ehehälfte einen sauer erkauften Geheimen
Raths-Titel gemessen will, bleibe auf der kalten Seite vom 50.
Breitengrade. Im Norden gebührt der Titel Professor nur dem
Lehrer an einer Hochschule, und wem er sonst gegeben werden
sollte, der verdankt ihn nur der Courtoisie oder dem Missbrauch.
Im Süden ist beinahe jeder Lehrer an einer Schule, die höher
Süd und Nord in Deutschland.
373
steht als die Volksschule ein Professor, daher die Lehrer an den
Hochschulen, welche Werth auf den Genuss ihres Titels legen, an
ihren Thürschildem als Universitätsprofessoren sich ankündigen
und auch das D. vor den Namen beifügen. Im Norden ist ein
Student nur derjenige, welcher an einer Universit-ät immatriculirt
ist, im Süden nennt man im laxeren Sprachgebrauch alle Gymna-
sialschüler Studenten. Bei Einführung der neuen Hülfsmannschaft
an den Strassenecken trennte sich sogleich der Sprachgebrauch
im Norden und im Süden; dort heissen sie Dienstmänner, hier
Packträger, doch wird der letztere Ausdruck jetzt bereits verdrängt
durch den andern, der den damit Behafteten süsser zu klingen
scheint, wie etwa auch der Titel eines Geheimen Oberhofbuch-
druckers das Bewusstsein einer viel höheren Menschenwürde ein-
schliessen mag als der eines geheimnisslosen Untervolks -Buch-
druckers.
Diess ist unser ganzer Vorrath von örtlichen Unterschieden
in der hochdeutschen Umgangssprache, und wir haben Jahre ge-
braucht, ehe wir dieses Verzeichniss uns sammelten. Ohne Zweifel
werden gebildete Philologen und Germanisten diesen Vorrath be-
trächtlich vermehren, ja vielleicht ein Wörterbuch anfertigen kön-
nen für die Ausdrücke, welche nur in der einen oder andern
Hälfte gebräuchlich sind. Von häufiger wiederkehrenden Wörtern
sind aber obige Beispiele, die vornehmsten, und wir wollten nur
beweisen, dass die Unterschiede sehr spärliche sind, dass sie kei-
nesfalls viel zahlreicher sein können, wenn man sich von Nord
nach Süd, als wenn man um ein gleiches Stück sich von Ost nach
West, beispielsweise aus Schlesien nach der Rheinpfalz bewegen
würde.
Obgleich das folgende nicht recht zum vorigen passt , möch-
ten wir doch auf einen falschen Sprachgebrauch in Mittel- und
Norddeutschland aufmerksam machen, der, so oft er auch schon
gehört worden ist, im Süden immer stille Heiterkeit zu erwecken
pflegt. Jenseits des 50. Breitegrades etwa sagt Männlein und Weib-
lein: das Bier oder der Wein schmeckt schön. Ein geistes-
gesunder Berliner ist sogar im Stande zu sagen : die Torte schmeckt
reizend, ohne bei Standesgenossen dadurch lächerlich oder auf-
fällig zu werden. Das Wort schön wird im Süden nur angewen-
det, um eine ästhetische Befriedigung über eine Form, Farbe oder
einen Ton auszudrücken. Was man sieht oder hört, kann schön
■yn. Zur Länder- und Völkerkunde,
sein. Die Glocke hat einen schönen Klang, das Meer eine schöne
Farbe und der Mensch eine schöne Gestalt. Was wir aber mit
der Nase und der Zunge abschätzen, hat nur einen guten Geruch
und einen guten Geschmack. Daher sagt man im Süden, ein
Gericht schmecke gut, eine Cigarre rieche schlecht. Denn der
Gegensatz von schön ist hässlich. Kann man von einer Limo-
nade sagen, selbst wenn es die berühmte aus Kabale und Liebe
wäre, sie schmecke hässlich?
(
Wanderziele der Deutschen.
(Deutsche Vierteljahrsschrift 1861. Heft IV. Nr. 96.)
Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten wird wohl manchen
Auswanderer in der Heimath zurückgehalten oder andere , die
bereits ihr Bündel geschnürt und der alten Welt die Liebe aufge-
kündigt hatten, genöthigt haben, sich nach andern Wanderzielen
der westlichen oder östlichen, der südlichen oder der nördlichen
Hemisphäre umzuschauen. Mit solchen Leuten, die bereits unter
der Thür stehen, und dem Vaterlande unter allen Umständen ver-
loren sind, wollen wir jetzt überlegen, wohin überhaupt sie bedacht-
samerweise ihre Schritte lenken können; wir wollen mit ihnen
mustern, was die fernen Räume den Auswanderern gewähren oder
versagen, und wollen schliesslich noch erwägen, ob es und unter
welchen Verhältnissen es noch immer das Klügste wäre, sich trotz
allem Bürgerkrieg unter das Sternenbanner zu flüchten. Wir
sprechen aber hauptsächlich nur mit solchen Auswanderern, denen
es im Sinne liegt, Grundbesitz zu erwerben und Landwirthschaft
zu treiben. Diejenigen nämlich, welche gelehrte Berufe verfolgen,
Aerzte , die irgend anderswo Praxis , Advocaten , die Processe
suchen, schiffbrüchige Politiker, welche der Ansicht sind, dass es
noch zu wenig Zeitungen in der Welt gäbe und die den Beruf
fühlen , diesem Bedürfniss bei den Antipoden abzuhelfen , Theo-
logen, die ein eigenes ReUgiönchen erfunden haben und Anhänger
für eine neue Spaltung brauchen, bedürfen unserer Erörterungen
nicht, denn es bleibt ihnen ohnehin keine andere Wahl, als der
städtereiche Osten der Vereinigten Staaten, wo sie im Grunde
nur die einheimische europäische mit der fremden überseeischen
Stadtluft vertauschen.
376
Zur Länder- und Völkerkunde.
Der Entfernung nach das nächste Ziel für einen deutschen
Auswanderer ist Ungarn , und es giebt noch immer sehr viele
wohlmeinende Patrioten, die in einer Ablenkung des Auswanderer-
stromes donauabwärts das Wachsthum des Vaterlandes und die
Erfüllung unseres nationalen Berufes erblicken. Zu Gunsten Un-
garns lässt sich nur anführen, dass der Colonist, wenn er seinen
Entschluss bereut, leichter wieder in die Heimath zurückgelangt,
dass er von dieser überhaupt nicht vöUig losgerissen wird. Vor
dem Jahre 1859 konnte man noch anführen, dass der Auswan-
derer in Ungarn den Schutz von Gesetzen und Obrigkeiten fand,
wie er sie in der Heimath gewöhnt war. Wer aber heutigen
Tages noch zu Auswanderungen nach Ungarn rathet, der weiss
nicht, was er anstiftet. Es ist bekannt, dass wenn dort sich ein
Einzelner niederlässt — es sei denn in den deutschen Gemeinden
des Banates und Siebenbürgens — er sicherlich in kurzer Zeit an
Körper und Vermögen zu Grunde gerichtet wird. Als im Anfange
der 5or Jahre unsere ungestümen Patrioten halb Ungarn mit
deutschen Auswanderern anfüllen wollten , erging von Seite der
kaiserlichen Regierung selbst eine öffentliche Warnung. Ansiede-
lungen in Ungarn , hiess es darin, können nur gelingen, wenn sie
im Grossen und gemeindenweise (wie unter Maria Theresia) aus-
geführt werden. Solche Ansiedelungen aber könne nur die Re-
gierung selbst veranstalten, und bevor sie dergleichen Versuche
nicht in die Hand nehme, möge jeder gewarnt sein, nach Ungarn
zu wandern. Nie ist es seitdem der Regierung eingefallen, solche
Ansiedelungen zu begünstigen oder ihre Leitung zu übernehmen,
obgleich jetzt durch die Regulirung der Theiss Sumpfland von
der Ausdehnung eines deutschen Herzogthums in Nutzgründe ver-
wandelt und gesund gemacht worden ist. So lange also die Re-
gierung nicht ruft, lasse sich niemand locken. Die Regierung
allein kann dem Ansiedler oder seinen Nachkommen eine Ent-
schädigung für das gewähren, was er in den überseeischen Ge-
bieten voll geniesst, nämlich Freiheit vom Militärdienst und von
den meisten directen Abgaben seiner europäischen Heimath. Und
selbst wenn die Regierung in beiden Stücken Opfer biingen
würde , so findet sich doch in Ungarn für den echten Colonisten
nicht das höchste Gut , wegen dessen allein er die Heimath ver-
lässt, nämlich wohlfeiler Grundbesitz. Seit der Vollendung
der Eisenbahnen sind in Ungarn die Güter um das Doppelte odei
Wanderziele der Deutschen.
377
Dreifache gestiegen, so dass das ehemalige herrschafthche Eigen-
thum, obgleich es durch Aufhebung der Frohnden gegen eine
sehr geringe Entschädigung die grössten Verluste erlitt, dennoch
in der robotlosen Zeit mehr werth geworden ist, als vordem.
Den Germanisirungsschwindlern aber geben wir zu bedenken, dass
alle Einfuhr deutschen Blutes in Ungarn — mit einziger Aus-
nahme Siebenbürgens — die Zahl der Nationalitätsnarren auf
magyarischer Seite nur vermehrt hat. Ein grosser Theil der
Hauptschreier in den Comitaten und bei den Tafeln sind mas-
kirte Ungarn, eingewanderte Deutsche, welche ihren ehrlichen
Elternnamen übersetzt haben. Wir berufen uns auch auf die Ge-
schichte der Jahre 1848 und 1849, wo — immer mit Ausnahme
Siebenbürgens — die Deutschen in Ungarn Partei nahmen für
die Magyaren und mit ihnen verbündet den Rassenkampf gegen
die getreuen slavischen Stämme führten. Hat man diese Begeben-
heiten im Auge, so muss man ernstUch fragen, ist es politisch,
einem Volke , wie den Ungarn , die allem deutschen Wesen den
Krieg erklären, Ueberläufer anzuwerben?
Das nächste Ziel, wohin sich von Alters her die deutsche
Auswanderung gewendet hat, ist Russland. Deutsche Colonien
und zwar echte Colonien aus Landwirthen und Handwerkern ge-
bildet, finden sich sporadisch im ganzen Süden Russlands bis zur
Wolga und bis nach Tiflis, compact dagegen in Neurussland, wo
ihre Anzahl (einschliesslich der deutschen Juden, die etwa ein
Achtel der Masse bilden) im Jahre 1858 auf 211,836 Köpfe sich
beUef. Zusammen besassen sie 1,820,976 Dessjätinen Grund und
Boden oder etwa 20 Morgen auf den Kopf, ein reichhches Mass
für eine neben der Viehzucht auch Ackerbau treibende Bevölkerung.
Auswanderer, die sich dort ansiedeln w^ ollen, werden sich rascher
als anderwärts heimisch fühlen, denn die altern Auswanderer, meist
aus Baden und Würtemberg stammend, haben die deutsche Sprache,
ja sogar den Dialekt, sowie die deutschen Trachten treu erhalten.
Mit geringen Ausnahmen sprechen die Colonisten aber auch ein
schlechtes Russisch. Alle ihre Ortschaften führen deutsche Namen,
wie Heidelberg, Mannheim, Stuttgart , Teplitz u. s. w., oder man
hat auch neue sentimentale Namen , wie Rosenthal , Liebenthal,
Lustdorf, geschafifen. Im Allgemeinen herrscht überall in diesen
Dörfern Wohlstand , und einzelne Sonntagskinder haben sich , wie
der Millionär Corniess, grosses Vermögen oder wie Friedrich Fein
378
Zur Länder- und Völkerkunde,
aus Chemnitz in Sachsen, Landbesitz von der Grösse eines
deutschen Fürstenthums mit Heerden bis zu 300,000 Häuptern
erworben. Von Seiten der russischen Regierung wurden die
deutschen Einwanderer bevorzugt, weil man hoffte, sie würden in
Neurussland Muster verbesserter Landwirthschaft einführen. So
haben, vor allem die Mennoniten, diese Aufgabe gut gelöst, zuerst
nach einem Dreifelder- und in neuer Zeit einem Vierfeldersystem
gewirthschaftet und auch den Weinbau (Bessarabien) verbreitet,
wogegen die Natur der südrussischen Steppe weder Obstbau noch
Forstcultur sich aufzwingen Hess. Somit hat die russische Re-
gierung alle ihre Zwecke erreicht, welche sie im Auge hatte, als
sie diese fremden Elemente in ihr Reich rief.
Wenn wir aber nachforschen, zu welcher Zeit und aus welchen
Motiven Deutsche nach Russland auswanderten, so erfahren wir,
dass die ältesten Ansiedelungen aus dem Jahre 1787 stammen.
Der Einwanderung besonders günstig waren aber die Jahre 1804,
1809, 181 5, 1816 und 1817 , also zum Theil Kriegsjahre oder
Jahre nach verheerenden Kriegen. Neue Ansiedelungen sind aller-
dings selbst im Jahre 1855 noch entstanden, es waren aber Töchter-
ansiedelungen, die von älteren Auswanderern gestiftet wurden.
Die Beweggründe endlich sind meistens religiöse gewesen, denn
es waren deutsche Secten, die unter dem Schutze der kaiserlichen
Regierung Ungestörtheit in der Ausübung ihres abgesonderten
Cultus suchten. So bestehen die Colonisten Neurusslands abge-
sehen von den Katholiken , Protestanten und Reformirten , aus
einer ansehnlichen Zahl Mennoniten, Hutter'schen Brüdern, Sepa-
ratisten, Zioniten u. s. w. Die Auswanderung nach Neurussland
ist übrigens jetzt so gut wie erloschen und könnte neuerdings nur
stattfinden, wenn die kaiserUche Regierung einen Ruf erliesse.
Auch in Russland findet der Ansiedler nicht die Aussicht, für
sich und seine Nachkommen vom Militärdienst und von drücken-
den Steuern und Abgaben auf längere Zeit befreit zu bleiben').
Wenn wir uns weiter in der alten Welt umschauen, so wird
der Unterrichtete auf den ersten Blick erkennen, dass Asien
nirgends Raum für deutsche Auswanderer hat. Die Geschichte,
i) Nähere Nachweise bei Freiherrn von Haxthausen , Studien über Russ-
land Bd. 2, S. 172 S. 277, und „Ausland" Jahrgang 1860; Die deutschen
Colonien in Neurussland Nr. 14 u. 15.
Wanderziele der Deutschen. 379
sagt inan ja jetzt sprichwörtlich, bewegt sich westwärts. Das ein-
zige Feld in Asien, wo neue Ansiedelungen sich ausdehnen und
wo die Geschichte auch ostwärts rückt, sind die sibirischen Steppen
bis zum Fusse der centralasiatischen Alpen. Diese mächtigen
Räume, deren nördliche Ränder bis an das ewige Eis reichen,
mit einem kurzen, aber heissen Sommer, welcher die Halme auf
der Weide versengt, und einem langen und strengen Winter ist
schon längst in das Eigenthum einer sehr begabten und abenteuer-
lustigen Nation, in die Hände der Kosaken gefallen, die jetzt
wieder, wie zu den Zeiten ihres höchsten Glanzes, die nördlichen
Ufer des Amur beherrschen, und andererseits wieder über die
Steppen der kirgisischen Horden ihre Herrschaft ausgedehnt haben
und bereits ihre bewaffneten Posten an die Thore nach dem
warmen chinesischen Kaschgarien ausstellen. In jene Räume,
wohin der russische Staat seine gefährHchen Säfte, politische wie
gemeine Verbrecher, als Verbannte oder, wie die Sibirier sympa-
thisch sich ausdrücken, als „Unglückliche" absetzt, sind deutsche
Auswanderer freiwillig noch nicht gedrungen, auch müsste man sie
zuvor rufen, ehe sie kommen dürften. Mit Ausnahme aber der
nördhchen Steppen giebt es in Asien südlich von den grossen
Centralketten keinen Winkel dankbaren Landes, den nicht bereits
ein Culturvolk sich angeeignet hätte. Man kann nicht einmal
Indien eine enghsche, die Sundainseln niederländische Colonien
nennen, wenn man unter einer Colonie die sesshafte Besitznahme
fremden Landes versteht. Die Engländer sind in Indien, was sie
noch unter Warren Hastings waren, Eroberer und Kaufleute, die
nur kommen um wieder zu gehen , nie in den eroberten Reichen
eine neue Heimath sehen, sondern nur eine Station zum Geld-
erwerb. Und das Gleiche gilt von den Holländern im östlichen
Archipel. Sie gehen nur dorthin , um ein Vermögen zu suchen
oder das Grab. Für Deutsche als Colonisten ist dort gar nichts
zu suchen, höchstens dass sie sich den Holländern zum Kriegs-
dienste verdingen.
Weit bessere Gelegenheit bietet Afrika, und zwar zunächst in
Nordafrika Algerien. Einen Vortheil geniesst der Auswanderer
dort jedenfalls: wenn ihm das Heimweh keine Ruhe mehr lässt»
kann er in wenig Tagen wieder die Kirchthürme seiner Sehnsucht
erbhcken. Dann ist das Land selbst einer der gesundesten Räume
der Erde , und in Bezug auf das Pflanzenwachsthum gehört es zu
38o
Zur Länder- und Völkerkunde.
der äusserst schmalen bevorzugten Zone , wo die Cultur der
Dattelpalme und des Weinstocks sich begegnen. Man darf sogar
keck fragen, was gedeiht in Algerien nicht? Ausser einigen streng
tropischen Gewächsen fast alles, was als edel oder köstlich ge-
priesen wird. Wer also den Beruf fühlt, für den Gemüsemarkt in
Paris, in Strassburg, in allen Städten am Rhein grüne Erbsen im
November, Salat im ganzen Winter, und Spargel seit Januar zu
bauen, der gehe schleunig nach Algier, denn seit der Erleichterung
und Beschleunigung des Verkehrs über Meer und Land ist Algier
das Frühbeet für alle Feinschmecker in Mitteleuropa geworden.
Aber natürlich kann nicht jedermann Gärtner sein wollen und
Salat begiessen. In Algier jedoch ist auch der Fruchtbau im
engern Sinne nicht minder lohnend als der Gartenbau. Es beginnt
jetzt, wie es ehemals Rom und das hungernde ItaUen fütterte,
reichlich seine Brodstotfe nach Frankreich auszuführen, und diess
scheint auch sein v\'ahrer geographischer und ökonomischer Beruf
zu sein. Die Franzosen in ihrem Protectionsfieber haben nach
Algier exotische Culturen versetzen wollen , z. B. die Zucht von
Cochenilleläusen auf der Feigendistel (Nopal) und mit Hülfe un-
sinniger Prämien die Cultur der langen seidenartigen Baumwolle.
Es ist nun keine Frage, dass Algier vollständig das Klima für
Nopalerien besitzt und seine Baumwolle auf den Märkten unbe-
dingt wegen ihrer Güte so hohe oder höhere Preise erzielen könnte,
wie die Sea Island- und die ägyptischen Sorten , aber beide
Erwerbsarten lassen sich ohne hohe Schutzzölle, also ohne Gefähr-
dung des öffentlichen Wohlstandes auf die Dauer nicht fortsetzen,
und man muss der kurzen bürgerlichen Verwaltung Algeriens
unter Prinz Napoleon nachrühmen, dass sie die Prämien für die
Cochenillezüchter aufhob und für die Baumwollenbauer eine sin-
kende Scala mit Ablauf von lo Jahren einführte. An Mannig-
faltigkeit der Producte ist kein Land ohnehin so reich wie Algier.
Es besitzt Obstbau , Dattel- und Weingärten , es baut , wie das
südliche Frankreich Blumen für Essenzfabrikation, man treibt auch
mit Nutzen den Bau von Farbpflanzen, endhch aber wird der
dortige Tabak wegen seiner Güte gepriesen und hoch bezahlt.
Eine eigenthümliche und jetzt höchst einträgliche Cultur — wenn
man von Cultur sprechen kann, wo vorläufig nur vorhandene
Schätze ausgebeutet werden — ist die der Korkeichen , welche in
Wäldern am nördlichen Rande Algiers angetroffen werden.
Wanderziele der Deutschen.
381
Die Franzosen haben etwa vier Millionen Hektaren zur Ver-
fügung, sie wünschen und begünstigen Einwanderer, sie sind auch
nicht spröde, sie verlangen nur, dass ein Einwanderer 300 Franken
Vermögen nachweise, um ihm unentgeltlich etliche zwanzig Hek-
taren Land anzuweisen. Und dennoch ist dieses Canaan noch
leer von Einwanderern , obgleich sich alle Semester einmal die
Pariser Journale für deutsche Auswanderung nach Algier interes-
siren und darauf sicher meinen , jetzt endHch werde der grosse
atlantische Auswanderungsstrom mediterraneisch werden. Trotz
dem Aushängeschild: ,,Hier sind Rittergüter umsonst zu haben",
wollen sich keine Liebhaber finden. Zwar in allerneuester Zeit
ist das Tempo der Einwanderung ein wenig mehr allegro ge-
worden, und hat sich die Zahl der Europäer von 180,472 Köpfen
am 31. December 1857 auf 208,476 am 30. Juni 1860 (Dauer
der bürgerlichen Verwaltung) gesteigert, man sieht aber, dass der
durchschnittliche Zufluss in der Zeit der 30jährigen Herrschaft der
Franzosen nur 6000 jährlich betrug. Unter den 208,476 ,,Colo-
nisten" aber finden sich schwerlich nur 20,000 Landwirthe , oder
100,000 Personen, die vom Ackerbau leben, denn die Einwan-
derung besteht notorisch dem grössten Theile nach aus Gast-
wirthen, Kellnern, Schauspielern, Sängern, Tänzern und etUchen
wenigen Handwerkern und Handelsleuten, kurz aus dem Tross
eines erobernden Heeres. Man sagt dem Franzosen gern nach,
dass er, wohin er immer komme, ein Theater, ein Kaffeehaus und
ein Billard besitzen müsse. Dieser Art von ,,Civilisation" und
,,Colonisation" dienen die meisten Auswanderer nach Algier,
während die sesshaften Elemente darunter in entschiedener Minder-
heit sich befinden.
Es kann auch kaum anders sein. Europäische Handwerker
für europäische Bedürfnisse werden dort wenig Arbeit finden,
dazu ist die europäische Bevölkerung zu klein , und sind die
mutterländischen Märkte zu nahe. Der Landwirth aber, der nach
Grundeigenthum trachtet, findet in Algier seine Rechnung nicht,
auch wenn die Regierung es verschenkt. Zuerst ist das Land so
verwahrlost noch wie vor der Ankunft der Franzosen in Bezug
auf Verkehrsmittel, wie sie der Handel fordert. Dann herrscht im
Innern die grösste Unsicherheit für Person und Eigenthum. Die
Versicherung der Eingebornen, es könne eine Frau mit einer gol-
denen Krone auf dem Haupte von einer Ecke des Landes zur
382
Zur Länder- und Völkerkunde.
andern unversehrt und unberaubt gelangen, war eine orientalische
Schmeichelei für Napoleon III. Die Wahrheit ist vielmehr, dass
Strassenraub auf dem flachen Lande, Einbruch in den Städten
zum täglichen Brode gehören , und jeder auf sich selbst zum
Schutze dessen, was er hat, angewiesen bleibt. Und selbst wenn
man mit der Zeit Abhülfe dieser Uebelstände erwarten könnte, so
rauss sich doch jeder Colonist sagen , dass er Feld und Wald,
Hütte und Garten nur so lange besitzen wird, als überhaupt die
Herrschaft der Franzosen dauert. Phönizier, Römer, Araber,
Türken haben nach einander das nördliche Littoral des „geheimniss-
vollen" Festlands erobert und besessen und nichts zurückgelassen
als Trümmerspuren ihrer Anwesenheit. Das wird früher oder
später auch das Loos der Franzosen sein. Noch sind sie in
diesem Lande nicht recht zum Sitzen gekommen, denn sie bi-
wakiren im Grunde noch immer. Man colonisirt aber kein Land
mit dem Gewehr im Arm und dem qui vive! auf der Zunge.
Die Kosten der Besatzung werden von Jahr zu Jahr eher grösser
als geringer, und es verschlingt die Provinz oder die ,,Colonie",
wie die Franzosen raissbräuchlich sagen, das vierfache von dem,
was sie an Rimessen liefert. Sobald Frankreich in ernste Budget-
verlegenheiten geräth, wird ein hausbackner Finanzmann mit einem
Additionsexempel auftreten und den Franzosen zeigen, um wie
viel weniger Schulden sie haben würden, wenn ihnen nie einge-
fallen wäre, mit den Beduinen um die Vorländer der Sahara zu
raufen, und um wie vieles sie ihren heutigen Haushalt verbessern
könnten, wenn sie entschlossen sich dieses kostspieligen, ihr Mark
\erzehrenden Möbels entledigten. So kann Algerien über Bord
geworfen werden , oder es kann auch bei einem Krieg mit Eng-
land im Handumdrehen wieder an die ursprünglichen Eigenthümer
verloren gehen.
Unter dem Schatten der Bajonette ist nicht gut Weizen bauen.
Und selbst wenn sich der Auswanderer damit trösten wollte, dass
die Eitelkeit der Franzosen niemals ein freiwilliges, ihre Tapferkeit
und Kriegstüchtigkeit nie ein erzwungenes Aufgeben der Colonie
zulassen würde, obgleich Napoleon die Louisiana verkaufen durfte
und Canada den Franzosen entrissen werden konnte, so muss
doch schon die Aussicht, unter einer Militärherrschaft zu leben,
jeden Auswanderer abschrecken, dem Unabhängigkeit und bürger-
liche Verwaltung von Werth sind. Vergebens hat man versucht.
Wanderziele der Deutschen.
383
Algier aus einer Domäne des Kriegsministeriums in eine Colonie
zu verwandeln. Am 24. Juni 1858 wurde das Ministerium für
Algerien und die Colonien geschaffen , zuerst vom Prinzen Napo-
leon, dann vom Grafen Chasseloup - Laubat verwaltet und am 24.
November 1860 ohne Angabe eines Beweggrundes wieder aufge-
hoben. Man erzählt nur, dass der Kaiser bei seiner Parade in
Algier , betroffen über die zahllosen Gruppen von Reitern , die
hin- und hersprengten und ihre Gewehre als Freudenzeichen ab-
feuerten , ausgerufen haben sollte : ce n'est pas un peuple , c'est
une armee, und dass von diesem AugenbUcke an die Wieder-
einführung des Säbelregiments beschlossen gewesen sei. Wie viel
Wahres hinter dieser Anekdote stecke, kann uns ganz gleichgültig
sein, genug dass der Versuch einer Civilverwaltung völlig scheitern
musste. Das Loos eines Colonisten unter der Herrschaft eines
militärischen Bureaus ist aber jedenfalls nicht beneidenswerth, denn
nichts ist zum Gedeihen einer jugendlichen Gesellschaft wohl so
unentbehrlich, als Selbstverwalung und eine grosse Freiheit der
Bewegung. Es ist wahr, die Regierung verschenkt fruchtbares
Land, aber dafür wird der arme Colonist aus einer Canzlei in die
andere gehetzt, muss warten und zehren, ehe seine „Papiere"
ausgefertigt sind , muss sich dann obendrein verpflichten , so und
so viel Bäume zu pflanzen , diese Cultur zu treiben und jene zu
unterlassen, überhaupt aber die heilige Administration als seine
Vorsehung zu betrachten. Wer möchte aber solchen Göttern
dienen und solche Geschenke nehmen?')
VöUig verschieden sind die Verhältnisse am südlichen Hörn
des grossen Festlandes. Die Auswanderung nach den Caplanden
kann unbedingt Jedem empfohlen werden , der überhaupt auswan-
dern will , und der sich keine Täuschungen macht über das, was
ihm bevorsteht, nämlich harte Arbeit und hartes Brod zehn oder
zwölf Jahre lang, um am Abend des Lebens einer nachfolgenden
Generation eine heitere Zukunft zu hinterlassen. Die Capcolonie
geniesst den Ruf, das gesündeste Land der Erde zu sein und ver-
dankt diesen Vorzug der beständigen Erneuerung der Luft durch
die herrschenden Seewinde, die ihren Einfluss binnenwärts sehr
i) Neueste Aufschlüsse bei George Wingrove Coocke , Conquest and Co-
lonisation in North Afrika. London 1860. und Histoire du Minist^re de l'Al-
gerie, Journal des Economistes 1861, Nr. 88 und Nr. 90.
384
Zur Länder- und Völkerkunde.
weit erstrecken. Es gedeiht dort der Weinstock, die Feige, die
Orange, und die einzige Klage der Colonisten ist der Mangel an
Regen. Weizenboden ist vorhanden, doch nicht von solcher fabel-
haften Fruchtbarkeit, wie ihn einzelne jungfräuliche Striche Nord-
amerika's zu beiden Seiten der Felsengebirge besitzen. Uebrigens
ist vorläufig nicht abzusehen, dass das Capland ein kornaus-
führendes Land werden sollte. Nicht etwa weil es allzu abseits
von den europäischen Märkten liegt, denn wenn selbst Californien
nach England Brodstoffe versendet, so könnten auch die Caplande
die europäischen Märkte suchen. Aber einmal fehlt es noch an
guten Verkehrsmitteln des Innern mit der Küste, dann aber eignet
sich Klima und Boden besser zur Viehzucht als zum Ackerbau.
Die Schafzucht ist es daher, welche hauptsächlich die Caplande in
neuerer Zeit so wohlhabend gemacht hat. Es stieg nämlich die
Ausfuhr der Wolle bis zu folgenden Ziffern:
1827 44,000 Pfund,
1852 7,778,000
1859 19,494,000 ,,
Ebenso lohnend ist die Rinderzucht. Auf ihren Heerden beruhte
weiland auch der Stolz und das Vermögen der Kaffern, bis sie
von einem falschen Propheten verführt, all ihr Vieh eines Tages
schlachteten und vom Hunger dann gezwungen wurden, als Tage-
löhner im englischen Solde die Strassen zu bauen, welche in ihre
bisher unzugängliche und darum auch nie eroberte Heimath führen
sollten. Dann hat in neuester Zeit auch die Weincultur um Con-
stantia ausserordentlich rasch, von 1855 auf 1856 um 45, von
1856 auf 1857 um 70 Procent zugenommen. Auch muss viel
zur Veredlung der Reben geschehen sein , denn die Preise sind
beträchtlich gestiegen; wird doch der Werth einer Pipe (550
Flaschen) an Ort und Stelle durchschnittHch auf 200 Gulden
angegeben. Das edelste Gewächs wird übrigens im Lande selbst
verzehrt.
Jeder Einwanderer erhält von der Regierung, wenn er ledig
ist, 30 Acres (5 Acres = 2 Hektaren , i Hektare = 4 preussi-
schen Morgen) Fruchtland, wenn er verheirathet ist 50, für jedes
Kind über 10 Jahren weitere 10 und für jedes über i Jahr alte
5 Acres mehr, gegen einen Nominalpreis von 2 Schilling (i ü.
1 2 kr.) per Acre , welche Schuld er in fünf jährlichen Raten ab-
tragen darf. Das Ueberfahrtsgeld von Hamburg beläuft sich auf
Wanderziele der Deutschen.
385
11V2 PM. St. (138 fl.) und für Kinder die Hälfte. Wie bei allen
englischen Colonien wird die Beförderung der Auswanderer von
Amtswegen überwacht, und der Ansiedler läuft nicht in die Gefahr,
gewissenlosen Speculanten zu verfallen, wie diess sein Schicksal in
den Vereinigten Staaten ist, wo sich höchstens nur wohlthätige
Vereine seiner annehmen. Auch bieten die britischen Colonien
den grossen Vorzug, dass sie bei der ausgedehntesten j^olitischen
Freiheit immer doch noch die Wohlthaten eines monarchischen
Schutzes gemessen. Der Ansiedler ist frei vom Kriegsdienst, er
wird kaum höher besteuert , als in den Vereinigten Staaten , er
wählt und ist wählbar für alle öffentlichen Aemter, bei einem sehr
geringen oder bei gar keinem Census, und doch wiederum geniesst
er in der Colonie die Sicherheit und die Ruhe, welche ihm der
Schutz und Schirm der ersten Seemacht der Welt gewähren können.
Die Caplande sind also eines der Ziele, welche tmbedingt dem
Auswanderer empfohlen werden können , der sich vor der Arbeit
nicht scheut und dem seine Gesundheit etwas werth ist').
Alle Vorzüge einer Colonie und zwar einer englischen Colonie
gewährt aber auch Canada. Wer die Heimath verlässt, um wohl-
feilen Grund zu erwerben, der wird Canada vor dem Westen der
Vereinigten Staaten in so fern den Vorzug geben müssen, als dort
nicht die schlimmen Fieber herrschen, wie in allen frischbebauten
Strichen des amerikanischen „fernen Westens". Aber der Aus-
wanderer muss auch gegen die strengen Contraste eines ächten
Festlandklimas gestählt sein. Er muss sich im Winter darauf ge-
fasst machen , das Quecksilber im Thermometer mehrere Tage
gefroren zu sehen, während im Sommer Temperaturen bis zu
-\- 26 und zu -f- 32° R. nicht selten vorkommen. Bis zum
Monat April bleibt das Land in Schnee gehüllt. Das ist für
Spaziergänger nicht sehr angenehm , aber ausserordentlich wichtig
für den Landwirth. Ohne diese Schneedecke würde der Boden,
der selten 12 oder 18 Zoll tief gefriert, weit hinab erstarren, und
ehe er wieder aufthaut, möchte eine kostbare Zeit des kurzen
Sommers ungenützt verstreichen, so aber reicht die Kraft der cana-
dischen Sonne vollständig aus , um Mais und Weizenemten zu
i) S. Schmarda's Reise um die Erde. Braunschweig 1861. Zweiter Band
S. 25 ff.- Scherzer, Reise der österreichischen Fregatte Novara. Wien 1861,
Erster Band S. 174 ff.
Peschel, Abhandlungen. II. 25
386
Zur Länder- und Völkerkunde.
reifen. Die Fruchtbarkeit des Landes in Bezug auf diese beiden
Mehlstofife steht unvergleichlich in der Welt da. Es hat sich auch
in der Zeit von 1845 — ^^SS ^^^ Erzeugung von Weizen in Ober-
canada um 400 Procent, von Mais um 163, von Hafer um 133
Procent vermehrt. Die alluvialen Niederschläge sollen 30 — 80
Fuss Tiefe besitzen und so reich sein, dass sie ungedüngt 30—40
Weizenernten hinter einander zu liefern vermöchten.
Wie in der Capcolonie hat das Colonialparlament Fonds zur
Unterstützung der Auswanderer bewilligt, und sorgt durch eigene
Beamte dafür, dass letztere über ihr eigenes Wohl aufgeklärt und
nach den richtigen Zielen geleitet werden. Der Boden wird für
2 Schill, der Acre gegen Verpflichtung, ihn zu bebauen, abgegeben,
und zwar steigen die Abtretungen bis auf 100 Acres. Der Aus-
wanderer findet also das Land eben so wohlfeil, wie in den Ver-
einigten Staaten, ausserdem aber hat hier die Verwaltung der
Länderspeculation zu Gunsten der Einwanderer völlig das Hand-
werk gelegt. Ganze Gemeindegründe bis zu 50,000 Acres ä 2
Schilling der Acre sind abgesteckt und werden Liebhabern oder
kleinen Gesellschaften, nicht aber an Landwucherer oder Actien-
colonisationscompagnien abgegeben, denn wer kauft, muss anbauen,
sonst verliert er seinen Grund und Boden. So wird dem wahren
Ansiedler nicht die Niederlassung vertheuert , wie diess so häufig
in den Vereinigten Staaten geschieht.
Wenn man liest, dass Canada 350,000 englische Quadrat-
meilen besitzt, von denen nur 40,000 bevölkert, auf dem Reste
aber noch 198 Millionen Acres unbewohntes Land übrig sind, so
sollte man meinen , es gäbe dort noch Raum für ein halbes Jahr-
hundert europäischer Auswanderung. Aber man täuscht sich, wie
man sich auch in Bezug auf die Vereini^n Staaten täuschen
würde , wenn man ihre Geräumigkeit für unausfüUbar hielte.
Zu jenen canadischen Flächen zählen nämlich die unwirthlichen
Gebiete von Labrador und andere nördliche Strecken, wo nur der
Pelzjäger seine Nahrung findet. Das Land, welches allein dem
Ansiedler Lohn für seine Mühe verheisst, liegt an und zwischen
der Kette der grossen Landseen, so dass, obgleich nur der zwölfte
Theil der englischen Auswanderung nach Canada sich wendet, doch
jetzt schon der Platz zu mangeln anfängt. In Folge dessen wurde
im Jahre 1859 eine Expedition in den „fernen Westen" des bri-
tischen Nordamerika's geschickt um die Länder am Red River
Wanderziele der Deutschen. .jgy
und an den beiden Saskatschewanflüssen zu erforschen. Solche
abgelegene Ansiedlungen hätten jetzt vielleicht gar keine Aussicht,
wenn nicht die Entdeckung gemacht worden wäre , dass sich auf
britischem Gebiete bequeme Pässe über die Felsengebirge nach
Columbien und der Vancouverinsel befinden, und weil es auch
in der atlantischen Hälfte der Vereinigten Staaten ausser Nebraska
kein grösseres unbesiedeltes Gebiet mehr giebt. Auch weiss man
jetzt, dass sich längs der östlichen Flanke der Felsengebirge ein
grosser unfruchtbarer, beinahe wüster Streifen erstreckt, wo der
Regenmangel kein ergiebiges Pflanzenwachsthum aufkommen lässt.
Das Land wenigstens zwischen dem Ellenbogen des obem Missouri,
und den Felsengebirgen ist eine halbe Wüste, durch welche die
grossen Gebirgsströme ungenährt wie die Canäle ziehen. Dagegen
ist nach den neuesten Forschungen Hoffnung vorhanden, dass die
Flüsse des britischen Westens, die beiden Saskatschewan , durch
fruchtbarere Strecken sich bewegen. Wenigstens sah die letzte
grosse Expedition an ihren Ufern zahllose Büffelheerden , und wo
diese Thiere Weide finden , müssen auch Ansiedlungen sich be
gründen lassen. Gewiss ist wenigstens, dass in der von Lord
Selkirk 1 8 1 1 gegründeten Red River- Ansiedlung, für Auswanderer
noch viel zu hoffen ist. Auch das Land an der Seenkette zwischen
dem Winipeg und Lake Superior wird als ein liebliches Paradies
beschrieben. Man glaubt sich in einen lange vernachlässigten
Garten versetzt, so reich an Blumen und an blühenden Sträuchern
sind die Ufer dieser stillen Weiher. Der Boden am Red River
ist von jungfräuhcher Kraft und soll bis zu 56 Bushel Weizen per
Acre tragen, mehr als das Doppelte wie in England. ,,Dort auf
der Prairie," sagte ein schottischer Ansiedler zu Capitän Henry
Hind, „könnten 10,000 Rinder weiden und sich mästen ohne
irgend einen weitern Aufwand. Wenn es sich lohnte, wollte ich
50, 100 oder 500 Acres Land einfriedigen und von jedem Acre
36 — 40 Bushel Weizen Jahr um Jahr ziehen. Ich könnte Mais,
Gerste, Hafer, Flachs, Hanf, Hopfen, Rüben, Tabak — was ich
möchte und in beliebiger Menge bauen, aber was würde es mir
nützen? Wir haben keine Märkte. Ja, hätten wir diese, so sollten
Sie weit herumreisen müssen, ehe Sie etwas sähen, das sich mit
unsern Prairien vergleichen Hesse." Uebrigens fehlt es nicht an
Schattenseiten. Abgesehen von dem Winter, der eine Abhärtung
erfordert, wie sie nur bei Kosaken und Pelzjägern angetroffen wird,
25*
388
Zur Länder- und Völkerkunde.
werden auch jene hohen Breiten von dem furchtbaren Feinde der
Landwirthe in den Vereinigten Staaten, von den Heuschrecken
heimgesucht, die oft in einem Tage die Ernten kahl abfressen.
Vor allen Dingen fehlt es aber an Verkehrsmitteln, denn jetzt
beträgt vom Obern See bis Assiniboia, dem Hauptpunkte der
Colonien, die Fracht noch 45 Pfd. Sterl. die Tonne oder 28 fi.
der Centner. Ueber die Vereinigten Staaten kann man Güter
etwas, aber doch nicht viel wohlfeiler beziehen. Welchen Ent-
behrungen ist also der Ansiedler im Schoosse vegetabiUscher
Fruchtbarkeit preisgegeben, wenn er bei jenen Frachtlöhnen seine
Producte nicht absetzen und für den spärlichen und gelegentlichen
Absatz auch nur wieder um hohes Geld sich die Werkzeuge und
die Genüsse der Civilisation verschaffen kann ?
Es wird auch wohl nie eine recht dichte Bevölkerung sich
dort ansiedeln können, denn früher oder später muss es bei den
harten Wintern an Holz fehlen. Kohlen finden sich nur am Sas-
katschewan, aber diese Schätze werden wegen ihrer Entfernung
den Red Riveransiedlern unerreichbar bleiben. Jetzt freilich und
so lange die Bevölkerung sich dünn erhält, fehlt es und wird es
nicht an Holz fe|ilen. Selbst in Canada, wo man besser thäte,
seine Schätze zu sparen und die Forsten wissenschaftlich verwalten
zu lassen, herrscht noch das widerwärtige Gewerbe der Potasch-
brennereien. Der Wald wird dort vernichtet, rein nur um seine
Aschenbestandtheile zu gewinnen. Krieg den Wäldern ist das
allgemeine Feldgeschrei, ohne dass man an die Enkel denkt, die
einst seufzen und frieren werden. Es giebt eine eigene Zunft, die
„Lumbermen" '), die sich von dem Raub der edlen Forsten er-
nähren und sie redlich verheeren ganz ähnlich wie die brutalen
Rothhäute und die brutaleren Buschjäger ganze Büffelheerden
morden, nur um die Zungen eingesalzen zu verschicken 2).
Die Vereinigten Staaten, von denen wir, der atlantischen
Küste folgend, vorläufig nur die östliche Hälfte im Auge haben,
werden, und mit Recht, die Auswanderer des jetzigen Jahrhunderts
i) S. J. G. Kohl, Reisen in Canada S. 225.
2) Wer sich näher unterrichten will, vgl. ausser J. G. Kohl's obengenann-
tem Werk: Canada and the North-West, Qu arterly Review, und bezüglich der
Red River-Niederlassungen, Paul Kane, Wanderings of an Artist from Canada
to Vancouvers Island. London 1859. Endlich Henry Youle Hind, Narrative
of Canadian Exploring Expeditions 1860.
Wanderziele der Deutschen. 380
grösstentheils an sich ziehen und in sich aufnehmen , denn noch
auf lange Zeit möchten die beiden, für den Ansiedler wichtigsten
ökonomischen Erscheinungen dort anzutreffen sein, nämlich : wohl-
feiles Land und hoher Arbeitslohn. Für Auswanderer höherer
Berufsarten sind sie fast das einzige offene Feld und für Land-
wirthe wie Handwerker noch immer das dankbarste. In Deutsch-
land kennt man jetzt auch so ziemlich die jenseitigen Zustände.
Wenige noch gehen mit überspannten Hoffnungen hinüber und
daher vermindern sich auch die Weherufe der Enttäuschten. Selbst
in politischer Beziehung hat man sich beträchtlich ernüchtert und
niemand erwartet mehr ideale Zustände zu finden. Im Gegentheil
haben gerade die altfränkischen Einrichtungen Europa's durch den
Vergleich mit den widerwärtigen Bildern einer Massenherrschaft an
Werth gewonnen. Man erkennt jetzt in Europa, • dass eine Ver-
flachung des politischen Stimmrechts zum Parteiterrorismus führt,
dass bei der kritiklosen Menge nichts gilt als Demagogenschlau-
heit, und dass nicht der Beste oder Fähigste, sondern der Mittel-
massige und der Gewöhnliche an die Spitze gestellt wird. Politi-
sches Missbehagen hat wohl überhaupt wenig Deutsche über das
atlantische Thal getrieben, denn wenn sich jemand bei uns ein-
bildet, dass er ohne republikanische Luft nicht athmen könne, so
hat er ja die Schweiz in erreichbarer Nähe. Wenn man den Ur-
sachen der Auswanderung bei uns nachforscht, so bestehen sie
vielmehr, was das flache Land betrifft, aus dem Ueberhandnehmen
des ruralen Proletariats, und was die Städte betrifft, aus den bis-
herigen iUiberalen Gewerbsgesetzen und den Schwierigkeiten von
Ansässigmachung. Nichts ist drückender in unsern bürgerlichen
Verfassungen, als die Hindemisse, die sich uns beim Abschluss
einer Ehe in den Weg stellen. Dass ein Mann, der sui juris ist,
einen noch so weisen Magistrat um die Erlaubniss bitten muss,
ob er heirathen darf, dass er auch gefasst sein muss, in diesem
oder jenem Falle abgewiesen zu werden, ist eine Beschränkung
der menschlichen Freiheit, die ein Engländer oder gar ein Ameri-
kaner ganz unerträglich finden würde. Man eifert so oft gegen
Bureaukratie und Beamtenvormundschaft, schwärmt für parlamen-
tarische Controle, bildet sich ein, die Freiheit komme und gehe
mit diesen oder jenen Paragraphen eines Wahlgesetzes, und erträgt
doch geduldig, ja beinahe stumpf die nächsten und gröbsten
Missstände innerhalb der Gemeinde. Ueberhaupt ist es ein Fehler
nqQ Zur Länder- und Völkerkunde,
unserer politischen Erziehung oder unserer politischen Liebhabereien,
dass wir immer nur an die hohen Functionen des Staates und der
Nationen denken, und uns gar so wenig oder gar nicht mit un-
sern öftentlichen Geschäften innerhalb des Stadtweichbildes be-
fassen.
Die Aussicht, einen eigenen Hausstand mit we-
nig baaren Mitteln auf die Kraft eines gesunden
Körpers zu begründen, sollte der einzige Beweggrund für
Auswanderer sein. Nun träumt sich wohl ein Jeder, welcher der
alten Welt unbefriedigt den Rücken kehrt, er werde in der neuen
bis zu jener fortrückenden äussersten Zone der Ansiedelung
dringen, in der letzten Ortschaft der CiviHsation sich eine Karte
der vermessenen Strecken vorlegen lassen, einen Ansiedelungsplatz
wählen und seinen „Claim" oder sein Anrecht gegen die her-
kömmliche Taxe von 1V4 Dollar der Acre in festes Eigenthum
verwandeln lassen. Er will dann, so träumt er fort, den Wald
ausroden, eine Zeitlang in der Blockhütte, durch deren Fugen der
Wind zieht, auf seiner geladenen Büchse schlafen , bis alles „ge-
klärt" ist, in dem Graslande blanke Kühe weiden, auf den unge-
düngten Feldern goldener Weizen steht, Nachbarn rechts und
Hnks sich einfinden, ihre Hütten zum Dorf zusammenrücken, Wege
beschafft, Märkte beschickt werden und zuletzt die Civilisation
bereits soweit westwärts gedrungen sei, dass man sich mitten in
einem wohlgenährten friedlichen Lande befinde.
Gewiss! So hold war gar Vielen das Glück in den letzten
dreissig Jahren und wird es Vielen noch sein in den nächsten
zwanzig Jahren. Allein der deutsche Auswanderer bilde sich nicht
ein , dass er der Mann sei , der zur Bewältigung des Urwaldes
physische und geistige Stärke genug besitze. Er lasse sich zuvor,
ehe er sich etwas so ausserordentliches zutraut, von dem trefflichen
A. de Tocqueville belehren, der in seinen Wanderungen durch die
Vereinigten Staaten bis an und bis über den Saum der äussersten
Besiedlungen drang. Dort glaubte er europäische Auswanderer,
Iren, Schotten, Engländer und Deutsche anzutreffen, allein je weiter
westwärts er reiste, desto seltener wurden die frischen Ankömm-
Hnge und im eigentlichen fernen Westen sah er fast nur Ameri-
kaner. Der Kampf mit dem Walde ist nämlich unter allen Fällen
höchst gefährlich. Wohl unterliegt der Forst unfehlbar der Axt,
aber er reisst auch nicht selten den Menschen mit sich ins Grab.
Wanderziele der Deutschen.
39^
Der Feldzug des Ansiedlers beginnt damit, dass er ein Zelt auf-
schlägt, bis die Blockhütte fertig ist. Um sie herum werden in
die Bäume Ringe bis zum Holz geschnitten , so dass der Saft
nicht mehr circuliren kann, und die Bäume Laub und Schatten
verlieren. Zwischen die kahlen und verdorrten Stämme hinein
wird der erste Mais gesäet, denn der nie fehlschlagende Mais ist
der „Stab des Lebens" für die erste und die nächste Zeit. Im
andern Jahre schlägt man die abgestorbenen Bäume nieder, ebnet
die Lichtung und fängt an die Erde aufzureissen. Die Folgen
sind leicht vorherzusehen. Das Fieber ergreift unfehlbar den An-
siedler und seine Familie, denn die Amerikanerin, so verwöhnt sie
als junges Mädchen wurde, so trivial und leichtfertig ihr Betragen
auch gewesen sein mochte, sie folgt dem Mann heroisch in die
Wildniss. Ein Fass Mehl und ein Fass Salzfleisch bilden die ein-
zigen Vorräthe, und die Kühe, die man im nahen Walde grasen
lässt, liefern in ihrer Milch die beste Erquickung und die einzige
Arznei, wenn das Fieber im Blockhaus sich einnistet. Kein Arzt
ist in der Nähe, kein Geistlicher kann Trost spenden. Mann und
Weib, ja auch die Kinder bisweilen, liegen wochenlang krank und
schleppen sich vom Fieber geschüttelt herum, um einen Trunk
Wasser zu holen, oder sich etwas Nahrung zu bereiten. Es ist
ein Kampf um Leben und Tod, und ungetröstet muss der Unter-
liegende in die Grube fahren. Hat er endlich gesiegt, so wird er
doch die Spuren des Fiebers nie wieder los. Er und sein Weib
sind rasch gealtert, der Abschnitt des höchsten Lebensgenusses
ist bereits übersprungen, und es bleibt ihnen nur der einzige Trost,
dass ihre Kinder durch ihre Opfer einst mit Glücksgütern gesegnet
sein werden.
Nur sporadisch trifft man unter den Squattern und Pionieren
auch Deutsche an und keiner unter ihnen fühlt sich glücklich,
sondern noch um vieles elender als der Amerikaner, denn dieser
hat nur Ein Ziel, den Erwerb, vor Augen, dem er mit aller Energie
entgegenstrebt, während den Deutschen der Erwerb stets nur das
Mittel bleibt, um sich einen höhern und verklärteren Lebensgenuss
zu verschaffen — einen Lebensgenuss aber, dem der Ansiedler
fast gänzlich entsagen muss.
Wenn also das Squatterthum nicht der Beruf für die deutschen
Auswanderer ist, so bleibt ihnen nichts übrig, als ,, geklärten"
Grund und Boden zu kaufen. Nun giebt es viele Hinterwäldler,
-^g2 Zur Länder- und Völkerkunde.
welche, halbindianisirt, die Einsamkeit so hoch schätzen, wie wir
die Geselligkeit , und denen ihre Landeroberung zum Ueberdruss
wird, sobald sie in der Nähe die Rauchsäule eines Nachbars auf-
steigen sehen. In den besiedelten Staaten giebt es natürlich noch
unendlich viel unbebautes, wenn auch nicht mehr herrenloses Land.
Dort kann man den Wald leichter bewältigen, den Fiebern besser
ausweichen oder sie kräftiger bekämpfen, allein an allen diesen
Punkten findet sich auch nicht mehr das hohe Reizmittel der An-
siedlungen, nämlich wohlfeiler Grund und Boden. Der Auswan-
derer muss Vermögen mitbringen , und zwar ein hübsches Stück
Geld, wenn er nicht kümmerlich vegetiren will. Beim Ankauf
läuft er aber Gefahr, den schamlosesten und pfiffigsten Speculanten
der Welt in die Hände zu fallen. Wenn man liest, wie in der
grossen Demokratie die neuen Städte wie die Pilze aufschiessen
und die Bevölkerungen sich in wenig Jahren verdoppeln, so glaubt
man, es könne nicht fehlen, dass, wo einmal fünf Schornsteine
rauchen, übers Jahr zehn und über zehn Jahr hundert zu zählen
sein müssen. Wenigen ist es recht klar, dass das Gedeihen neuer
Ansiedlungen gänzlich von der Wahl des Ortes abhängt, dass man
nur schreibt und liest von den Städten, die aufgekommen sind,
nie von denen, die nn Kindesalter schon wieder zu Ruinen wur-
den. Der Amerikaner, sagt man, hat ein besonderes Auge, um
günstig gelegene Punkte zu entdecken; der Deutsche dagegen
bleibt nur gar zu oft an Plätzen haften, die nicht gedeihen wollen
und nicht gedeihen können. Diess mag daher kommen, dass der
Amerikaner eben nur den Erwerb im Auge hat, während den
Deutschen seine Sentimentalität bewältigt, wenn ihm da und dort
der blaue Himmel holder durch die dunkeln Wipfel der Bäume
gelacht, oder ihn ein Hügelzug am Strome an einen Winkel seines
Vaterlandes erinnert hat, wo er seinen besten Traum träumte.
Die einzelnen rein deutschen Ortschaften in Texas und in Missouri
sind noch immer vernachlässigte Punkte geblieben und keine Lan-
dungsplätze des grossen Verkehrs geworden.
Der Auswanderer, der sich warnen lassen will, lese daher vor
allen Franz Löhers Land und Leute in den Vereinigten Staaten,
Er findet dort Winke über die Art und Weise, wie in Land und
„in Städten" speculirt wird, denn Grund und Boden wie ganze
Ortschaften sind Gegenstand einer Art von Börsenspiel. Man baut
neue Städte auf Speculation in der Hoftnung, dass, wenn man den
Wanderziele der Deutschen.
393
riclitigen ökonomischen Fleck getroffen hat, der Werth des Ter-
rains und der Gebäude oft um das Hundertfache steigt. Wehe
aber, wenn die Wahl des Ortes verfehlt war ! Anfangs lassen sich
wohl Einzelne heranlocken und es folgen Andere nach, bis es
allmähUch offenbar wird, dass der Platz nicht geschickt gewählt
war. Eine Zeit lang sucht man, um noch Gimpel zu fangen, das
Welken vor der Blüthe zu verbergen. Häuser und Strassen wer-
den schmuck und sauber gehalten, damit die Kauflustigen sich
nicht abschrecken lassen, bis endlich die Aussichten schwinden
und man die Speculation der Verwilderung überlässt. Der Ameri-
kaner , ohnehin von unruhigem Blute , schnürt sein Bündel imd
zieht zerrüttet in seinem Vermögen fort, um einen günstigeren
Platz aufzusuchen, von frischem und überhaupt so lange anzu-
fangen, bis er den Boden findet, wo er lustig Wurzel schlagen
kann. Förderlich ist ihm dabei, dass er beinahe jedes Gewerbe
treibt : aus einem Hol/flösser des Mississippi wird ein Schulmeister,
aus diesem ein Advocat und Parteimann, und aus dem Parteimann
ein Präsident der Vereinigten Staaten. Der Deutsche dagegen
bleibt, wo er sich einmal niedergelassen, und lieber verkümmert
er sein Leben lang, ehe er sich zum erneuten Wechsel seines
Lebensplanes entschUesst.
Alles Gesagte gilt nur von den Freibodenstaaten Nordameri-
ka's, denn der Süden gehört kaum in den Bereich dieses Ueber-
blickes, da deutsche Auswanderer, die nach den Sklavenstaaten
gehen wollen, um Pflanzer zu werden, wohl zu den grössten
Seltenheiten zählen. Zu emer Pflanzung gehören mindestens 20
Farbige, denn wer weniger Sklaven besitzt, treibt nicht Land-
wirthschaft, sondern vermiethet seine schwarzen Arbeitskräfte.
Zwanzig Sklaven stellen jetzt schon einen Besitz von 16,000 Dol-
lars oder 40,000 fl. dar. Für den Grund und Boden, die Wirth-
schaftsgebäude und das Betriebscapital einer entsprechenden Pflan-
zung müssen abermals mindestens 20,000 fl. gerechnet werden.
Nun rentirt sich bekanntlich Sklavenarbeit ausserordentlich gering,
in Jamaika kurz vor Aufhebung der Sklaverei nur mit 2 und i
Procent, und in den heutigen Secessionsstaaten notorisch nicht
höher als 2 — 3 Procent. Wer also auswandern will, um eine
Pflanzerwirthschaft zu erwerben, müsste ein Vermögen besitzen,
wofür er in der Heimath ein mittleres Landgut sich kaufen , und
wo er im Schoosse heimathlicher Gesittung und traulicher Ver-
394
Zur Länder- und Völkerkunde.
hältnisse mit höherem Ertrag und ohne den Fluch der Racen-
kneclitschaft wirthschaften könnte, welche letztere jedem Pflanzer
die Nachtruhe stört und ihn durch die quälende Furcht vor Neger-
empörungen zur grausamen Verfolgung aller humanen Re-
gungen antreibt.
Nur in zwei der südlichen Staaten haben sich Deutsche bisher
dicht angesiedelt, nämlich im nördlichen Missouri, welches sich,
ungleich der südlichen Hälfte dieses Staates , von der Sklaverei
gänzlich gereinigt hat und fast ein Freibodenland geworden ist,
und in Texas. In dem ersteren Staate treten die Deutschen als
Weinbauern auf, und suchen ihre heimathlichen Kenntnisse dieses
edlen Gewerbes in der neuen Welt sich nutzbar zu machen.
Leider hört man in neuerer Zeit, dass auch die Weindistricte am
Missouri von der Traubenfäule nicht verschont worden sind.
Gleichwohl wird der Weinbau solchen Einwanderern angepriesen,
welche von der Feldwirthschaft nichts verstehen und an die Arbeit
im Freien noch nicht gewöhnt sind. Der grösste Weinbauer in
Hermann ist ein Hr. B., welcher erst am Missouri die Cultur der
Reben erlernte. Von solchen altern Ansiedlern müssen die Zu-
gewanderten sich Raths erholen , denn die Erfahrungen , welche
sie aus der Heimath mitbringen, nützen ihnen insofern wenig, als
in der neuen Welt bekanntlich nicht die edlen Reben der alten,
sondern nur die einheimischen Sorten, die Isabella- und die Ca-
tawbatraube gedeihen wollen. Es ist also natürlich, dass der
Weinbauer drüben von vorne zu lernen anfangen muss , weil die
Pflege der transatlantischen Reben eine andere und das Klima im
Innern eines grossen Continentes sehr verschieden ist von dem
unseres Welttheiles, der doch im Grunde nichts ist, als eine grosse
Halbinsel am westlichen Rande grosser Ländermassen.
Auf die Deutschen in Texas ist man neuerdings aufmerksam
gemacht worden durch den berühmten Olmstedt, dessen Beobach-
tungen und Schriften über die Sklaverei und die Sklavenstaaten
die besten Aufschlüsse zum Verständniss des grossen Kampfes
zwischen der freien und der Negerarbeit enthalten, und welche als
wahres Gegengift gegen die Parteischriften der guten Beecher
Stowe und des" ungestümen Hrn. Helper zu empfehlen sind. Die
Deutschen in Texas haben zuerst bewiesen, dass es den Menschen
unserer Hautfarbe möglich ist, in einem Treibhausklima und neben
der Negerarbeit Baumwolle mit Gewinn zu erbauen, lieber diese
Wanderziele der Deutschen.
395
Entdeckung sind die warmen Freibodenapostel eine Zeit lang in
das höchste Entzücken gerathen , denn bisher hatte man die
Racenknechtschaft immer noch damit gerechtfertigt, dass Weisse
in der Nachbarschaft der Wendekreise nicht auf dem Felde zu
arbeiten vermögen ohne Zerrüttung ihrer Gesundheit. Die Deut-
schen haben diess für die nördliche Zone von Texas widerlegt,
aber der Satz gilt sonst noch allüberall, wo Palmen wachsen und
das Zuckerschilf gedeiht. Dass sie aber die Concurrenz der Neger-
arbeit aushielten, verdanken sie nur dem einzigen Umstand, dass
ihr Product sorgfältiger gereinigt ist und daher viel höher bezahlt
wird, als Negerbaumwolle, denn darin wird die freie Arbeit jeder
gezwungenen überlegen bleiben, dass bei ihr allein durch Sorgfalt
und Intelligenz die Güte eines Productes gesteigert werden kann.
Nur zu den rohesten und einfachsten Verrichtungen, zu denen
kein Nachdenken gehört, ist der Neger in der Sklaverei befähigt.
Gänzlich untauglich ist er zur Viehzucht und zum Stalldienst,
weshalb auch in den Secessionsstaaten der Pferdebestand ein auf-
fallend geringer, und man gezwungen ist, Esel und Maulthiere zu
halten, weil das Ross ohne aufmerksame Pflege siech wird und nur
das Eselgeschlecht eine grössere Vernachlässigung ertragen kann.
Wir wünschen übrigens durchaus nicht, dass unsere Lands-
leute den Beruf spüren sollten, das Problem der Negerknechtschaft
dadurch zu lösen, dass sie sich massenhaft dem Baumwollenbau
zuwendeten. Für freie Arbeit eignen sich ja doch nur die edlen
und theuer bezahlten Sorten der Gewebpflanze, nach denen aber
wiederum nur eine beschränkte Nachfrage besteht. Uebrigens ist
die Lage der Landwirthe in Texas nichts weniger als beneidens-
werth. Niemand bilde sich ein, rasch durch den Ackerbau reich
zu werden. Reich werden nur die glückHchen Güterspeculanten,
die Gastwirthe und die Viehhändler. Der Landwirth in Texas
dagegen, wie in den meisten Staaten des ,, Westens", hat zuviel
mit den Schicksalsschlägen seines Berufes zu kämpfen. Trockener
Misswachs stellt sich gar häufig ein, versengt ihm die Frucht am
Halme und vernichtet seinen Viehstand, so dass er immer wieder
in seinen Vermögensverhältnissen zurückgeworfen wird. Auch die
Heuschrecken sind eine gefürchtete Landplage, und noch bestehen,
so viel wir wissen, keine Versicherungsanstalten gegen ihre Ver-
heerungen, wie bei uns gegen die Hagelschläge.
In den älteren Staaten der Union dagegen hat der deutsche
5q6 Zur Länder- und Völkerkunde.
Landwirth eine herrliche und lohnende Aufgabe. Die oft bestaunte
Fruchtbarkeit des Jungfernlandes in der neuen Welt ist bekanntlich
eine sehr vergängliche. Es sind immer nur die frisch eroberten
Striche, welche durch ihre Ernten in Erstaunen setzen. Wenn
irgendwo, so hat sich in den Vereinigten Staaten die Liebig'sche
Lehre von der raschen Ausbeutung des Ackerbodens ohne Rück-
erstattung der Aschenbestandtheile glänzend bestätigt. Jetzt schon
sind die Vereinigten Staaten zu einem Hauptabnehmer des peru-
anischen Inselguanos geworden, weil sie, als ihre Felder noch die
reichsten Ernten gaben, im Wahne ihrer Unerschöpflichkeit nicht
an eine Düngung dachten. Es fehlt dem Amerikaner im All-
gemeinen die Geduld, durch fleissige Bestellung und Schonung
dem Boden seine Gaben abzugewinnen. Er beraubt das Feld
unbarmherzig seiner Reichthümer, und wenn die Ernten mager
werden, verlässt er ohne Reue seine Liegenschaften, um neue
Flächen aufzusuchen und auszuplündern. Verarmtes Fruchtland
in die Höhe zu bringen, daran denkt er nicht und für diese Kunst
sind inteUigente deutsche Landwirthe am besten geschaffen. Wenn
sie aber nicht ihr Vermögen durch illusorische Unternehmungen
verlieren wollen, müssen sie entweder schon längere Zeit mit den
Zuständen der neuen Welt vertraut sein und die völlig andern
Wirthschaftsbedingungen aus Erfahrung kennen, oder sie müssen
sich von der Wissenschaft belehren lassen, und nichts ist ihnen
dann mehr zu empfehlen, als Roschers berühmtes Buch über Co-
lonien und Colonialpolitik, so wie der zweite Band seiner Natio-
nalökonomie, der ausschliesslich von der Landwirthschaft handelt.
Im gegenwärtigen Augenblick lässt der Bürgerkrieg in der
Union eine Auswanderung dorthin als höchst bedenklich erschei-
nen. Der Traum von längerer Lebensdauer und unverwüstlicher
Gesundheit der grossen Demokratie ist jedenfalls vorbei. Muss die
Union, wie es jetzt fast den Anschein gewinnt, den Abfall der
Secessionsstaaten anerkennen, so ist gar sehr zu befürchten , dass
dieses schlimme Beispiel zu Nachahmungen reizen werde. Andere
Pronunciamentos möchten nachfolgen und zuletzt sich im Norden
die Geschichte des Argentinischen Bundes wiederholen. In der
Union selbst trennen jetzt bereits verschiedene schroffe Gegensätze
und Interessen den ackerbautreibenden Westen von den gewerb-
fleissigen Küsten- und Handelsstaaten. Endlich hängt wieder der
pacifische Theil der Vereinigten Staaten, Californien mit seinen
Wanderziele der Deutschen.
397
aufblühenden Grenzgebieten nur durch einen dünnen Faden mit
dem übrigen Bunde zusammen, während die Felsengebirge mit
ihrem wüsten Glacis und ihrem ewigen Schnee eine poUtische
Trennung der beiden festländischen Wasserscheiden als etwas Na-
türliches und Unausbleibliches erscheinen lassen. Mit dem Zerfall
muss dann die Zwietracht und die Reibung an den Gränzen ein-
treten. In Folge dessen werden die Staaten sich bequemen
müssen, stehende Heere zu halten und ihren kläglichen Milizdienst
aufzugeben. Mit den stehenden Heeren aber wird die innere Ver-
fassung einer Umbildung zugedrängt. Jedenfalls erwachsen die
Lasten eines Kriegsbudgets, vielleicht sogar die Lasten einer all-
gemeinen Kriegspflicht. Damit gehen aber für den Auswanderer
zwei der grössten Reizmittel, die Befreiung vom Militärdienst und
von unmittelbaren Abgaben verloren. Aber selbst, wenn die
Unionssache siegen und der Süden unterliegen sollte, so wird doch
unter allen Umständen die Staatsschuld des Gesammtbundes einen
gefährlichen Durchmesser bekommen; denn nicht allein, dass der
Bürgerkrieg an sich schon Hunderte von MiUionen kostet, es wird
auch den Pflanzern zuletzt doch eine Entschädigung für ihr
schwarzes Vermögen gezahlt werden müssen. Es giebt vier
Millionen Sklaven in den Vereinigten Staaten, deren Werth nach
jetzigen Auctionspreisen (durchschnittlich 500 Dollar per KopQ
2000 Millionen Dollar beträgt. Gesetzt, man zahlte nur 300
Dollar Entschädigung für den Kopf, so würde daraus eine Last
von drei Milliarden Gulden entstehen, die Union also mit einer
Staatsschuld höher als die österreichische beschenkt werden. Wer
nun ein wenig mit Staatswirthschaft vertraut ist, wird sogleich die
nothwendigen Folgen eines solchen Schuldenanwachses überblicken.
Es werden eine Menge Steuern und Steuerbehörden geschaffen,
vor allen Dingen aber der Grund und Boden belastet werden
müssen, auch wird man als nächste Einnahmequelle die Staats-
ländereien sich zueignen und sie nicht mehr um einen Nominal-
preis den Squattern überlassen. Die Vereinigten Staaten sind dann
nicht mehr das Land des wohlfeilen Gütererwerbes und unbelaste-
ten Gütergenusses, sondern die wirthschaftlichen Verhältnisse jen-
seits werden den diesseitigen immer ähnlicher werden.
Wir halten uns nicht damit auf, die Erspriesslichkeit einer
Wanderung nach Mexiko oder nach Westindien zu erörtern. Wer
nicht Bergmann ist, hat in Mexiko nichts zu suchen und selbst
-jq3 Zur Länder- und Völkerkunde.
Bergleute mögen sich zweimal besinnen, ehe sie ihren Fuss in
dieses gesetzlose Land setzen, welches ohnediess in seinen nörd-
lichen Provinzen in Chihuahua, Sinaloa und Durango der völligen
Verwilderung entgegeneilt und in seiner Kraftlosigkeit, ähnlich wie
Byzanz zu den Zeiten der Barbareneinbrüche, eine Beute der be-
ständig an Raum gewinnenden Apachen wird, die von ihren Raub-
nestern herab auf den Moment lauern , wo sie sich wie die Geier
auf Hirt und Heerde stürzen können. In Westindien aber schliesst
das tropische KHma die deutsche Arbeit und jede Arbeit des
weissen Mannes aus. Das Schicksal der dortigen, jetzt seit der
Negerbefreiung wieder reconvalescenten Gebiete , namentlich der
Zuckerländer, beruht bekanntlich auf der Einfuhr von Kulis,
worunter man Hindu niedriger Kaste oder chinesische Auswan-
derer versteht. Dagegen sind die mittelamerikanischen Freistaaten
in neuerer Zeit im Interesse von Auswanderern vielfach bereist
und beschrieben worden.
Im Hochlande Segovia's (Nicaragua), meint Karl Scherzer'),
giebt es zahlreiche, unermessliche Strecken des fruchtbarsten Sa-
vanenbodens, der nicht erst der Entwaldung bedarf, mit welcher
stets und überall Fieber verknüpft sind und wo der Einwanderer
schon im ersten Jahre die Früchte seiner Saaten ernten kann.
Im Hochlande giebt der Boden an den meisten Orten bei geringer
Bearbeitung zwei und selbst drei Ernten, und bedarf vorläufig und
wohl auf längere Zeit keiner Düngung. Auch der Arbeitslohn
steht dort sehr hoch, höher als selbst in den Vereinigten Staaten.
,,Gar lebendig," sagt Scherzer, ,,hat sich mir das Bild eines
schlichten derbkräftigen Oberschlesiers eingeprägt, der in einer
Sägemühle als Arbeiter angestellt, nebenbei seinen kleinen Gemüse-
garten baute und eines Morgens, wo er eben seinen Monatslohn
ausbezahlt erhalten hatte, mit einer Hand voll Gold- und Silber-
stücke auf mich zukam und wohlbehaglich ausrief: so viel Geld,
als ich jetzt in meiner Hand habe (es mochten ungefähr 40 fl.
rh. sein), bekommt bei mir zu Hause ein Knecht kaum für ein
Jahr schwerer Arbeit und muss sich noch obendrein Kleider
schaffen. Der biedere Leobschützer wollte damit auf die Lieb-
hchkeit und Gleichmässigkeit des Klimas anspielen, welche dem
l) Wanderungen durch die mittelamerikanischen Freistaaten. Braunschweig
1857. S. 216.
Wanderziele der Deutschen.
399
Ansiedler gestatten , das ganze Jahr hindurch einen wenig kost-
spieHgen luftigen Anzug zu tragen." Wenn die bisherigen An-
siedelungen in Nicaragua misslangen, namentlich der kostspielige
Versuch der Niederlassung Sanct Thomas, der mit einem
Leichenhofe endigte, so schreibt Scherzer alle Schuld nur auf die
unglückliche Wahl des ersten Niederlassungspunktes. Indessen
räth auch er nur zur Auswanderung in grösseren Gesellschaften,
da der Einzelne, unbekannt mit Sprache und Sitten, nicht recht
aufzukommen vermag. Da müssen wir nun hinzusetzen, dass uns
jede Auswanderung, die nicht auch vereinzelt unternommen werden
kann. Bedenken erregt. Die Geschichte aller gemeinschaftlich un-
ternommenen Ansiedelungen der Spanier, Franzosen und Englän-
der, wie der Deutschen, bietet fast stets ein Bild der Zwietracht,
als ob die Menschen sich am meisten anfeindeten, je nothwendiger
sie sich brauchen. Haben sich ja irgendwo solche gemeinschaft-
lichen Ansiedlungen friedlich entwickelt und sind sie gediehen, so
waren es in der Regel nur Secten, die rehgiöses Bedürfniss fester
aneinander kettete und wo durch die hierarchische Gliederung
Oberhäupter, Leiter des Ganzen und Friedensstifter vorhanden
waren.
Weit günstiger als Nicaragua, Guatemala oder San Salvador,
erscheint uns das bis auf Wagners und Scherzers Reisen vernach-
nachlässigte und wenig gekannte Costarica. Gegenwärtig giebt es
keinen Fleck amerikanischer Erde, der fleissiger beschrieben wor-
den wäre, als gerade diese kleine friedliche creolische Bauem-
republik auf der Landenge zwischen den beiden Weltmeeren.
Ausser sehr zahlreichen Journalberichten haben wir das Werk von
Scherzer und Wagner: „Die Republik Costarica", Trollope's the
West Indies and the Spanish Main und Frangois Belly's Geschichte
eines interoceanischen Canals (Revue des deux Mondes. 1860).
TroUope ist ein ungewöhnlich begabter Darsteller und scharf-
blickend in allen wirthschaftlichen Streitfragen, Frangois Belly da-
gegen ein französischer Publicist von der Sorte, von welcher
zweiunddreissig auf das Pfund gehen. Sein Bericht hat weder den
naturwissenschaftlichen Werth wie die Werke der beiden deutschen
Gelehrten, noch die praktische Bedeutung wie das des Engländers,
aber er ergänzt uns das Bild des fremden Landes oft in willkom-
mener Weise. Das Klima des Landes ist ohne alle Frage für die
Ansiedlung der Europäer geeignet, denn es ist das liebliche Klima
400
Zur Länder- und Völkerkunde.
des Kaffeestrauches und einer Hochebene unter den Tropen.
Auch dort hat der Auswanderer nicht mit örtlichen Krankheiten
zu kämpfen, sobald er nur den heissen Küstensaum im Rücken
hat. Die Einwohner scheinen ausserordentlich gut geartet, die
Vermögen sind sehr glücklich , das heisst gleichmässig vertheilt,
Bettler etwas völlig unbekanntes, Arbeit hoch bezahlt und eifrig
gesucht, die politischen Verhältnisse aber ein wahrer Lichtblick
und eine reine Erquickung in der widerwärtigen Geschichte des
creolischen Amerika. Costarica ist die einzige Republik, Paraguay
düstem Angedenkens ausgenommen, die kein Bürgerkrieg seit der
Befreiung verheert hat, und wo es nicht die Landplage der an-
dern Creolenstaaten , nämlich ein unruhiges Bandenwesen giebt,
denn Soldaten verdienen die raubsüchtigen und treulosen bewaff-
neten Schaaren in Mexico, Peru, Ecuador, den neugranadinischen
und argentinischen Staaten nicht genannt zu werden. Das ein-
zigemal, dass Costarica die Waffen ergriff, geschah bei dem letz-
ten Einfalle Walkers und zur Behauptung der Unabhängigkeit vor
Räuberwillkür. Die Costaricaner zeigten sich dabei wie ein edles
und freies Volk. Sie schufen eine Dictatur, griffen zahlreich zu
den Waffen und fielen tapfer in der Schlacht bei Rivas. Abgaben
und Staatsschulden sind noch unbekannte Dinge, denn die geringen
Bedürfnisse des öffentlichen Haushaltes werden durch die Zölle
hinlänglich gedeckt.
Zum höheren Aufschwung dieses glücklichen Cantons fehlt
nur etwas, eine Strasse nach dem atlantischen Meer, auf der
schwere Güter sich wohlfeil bewegen lassen, denn bis jetzt führt
nur ein Saumpfad , und zwar der schlimmsten Art nach Muelle,
am Sarapiqui, dem Zollhause für die atlantischen Einfuhren. Der
jetzige beschwerliche Weg von San Juan del Norte nach dem
6000 Fuss hohen Rande des Tafellandes wird nach einer Fluss-
schifffahrt bis Muelle über eine Anzahl Querschluchten in drei
Tagen bis nach San Josd, der Hauptstadt, zurückgelegt. Besässe
Costarica nur zwölf oder fünfzehn Meilen Chaussee abwärts nach
den Ladeplätzen am Sarapiqui, also nach der atlantiscHen Seite,
so würde jede seiner Kaffeepflanzungen um die Hälfte oder das
Doppelte mehr werth sein. Der Wunsch ist indessen schwieriger
zu erfüllen, als man sich vorstellt. Zwar haben wir von techni-
schen Hindernissen nichts gelesen, und heutigen Tages, wo die
Alpenpässe von Dampfwagen befahren werden , wo man den
Wanderziele der Deutschen.
401
St. Lorenzstrom überbrückt hat, und Weltmeere durch Tunnel-
durchstiche verbinden will, ist das Wort Unmöglichkeit aus der
Ingenieursprache gestrichen worden. Die Hauptschwierigkeit ist
die unzähmbare Fruchtbarkeit der Natur, denn ein Weg durch
das tropische Dickicht ist wie ein Hieb durch das Wasser. Die
Geschichte der Panamabahn bietet darüber die grösste Belehrung,
denn diese Bahn kostete weit mehr Menschenleben als ein Schlacht-
feld im letzten italienischen Krieg. Wenn man aber auch eine
Strasse hergestellt hätte, ihre Unterhaltung würde beständig schwere
Summen erfordern, man müsste einen hohen Wegzoll erheben,
und dieser würde alle Wohlthaten des Verkehrsmittels wieder illu-
sorisch machen. In Ermanglung einer wohlfeilen Verbindung mit
einem atlantischen Hafen geht daher der Kafifee, das Stapelpro-
duct Costarica's, auf Ochsenkarren die schiefe Ebene des Tafel-
landes abwärts nach Punta Arenas, am Stillen Meere, und muss
dann auf dem Kiel den weiten Umweg um das amerikanische
Hörn nach Europa ertragen. Die Panamabahn kann der Kaffee
nicht benutzen, weil dieses Verkehrsmittel bekannthch wegen seiner
unsinnig hohen Frachtlöhne allen schweren Gütern noch gänzlich
verschlossen ist. Die hohen Dividenden dieser Bahn (oft 30 bis
40 Procent) schreiben sich daher, dass es bis jetzt das Hauptglied
des kürzesten Verkehrs zwischen den atlantischen Staaten und den
Küsten des Stillen Meeres, hauptsächlich aber die grosse Strasse
für Auswanderer nach Californien bildet. Sollte aber der Per-
sonenverkehr sinken, oder durch eine Doppelbahn Concurrenz auf
dem Isthmus entstehen, dann wird die Panamabahn genöthigt
werden, durch den Güterverkehr ihre Dividenden zu suchen, folg-
hch die Tarife herabzusetzen. Uebrigens ist_der Nachtheil einer
Verschiffung des costaricanischen Kaffees um Cap Hörn nicht so
gross, als man sich denkt, denn wenn von Californien sogar Ge-
treide nach England verschifft wird, so kann der Kafifee doch viel
eher die Frachten eines weiten Seeweges nach Europa vertragen.
Wir möchten Costarica jedoch nur katholischen Auswande-
rern empfehlen, denn Protestanten vermeiden wohl besser die
Creolenstaaten, sie müssten denn gemeindenweise sich niederlassen.
Ganz besonders aber empfiehlt die kleine Bauernrepublik der Um-
stand, dass dort die freie Arbeit hoch in Achtung steht. Plan-
tagenwirthschaft ist dort nie oder nur sporadisch betrieben worden.
Jedermann lebt von dem, was er selbst erbaut, und er muss
Peschel Abhandlungen. II. 26
402 Zur Länder- und Völkerkunde.
erbauen, wenn er nicht verhungern will. Das Arbeitslohn ist sehr
hoch und freies Land noch in Fülle zu haben. Auch die Moral
der Bewohner verlangt unsere höchste Achtung; denn es herrscht
im Verkehr das grösste gegenseitige Zutrauen, da bis jetzt Miss-
bräuche desselben den guten Glauben an die Redlichkeit der Mit-
menschen noch nicht zerstört haben.
Das nächste Feld für Auswanderer, wenn wir der atlantischen
Küste gegen Süden folgen , ist Brasilien , und zwar müssen wir
sogleich zwischen Nord- und Süd-, zwischen dem heissen und dem
gemässigten Brasilien unterscheiden. Die Auswanderung nach dem
südamerikanischen Kaiserreiche ist bekanntlich in neuester Zeit
ein Gegenstand lebhafter öfifentUcher Erörterungen in der preussi-
schen und ganz neuerdings in der brasilianischen Kammer ge-
worden. In der deutschen Presse wird seit langem mit ziemlicher
Erbitterung ein Krieg für und wider diese Auswanderung geführt,
und zwar sind es hauptsächlich zwei Personen, welche gegen die
Auswanderung zu wirken suchen, der ehemaUge, kürzHch verab-
schiedete brasilianische Generalconsul Sturz in Berlin und Dr.
Ave Lallemant, welcher die Novara auf ihrer Weltfahrt begleiten
sollte, unterwegs aber in dienstliche Missverhältnisse gerieth, seine
Entlassung verlangte und in Rio ans Land ging, wo er früher
schon mehrere Jahre lang als Arzt gelebt hatte. Lallemant wurde
dem damaligen Colonisationsminister als ein Mann empfohlen, der
über Brasilien zu Gunsten der Einwanderung schreiben würde.
Man versah ihn daher mit Geld zur Bereisung von Südbrasilien
und von Nordbrasilien. Nach Europa zurückgekehrt erschien
zuerst sein Buch über Südbrasilien , wo er das Leben der ange-
siedelten Deutschen so günstig und verlockend schilderte, dass
wir ihn für einen maskirten brasilianischen Werber gehalten hätten,
wenn nicht auch er mit den entschiedensten Ausdrücken das
Parceriasystem verurtheilt hätte. Ganz anders klingt sein Buch
über NordbrasiUen. Dort ist alles nur Schauder, Elend, Hunger,
Fieber, Siechthum unter den Colonisten, namentUch auf den Plan-
tagen des berüchtigten Herrn Ottoni am Mucuri. Für dieses Buch
ist er in der brasilianischen Kammer als ,, Verräther" bezeichnet
worden. Die Brasilianer irrten sich aber nur in der deutschen Natur.
Aus irgend einem trivialen oder gemeinen Beweggrunde öffentlich
zu lügen, dazu giebt sich gottlob bei uns selten jemand her. Nach
unserem Gefühl war indessen Dr. Lallemant, wenn er Reisegeld
Wanderziele der Deutschen.
403
von der brasilianischen Regierung annahm , zum öffentUchen
Schweigen verpflichtet. Er brauchte nicht für die Auswanderung
zu schreiben, er konnte mündHch jedermann abrathen , aber als
öffenthcher Ankläger aufzutreten, dazu war er nicht verpflichtet
und dadurch hat er sich den Namen eines ,, Verräthers" zugezogen,
auf den er selbst möglicherweise stolz ist. Wir zweifeln keinen
Augenblick, dass er sah, was er beschreibt, und wir empfehlen
sein Buch als das beste , um jeden zu curiren, der etwa noch für
brasilianische Herrlichkeiten schwärmen möchte. Uns hat jedoch
seine ,, Reise durch Nordbrasilien"') den Eindruck hinterlassen, als
kehre er geflissentlich nur die Schattenseiten des Ansiedlerlebens
heraus. Auch weiss man recht gut, dass nicht die besten gesell-
schaftlichen Elemente in das Garn der brasihanischen Werber ge-
riethen, sondern vielmehr Leute, die gar nichts, nicht einmal das
Geld zur Ueberfahrt besassen, auch nicht warten wollten, bis ihre
Ersparnisse die Spesen des Auswanderns decken würden , sondern
in gränzenlosem Leichtsinn ihre Freiheit und die Freiheit ihrer
Familie schriftlich verpfändeten. Wenn endlich Siechthum und der
Kirchhof, wie man nach Lallemants Schilderungen glauben möchte-
in kurzer oder längerer Zeit die Auswanderer einen nach dem
andern unfehlbar wegraffen würden , so sieht man nicht ein , auf
welche Art die Colonialherren einen Gewinn aus der höchst kost-
spieligen Einfuhr^) von Colonisten ziehen sollten. Wir würden bei
unsern Zweifeln , ob nicht Lallemant ein wenig übertrieben habe,
auf das Zeugniss eines solchen Ehrenmannes , wie der letzte
preussische Gesandte Hr. v. Meusebach , der ganz im Sinne der
Schilderungen aus Nordbrasilien gegen die brasilianische Pflanzer-
aristokratie aufgetreten ist, den höchsten Werth setzen, wenn dieser
Diplomat nicht leider schon während seines Aufenthaltes in Rio
gemüthskrank gewesen zu sein schiene.
Man glaube desshalb nicht, dass wir für Auswanderung nach
Brasilien schreiben oder gar verzweifelte Landsleute in die Bureaus
der bezahlten Werbeagenten locken wollten, wir meinen nur, es
i) Es ist hier natürlich nur von seinen Schilderungen der deutschen Co-
lonien, nicht von dem werthvollen wissenschaftlichen Inhalt des Buches die
Rede.
2) Nach officiellen Angaben kostete die Verschiftung von 7200 Colonisten
4200 Contos (i Conto oder eine Million Reis ist gleich 1000 Milreis, i Milreis
sind gleich 2 Francs 60 Cent).
26*
AQA Zur Länder- und Völkerkunde.
sei besser, eine Sache nüchtern zu widerlegen, als sich durch Hef-
tigkeit Blossen zu geben. Was von vornherein die Auswanderer
vor Brasilien scheu machen sollte, ist der Umstand, dass die bra-
silianische Regierung in Deutschland die Presse bezahlt, um für
Auswanderung dorthin zu wirken. Das gehört nicht etwa zu den
Denunciationen der Bestechlichkeit, wie sie leider und zu ihrer
eigenen Schande unter deutschen Journalisten Mode geworden sind,
sondern wir beziehen uns auf die Aeusserungen des Colonisations-
ministers Felicardo , der bei den brasiUanischen Kammerverhand-
lungen im August d. J. offen gestand , man habe die öffentliche
Meinung in Deutschland so vollständig gegen sich, dass es viel
Geld gekostet habe und noch viel Geld kosten werde , um sie zu
bearbeiten. Auch das sollte den Auswanderer abschrecken, dass
der Agent, der ihn anwirbt, eine Prämie bekommt, und dass von
Seiten der Regierung oder von Seiten der grossen Grundherren
Vorschüsse gemacht werden, damit der Auswanderer in das Land
ihrer Verheissungen ziehe. Für die Vereinigten Staaten und Austra-
lien schreibt kein Mensch , wirbt kein Mensch und zahlt kein
Mensch , und dennoch ergiesst sich der Strom dorthin in reichen
Fluthen, während trotz aller künstlichen Ablenkungen nach Bra-
silien in sieben Jahren doch nur 18,000 Köpfe gelockt worden sind.
Das heisse Nordbrasilien ist ohnehin kein Land für europäische
Ansiedler. Prinz Adalbert von Preussen erzählt uns in seiner
„Reise nach Brasilien" von sehr vielen deutschen Landsleuten, die
sich bald da, bald dorc angesiedelt hatten. Unter ihnen war auch
nicht Ein Glücklicher, nicht Ein Befriedigter, sondern alle ge-
dachten wehmüthig und sehnsüchtig der Heimath. In Südbrasilien
sind die Verhältnisse günstiger und auf Lallemants Berichte ge-
stützt, ist kein Grund vorhanden, Südbrasilien Auswanderern, die
Vermögen mit hin wegnehmen, zu widerrathen. Der Aus-
wanderer wird kein härteres Loos dort antreffen, als ihn z. B. in
Texas erwartet. Ist der Auswanderer Katholik, so fällt ohnediess
ein gewichtiges Bedenken gegen die Uebersiedlung nach Brasilien
hinweg, insoferne die Brasilianer, trotz aller hochtönenden Phrasen
in ihrer Verfassung, was die Glaubenssachen betrifft, unduldsam
bis zur Verstocktheit sind. Bei Mischehen muss der protestantische
Theil gefasst sein, dass seine Kinder, mag der Wunsch der Eltern
sein, welcher er will, der katholischen Kirche zugeführt werden.
Auch bleibt eine Ehe zwischen Protestanten in den Augen der
Wanderziele der Deutschen.
405
katholischen Brasilianer stets nur ein Concubinat, denn nach ihren
Begriffen fehlte beim Ringwechseln der Priester , fehlte also der
Segen vor dem Altar, fehlte die sacramentale Weihe,
Das zweite Bedenken gegen eine Auswanderung nach dem
gemässigten Südbrasilien sind die rechthchen Folgen der Werbungs-
verträge. Wer nicht wenigstens so viel Vermögen hat, um die
Spesen der Ueberfahrt zu bestreiten und für das erste Jahr sich
den Lebensunterhalt zu verschaffen, der bleibt besser daheim. Es
wird ihm überall, wenn er ohne Vermögen ans Land steigt, oder
Avenn er nicht wenigstens ein geschickter Handwerker ist, das
Loos des Proletariers und des Miethlings zu Theil werden. Aber
ganz besonders gefährlich sind bei Anwerbungen nach Brasilien
die gefürchteten und berüchtigten Parceriacontracte. Unter Par-
ceria versteht man einen zweiseitigen Vertrag, den ein brasilia-
nischer Pflanzer durch seine Agenten in Deutschland mit einem
mittellosen Auswanderer abschliesst. Er verspricht ihm die Spesen
der Ueberfahrt, des Transportes vom Ladungsplatz nach dem
Parceriagebiet, der Verpflegung und Verköstigung bis zu seiner
Selbsternährung vorzustrecken. Die Berechnung dieser Spesen ist
aber eine einseitige und willkürliche , sowie auch die Contracte,
wie Hr. v. Tschudi gerügt hat, gewöhnlich sehr doppelsinnig ab-
gefasst werden. So muss sich der Colonist gefasst machen, dass
ihm für seine Wanderung von der Heimath bis auf die Fazenda
(Pflanzung) bis zu 140 Thaler angesetzt werden. Selbst diese
Summe , welche sich noch durch die weitere Verpflegung steigert,
wäre nicht so unerschwinglich , wenn , freilich gegen alle unsere
Begriffe des gemeinen Rechtes, nicht bloss die FamiHenglieder soli-
darisch für ihre Familienschuld, sondern sämmtliche Familien soli-
darisch wieder für sämmtUche gleichzeitig mit ihnen angeworbenen
Colonisten haften müssten. Im Jahre 1858 gingen nach der An-
siedlung Pedro IL eine grosse Anzahl Deutscher ab, deren Spesen-
conto sich auf 14,600 Thaler belief. Obgleich von ihnen im
ersten Jahre 1 7 8 starben , so wurden doch die überlebenden 6 1 5
Katholiken und 497 Protestanten mit der Gesammtschuld belastet.
Kommt der Colonist auf der Fazenda an , so überweist ihm der
Fazendeiro (Grundherr) eine Kafteepflanzung von jungen und alten
Sträuchern, die er in Stand halten muss. Allerdings ist die Kaffee-
cultur , wie wir billigerweise hinzusetzen müssen , diejenige land-
wirthschaftliche Arbeit, welche in heissen Ländern der Gesundheit
4o6 ^ur Länder- und Völkerkunde.
des Europäers am wenigsten schadet. Die Ernten werden zwischen
dem Colonisten und dem Fazendeiro getheilt, woher der Contract
seinen Namen führt (Parceria = Theilvertrag). Den Verkauf
besorgt jedoch der Eigenthümer, oder, was noch schlim-
mer ist, seine Verwaher. Er berechnet wiederum Spesen und der
reine Ertrag wird dem Colonisten dann gut geschrieben. Dieser
aber ist inzwischen viel tiefer in die Schulden gerathen. Er hat
Kleider, er hat Hausgeräthe gebraucht und hat alles vom Fazen-
deiro sich vorstrecken lassen müssen , der ihm möglichst theuer
alles berechnet. Dazu ist der Zinsfuss in Brasilien so hoch, dass,
wie Hr. v. Tschudi erklärt, bei ungünstigen Ernten oder flauen
Marktpreisen der Colonist nicht einmal die Zinsen für seine Be-
lastungssumme zu erschwingen vermag. Welches Schicksal harrt
also seiner Familie? Hat sie, vom Glück wunderbar begünstigt,
den Acclimatisirungsprocess überstanden , alle Entbehrungen des
Ansiedlerlebens ertragen, war sie von allen Conjuncturen begünstigt,
so ist sie vielleicht nach fünf oder sechs Jahren nicht etwa ver-
mögend oder wohlhabend, sondern sie kann vorläufig nur über
ihre Freiheit verfügen, sie ist erst wieder da angekommen, wo sie
stand, als sie den Parceriavertrag unterzeichnete. Ist sie aber
nicht vom Glück begünstigt gewesen , haben sie Krankheit ge-
schwächt, Missernten betroffen, ist sie tiefer in die Schulden hinein-
gerathen, so muss ein Familienvater mit der Gewissenslast in die
Zukunft sehen, dass er nicht bloss bis zum Grabe an die Scholle
gebunden bleibt, sondern dass sein Leichtsinn und seine Thorheit
sich auch auf seine Kinder weiter vererben werde.
Rechtsschutz ist in Brasihen für den Fremdling nicht vor-
handen. Seine Richter sind Brasihaner und die brasilianische
Justiz sehr oft käuflich, oder wenigstens von vornherein zu Gunsten
des Beklagten, nämlich des brasilianischen Fazendeiro gestimmt.
Mit welchen Augen die Einwanderer aber in Brasilien betrachtet
werden, ist nicht sehr erbauHch zu hören. Brasilien hat seit etwa
zehn Jahren dem Negerschmuggel aus Furcht vor der Anti-
Slavery-Loge in England gänzlich entsagt. Dem dadurch veran-
lassten Ausfall von Arbeitskräften aber, den man anderwärts durch
Kulies und Chinesen zu decken sucht, meint man in Brasilien durch
Einfuhr von Deutschen zu begegnen. Deutsche, die ächte Colo-
nisten werden , Grundbesitz erwerben und Fazenden sich gründen
wollen, wünscht man sich nicht ins Land, sondern man will nur
Wanderziele der Deutschen.
407
diejenigen unserer Landsleute, die ihre Freiheit und ihre Arbeits-
kraft verkaufen wollen. Diese Art von zeitlicher Sklaverei, wie
sie in Folge der Parceriaverträge entsteht, ist eine moderne Rechts-
erscheinung und nachgebildet dem Kuliesystem , nur mit dem
Unterschiede, dass der Kulie nach Ablauf von fünf oder sechs
Jahren am vorausbezeichneten Tage frei wird, und dann eine
Summe empfängt, welche nicht nur die Spesen der Rückreise deckt,
sondern ihm auch einen oft nicht unbeträchtlichen Lohnüberschuss
übrig lässt. Der Kulie steht auch unter dem Schutz einer unpar-
teiischen überwachenden Behörde, und er kann, wenn ein anderer
Pflanzer ihm bessere Bedingungen bietet, und seine Geldverpflich-
tungen übernimmt, den Herrn wechseln. Unseres Wissens besteht
eine Knechtschaft auf ungewisse Zeit bis zur Amortisation eines
Darlehens nur noch in Mexiko. Dort heisst bekanntlich ein Mann,
der sich zur Abtragung einer Schuld seinem Gläubiger verdingt,
ein Peon. Das Rechtsverhältniss hat aber dort eine patriarcha-
lische Weihe. Die Peonen machen eine Ehrensache daraus, ihre
einfachen Vertragspflichten zu erfüllen, und der Herr wiederum
darf seine Rechte nicht missbrauchen. Man merke aber wohl den
Ungeheuern Unterschied zwischen den beiden Freiheitsverpfändun-
gen. In Mexiko verpflichtet sich ein Mexikaner einem Mexikaner
zu einem von der Sitte geheiligten , klaren Dienstverhältniss und
die öffenthche Meinung wacht darüber, dass kein Missbrauch mit
dieser Form von Obligationen getrieben werde. In Brasilien da-
gegen verpflichtet sich ein im Lande selbst missgünstig betrachteter
Fremdling ohne irgend einen moralischen Schutz, ohne den Rück-
halt alter geheiligter Sitte zu einem unklaren, in seinen Conse-
quenzen gefährlichen Dienstverhältniss.
Gewarnt sind also unsere Landsleute genug vor den Schritten
nach den brasilianischen Werbebureaus. Wollen sie durchaus ins
Elend, wollen sie die grösste Schmach eines freien Mannes über
sich ergehen lassen , nämlich Hörigkeit und Robot , so mögen sie
ziehen , aber nicht sich beklagen , dass es ihnen an aufrichtigem
Rathe gefehlt habe.
Die Steppen im Flussgebiete des Silberstromes sind in neuerer
Zeit der Auswanderung besser zugänglich geworden als früher,
seitdem Buenos-Ayres nicht mehr den La Plata geschlossen hält.
Es haben sich namentHch Amerikaner in den zukunftsvollen Plätzen
am Strome angesiedelt. Dass man auch den dortigen Himmel
4o8 ^"r Länder- und Völkerkunde,
und die grüne Erde lieb gewinnen könne, dafür bürgt uns das
Beispiel Aime Bonplands, der freilich auch durch seine Heirath
mit einer halbblütigen Indianerin dem alten Europa gänzlich ent-
fremdet wurde. Wir sehen aber nicht recht ein, was ein deutscher
Landwirth auf den argentinischen Steppen suchen will. Viehzucht
ist dort das einzige Losungswort, und zwar Viehzucht im Style
der Gauchos, beständig im Sattel, mit dem Lasso in der Hand
und mit dem Messer im Gürtel. Es giebt jedoch weiter oberhalb
in der Gabelung, oder nach indischer Redeweise im Duab zwischen
dem Parana und Paraguay einen stillen lachenden Erdenwinkel,
so mild und gesund , dass vor Mangel an Patienten die Aerzte
ihren Beruf aufgegeben haben. Paraguay , die Heimath des Mate'
oder argentinischen Theestrauches , ein Canaan , wo die edlen
Früchte der heissen Zone reifen, gehört zu den lockendsten Zielen
des wärmeren Amerika' s.
nie terrarum mihi praeter omnes
Angulus ridet.
Doch ist es nicht rathsam für Protestanten dorthin zu wandern,
sondern nur für Kathohken, da sich erstere bigotten Verfolgungen
aussetzen möchten. Ferner hängt die Entwicklung Paraguay's von
der Freiheit des Silberstromes und befriedigten Zuständen in den
argentinischen Staaten ab. So lange aber der Silberbund (Argen-
tinische Republik) von Bürgerkriegen verheert wird, kann von einem
Gedeihen des Handels und der Flussschifffahrt die Rede nicht sein.
Paraguay hat sich bisher immer abgesperrt gehalten und gut für
sich dabei gesorgt, und auch jetzt, wo der alte unversöhnliche
Streit zwischen Unitariern und Federahsten in der Argentina von
neuem ausgebrochen ist, wird Paraguay, obgleich seit dem Besuche
der Water Witch den Amerikanern geöffnet, sich wieder absperren,
und der Colonist , der dorthin geht , mag zuvor die Worte der
Fabel bedenken : nulla vestigia retrorsum. Wer aber mit der alten
Welt völlig gebrochen hat, und mit einem Tellsprung den Nachen
hinter sich abstossen will, der gehe nach dem lieblichen und stillen
Paraguay, er wird dort den Himmel finden, den Bonpland liebte,
unter dem Himmel aber einen Klosterfrieden und ein völliges Ver-
gessen, wir möchten sagen, ein Unhörbarwerden Europa's').
l) Das Neueste und Beste über Paraguay schrieb der Befehlshaber der
amerikanischen Expedition Thomas Page, La Plata, the Argentine Confederation
and Paraguay. London 1859.
Wanderziele der Deutscher
409
Auf der andern Seite des neuen Welttheils am stillen Meere
finden wir \'aldivia und Chili als geeignete Ziele für deutsche
Auswanderer, das erste für Landwirthe, das andere für Handwerker.
Chili ist nach Costarica und Paraguay der dritte und der letzte
Creolenstaat , der seit der heiss erstrittenen Unabhängigkeit von
Spanien noch nicht durch bürgerliche Anarchie in \'erwesung über-
gegangen ist, und dessen Finanzen in flottem Zustande sich be-
finden. Auch ist das dortige Klima an der Küste sowohl wie
binnenwärts dem Zuwandernden nicht nachtheilig. In Valdivia
wie in Chili treten die Deutschen zahlreich auf, und zwar laufen
die Fäden der Verbindung mit der alten Hermath über Bremen.
Für den deutschen Handwerker, besonders wenn er Katholik ist,
findet sich an der Südsee kein besseres Unterkommen. Es giebt
in Valparaiso einen deutschen Club, der vielleicht der einzige
seiner Art auf der ganzen Erde ist wegen seiner nationalen Exclu-
sivität. In Chili ist der Deutsche stolz auf seine Abkunft, er wird
so vornehm , dass er nur Deutsche zu Clubgenossen aufnimmt,
und unter den Deutschen selbst wieder eine Auswahl trifft. Der
Club hat sein eigenes Haus, einen Turnboden und eine Kegelbahn.
Aus ihm ist ein Unterstützungsverein für dürftige Landsleute und
ein jVIusikverein hervorgegangen. Es sind aber nicht bloss deutsche
Kauf leute, Aerzte und Bergleute, die in ChiH Wurzel gefasst haben,
sondern auch Handwerker. ,,Aleman",' bemerkt Schmarda (Bd. 2.
S. 367), ist hier eine Empfehlung und unsere Handwerker unter-
lassen es nie, es beizufügen; man liest an den Aushängaschildern
Carpinteria alemana (deutsche Tischlerwerkstatt) und Sastreria
alemana (deutsche Schneiderwerkstatt). Auf einer solchen Basis
und mit einer ackerbautreibenden deutschen Bevölkerung im süd-
lichen Chili hat unser Handel- und Gewerbfleiss die glänzendsten
Aussichten vor sich. Die nationale Schwärmerei für die Kneipe
hat der Deutsche beibehalten und die deutsche Eiche und ähnliche
Wirthshäuser sind Sammelplätze für den Abend."
Hat ein Auswanderer also seinen Blick auf Südamerika ge-
worfen , so rathen wir ihm , besonders wenn er Handwerker ist,
Chili als Wanderziel zu wählen. Die andern Staaten der pacifi-
schen Küste, Bolivia, Peru und Ecuador, gewähren allerdings auch
auf ihren Hochebenen die klimatische Möglichkeit von Ackerbau
treibenden Niederlassungen, allein wer die politischen, socialen und
ökonomischen Verhältnisse dieser unglücklichen Creolenrepubliken
\4^IQ Zur Länder- und Völkerkunde.
kennt, der wird, so lange ihm noch eine andere Wahl bleibt,
gewiss nicht sein künftiges Loos an das Schicksal dieser zerrütteten
Gesellschaften knüpfen wollen. Der Ansiedler wird für die Be-
schwerden und Drangsale des ersten Anfangs da am besten be-
lohnt, wo um ihn herum die Civilisation mächtig fortschreitet.
Was aber nützen ihm seine Opfer und seine Wagnisse in Ländern,
die mehr und mehr verfallen? wo der Bürgerkrieg, kaum erstickt,
wieder in hellen Flammen aufschlägt? wo sich sogar das einge-
borne farbige Element mächtig zu erheben beginnt und dermaleinst
zu Gericht zu sitzen droht über die weissen Eindringlinge und ihre
entartete Nachkommenschaft?
Was der Segen eines gesunden Gemeinwesens zu bedeuten
hat, das merkt man vorzüglich an Californien. Kaum zehn Jahre
brauchten zu verfliessen, dass aus den Zeltlagern steinerne Städte,
aus beutelustigen Goldjägern sesshafte Landwirthe, aus Zuständen
des Faustrechtes und. der Selbsthülfe mit dem Revolver eine sitt-
liche Ordnung entstand. Schon jetzt gehören die Vehmgerichte,
wie sie zweimal in San Francisco eingesetzt werden mussten , zu
den Erinnerungen einer traumartigen Vergangenheit. Die Spiel-
höllen sind in die tiefste Heimlichkeit verbannt und das Laster
ist gezwungen, die Dunkelheit zu suchen. Auf die Goldwäscher,
welche den Schutt der goldführenden Gewässer ausraubten , sind
die Quarzmühlen und die Maschinen, auf den vereinzelten Arbeiter
die Gewerkschaften und Vereine gefolgt. Auf den Spuren des
ersten wagelustigen Gesindels ist eine andere und bessere Classe
von Auswanderern gefolgt, deren Sinn nicht auf die Erbeutung
des edlen Metalls gestellt ist, sondern die sich der unvergänglichen
Schätze des Bodens bemächtigen wollen.
Das Klima ist für die Europäer und ihre Nachkommen so
zuträglich , dass man bis jetzt von Epidemien noch nichts gehört
hat, obgleich diese sich gern dort einnisten, wo sich die verdor-
benen Elemente anderer bürgerlicher Gesellschaften zusammen-
schaaren , und wo so ausschweifend gelebt wird, wie anfangs in
Californien. Auch hätte man erwarten dürfen, dass die Gold-
wäscherei an sich schon, verbunden mit ungenügender oder geradezu
ungesunder Nahrung, die Einwanderer schaarenweis hätte hinweg-
raffen sollen. Californien ist aber im allgemeinen ein trockenes
und von regelmässigen Winden gut gereinigtes Land.
Dort finden sich aber auch die besten Schätze des Pflanzen-
Wanderziele der Deutschen.
411
Wuchses in höchster Vollkommenheit. Es besitzt nicht bloss die
Wellington'schen Riesentannen, sondern man trifft dort, wunderbar
genug, die Brodfrüchte wild oder verwildert wachsend. J. Fröbel
sah ganze Flächen mit Hafer bestanden, und da man in der Sierra
Nevada auch Weizen und Gerste an Orten traf, wo allem Ver-
muthen nach nie ein Europäer zuvor eingedrungen war, so schmei-
chelte man sich, in Californien die längst gesuchte Wiege und die
Urheimath unserer Brodfrüchte angetroffen zu haben. Es gehört
nicht in den Kreis dieser Betrachtungen, zu entscheiden, ob unsere
brodstofftragenden Grasarten in ihrer jetzigen Gestalt freiwillige
Gaben der Natur oder Zöglinge künstlicher Pflege sind, es genügt
schon das wiederholte Zeugniss wissenschaftHcher Reisenden, dass
die Cerealien dort ohne menschliche Pflege gesellig auftreten, um
Californien uns als die Stätte höchster Fruchtbarkeit erscheinen zu
lassen. Auch hat der Getreidebau in Californien in neuester Zeit
eine grossartige Richtung bekommen. Schon in den ersten Jahren
der Besiedlung, als man den Goldgräbern noch Mehl und Zwieback
zuführen musste, erkannten klare Beobachter, dass Californien in
nicht langer Zeit nicht bloss sein eigenes Brod erzeugen, sondern
auch die bedürftigen Küstenplätze der Südsee damit versorgen
werde. Aber niemand hätte es für denkbar gehalten, dass Cali-
fornien im Jahre 1860 schon eine Weizenflotte nach England
schicken sollte'). Wer ein wenig um Volkswirthschaft sich ge-
kümmert hat, wird von dieser Erscheinung tief betroften werden.
Wie fruchtbar muss nicht ein Land sein, von wo trotz des hohen
Arbeitslohnes und der starken Spesen einer Verschiffung um das
Cap Hörn, dennoch mit Nutzen Getreide nach Europa abgesetzt
werden kann ! Unter den Thierproducten, die Californien ausführt,
nimmt auch die Wolle jährlich einen höheren Rang ein, wenn
auch die dortige Schafzucht nie eine solche Entwicklung zu er-
reichen vermag, wie in Australien oder in den Caplanden. Seit
etwa vier Jahren hat man auch Reben zu pflanzen begonnen, und
nach den patriotischen Versicherungen der Californier, ein aus-
gezeichnetes, oder wie wir selbst bescheidener sagen wollen, ein
trinkbares Gewächs erzielt. Da gerade in unsem Weinländem vor
dem Jahre 1857 allgemeines Elend geherrscht hat und dort, wo
die Traubenfäule nicht erloschen ist, noch immer herrscht, jetzt
aber, nach dem Rhythmus zwischen guten und schlechten Herbsten,
1) Die Gesammtausfuhr erreichte einen Werth von drei Millionen Dollar.
412
Zur Länder- und Völkerkunde.
die letzten für die nächste Zeit eher zu erwarten sind, als die
andern, so ist es gewiss ein günstiger Umstand, dass in den
meisten neuen Ansiedlungsgebieten, die sich empfehlen lassen, wie
Missouri, die Caplande, Californien und Australien , überall Wein
gebaut und der Weinbau in starker Zunahme begriffen ist. Der
Weinbau in Californien bietet, beiläufig bemerkt, den grossen
Vortheil, dass wahre Missernten wegen der gleichmässigen Tempe-
ratur nicht eintreten. Die Traubenfäule hat sich aber bis jetzt
nur an eingewanderten, nicht an den einheimisch amerikanischen
Reben und nur auf allzu geilen Bodenarten gezeigt.
Californien ist übrigens nicht das einzige Küstengebiet im
nördlichen Theile des stillen Oceans, wohin eine landwirthschaft-
liche Bevölkerung auswandern kann. Durch die Goldfunde im
Fraserthale und durch die Entdeckung von Kohlenflötzen auf Van-
couver hat diese Insel sowohl, wie Britisch Columbien, sich rasch
mit Ansiedlern zum Theil auf Kosten Californiens bedeckt. Beide
Gebiete geniessen den Vorzug fast aller pacifischen Küsten inner-
halb der gemässigten Zonen, nämUch den Vorzug der Salubrität.
Trotz der Nähe des Meeres herrschen aber in den Sommermonaten
auf Vancouver , wie auf dem Festlande grosse Trockenheit und
hohe Temperaturen; die Winter dagegen sind mild wie an den
atlantischen Küsten Nordeuropa' s und anhaltende Fröste gehören
zu den höchsten Seltenheiten. Der landwirthschaftliche Betrieb
wird sich dort indessen auf wenige Fächer beschränken und er
ist nicht so mannigfaltig wie in Californien. Von Obst- und Wein-
bau ist am stillen Meer unter gleicher Breite wie Mitteldeutschland
keine Rede. Auch für Schafzucht scheint das Land minder ge-
eignet, dagegen ist der Körnerbau und die Rinderzucht jetzt schon
auf Vancouver in hoher Blüthe. Britisch Columbien besitzt über-
haupt vor Californien nur den einen Vorzug, dass es eine englische
Colonie ist. Der Grund und Boden dagegen gehört der Hud-
sonsbaygesellschaft und wird nicht so wohlfeil gegeben als in den
Vereinigten Staaten. Jeder Ansiedler hat das Recht, 150 Acres
Land sich auszuwählen und vor dem Ortsrichter seine Besitz-
ergreifung zu erklären, wofür er nur eine Taxe von 8 Schilling (4 fl.
48 kr.) zu zahlen hat. Will er aber nicht bloss occupiren, sondern
das Eigenthum erwerben, so muss er für jeden Acre 10 Schilling
(6 fi.). also mehr als das Doppelte wie in den Vereinigten Staaten
zahlen.
Wanderziele der Deutschen.
413
Nach den bisherigen Bestimmungen sind diese Vorrechte
auch nur den britischen Unterthanen zugesichert worden, indessen
lässt sich, da schon der Occupant seine Rechtstitel verkaufen darf,
diese Einschränkung durch ein Zwischengeschäft und durch
Zwischenhändler umgehen. Bisher sind übrigens nur britische
Unterthanen und zwar meistens Schotten nach Columbien einge-
wandert, abgesehen von den Californiern, die nur zur Ausbeutung
des Goldschuttes, nicht zur Sesshaftmachung einzogen.
Wer wird aber so hohe Breiten wählen, wenn ihm in der
Südsee zwei andere günstiger gelegene Gebiete zum Auswandern
offen stehen, nämlich der australische Continent und die Neusee-
landgruppe ! Im jetzigen Augenblicke sind gerade zwei ausseror-
dentlich günstige Umstände für Auswanderung nach Australien
eingetreten, nämlich Mac Donall Stuarts grossartige Entdeckungen
eines weidereichen Kernes des Festlandes und der Sturz der so-
genannten Squattokratie in Neu-Süd-Wales. Das erstere Ereigniss
eröffnet allen Ansiedlern der australischen Küstenreiche Aussichten
auf eine grossartige Zukunft und auf ein fortgesetztes Gedeihen im
Style der Vereinigten Staaten, das andere gewährt dem Auswan-
derer mit geringem Vermögen eine ausserordentliche Erleichterung,
sich ansässig zu machen. Neu-Süd-Wales und das jetzt von ihm
getrennte und unabhängige Queensland ist nämlich weit eher als
Victoria oder Südaustralien für Einwanderung ackerbautreibender
Elemente geeignet. In Victoria herrschen überhaupt noch die
eigenthümlichen ökonomischen Schwankungen in Folge der Gold-
erzeugung, welche das Sesshaftmachen beträchtlich erschweren.
An Grund und Boden ist zwar bis jetzt noch viel vorhanden (52
Millionen Acres), aber er steht ziemlich hoch im Preise. Zu
Gunsten des Colonialfiscus werden die wilden Ländereien verstei-
gert und bisher wurden durchschnittlich 35V2 Schilling oder 21
Gulden per Acre erlöst, was also beim Erwerb von 100 oder 150
Acres schon eine hübsche Summe erfordert, die nicht jeder Aus-
wanderer mitbringt. Auch der Unterhalt in der ersten Zeit und,
wenn man so sagen darf, die Equipirung des Squatters sind ziem-
lich kostspielig, weil eben Alles noch theuer in der Colonie ist.
Uebrigens sind die Deutschen srhon ziemlich zahlreich in den
Städten wie auf dem flachen Lande, Sie besitzen mehrere Zei-
tungen und fangen an so viel zu gelten, dass bereits Eifersucht
auf Seiten der britischen Einwanderer vorhanden ist. Die Auswan-
^lA Zur Länder- und Völkerkunde.
derung dorthin hat übrigens seit 1860 etwas abgenommen. Wolle
und Talg, also die Producte der Viehzucht sind, abgesehen vom
Golde, die wichtigsten Rimessen, welche diese Colonie nach Europa
absetzt.
In Neu-Süd-Wales war bisher der Einwanderung unbemittelter
Landwirthe die Squattokratie oder die reichen Hutpächter im
höchsten Grade hinderlich. Diese Leute, welche als ,,alte Fami-
lien" in der Colonie gelten und eine Art von Adel vorstellen
wollen, sind beiläufig bemerkt höchst zweideutigen Ursprungs,
nämlich die Nachkommen der Landesbewohner aus der Sträflings-
zeit. Der Gouverneur Obrist Maquarie war es bekanntlich, wel-
cher im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die Colonie durch
die Ticket-of-leave-men, d. h. eine Art mit Pass beurlaubter Sträf-
linge gehoben hat. Er ging in seinem Colonisationsfanatismus so
weit, dass er sogar solche Leute, nachdem sie ihr Glück gemacht
hatten, in Gesellschaft empfing. Die altern Ansiedler trachteten
nun darnach, das Grundeigenthum ihrer Kaste ausschliesslich zu
erhalten. Der Einwanderer, der Ackerbau treiben wollte und ein
kleines Besitzthum suchte, wurde dadurch verscheucht, dass man
den Minimalpreis bei Landversteigerungen auf i Pfd. St. (12 fl.)
per Acre ansetzte und nur grosse Parcellen von mindestens 160
Acres abgab. Dagegen behielten sich die „Squatter" ') vor, von
dem Fiscus sogenannte ,,Runs" zu pachten. Eine solche Hutung
(Run) besteht aus 25 englischen Quadratmeilen (also beinahe 1^/3
deutsche Quadratmeilen) und es gehen darauf 10,000 Schafe oder
1600 Rinder zur Weide. Der Pachtschilling für den Run beträgt
10 Pf. St. (120 fl.) und ausserdem für jedes Rind wieder 1^2,
für jedes Schaf V2 Penny Kopfgeld, also für eine Schafheerde von
10,000 Häuptern an Kopfgeldern 248 fl. Die Pachten lauten auf
8 oder 14 Jahre, und nach Ablauf der Frist behält der Pächter
unter allen Umständen das Vorkaufsrecht. Man sieht auf den
ersten Blick, dass dieses System der bevorzugten und der reichen
Classe den ewigen Genuss des Grasbodens der Colonie sichern
sollte, denn wer anders als sie besass die Mittel, mit solclien
i) Der Begriff Squatter ist nicht genau der nämliche in Australien, wie
in den Vereinigten Staaten. Dort bezeichnet man damit die Grosspächter,
während in diesen unter Squatter nur ein Ansiedler und zwar ein Ansiedler
auf Jungfernland verstanden wird,
f
Wanderziele der Deutschen.
415
grossartigen Geschäften sogleich zu beginnen? Auf der andern
Seite bheb den ankommenden Einwanderern nichts übrig, als sich
bei den Squattern gegen Lohn und Tantiemen als Hirten zu ver-
dingen. Auch gab es eine Unzahl freiwillig dienender Landwirthe,
Volontärs oder „Swells" genannt, die meistens aus guten Familien
von ihren Eltern mit einem Stück Geld in der Tasche nach
Australien geschickt wurden , um dort reich zu werden. Zuvor
aber sollten sie sich bei älteren Ansiedlern über die Wirthschafts-
geheimnisse unterrichten und für die Kost sich verdingen.
Die Heerden befinden sich alle im Innern des Landes und
müssen zu ihrer Verwerthung nach der Küste getrieben werden.
Diess besorgen die Treiber, eine eigenthümhche Classe von Men-
schen, unter denen sich mancher missrathene Gentleman befinden
soll. Das Geschäft hat etwas Ritterliches, weil manche Abenteuer
und Vermögenswagnisse damit verknüpft sind. Die Treiber sind
auch diejenigen, welche am raschesten zu grossem Vermögen
gelangen. Die Heerden selbst vermehren sich alljährlich um die
Hälfte und es gäbe in der Welt wohl keinen Erwerb, der so rasch
zur Vervielfältigung grosser Vermögen führte, wie die australische
Schafzucht, wenn nicht wiederum durch die Seuchen oft der grösste
Reichthum in kurzer Zeit vernichtet und der Schafzüchter immer
wieder auf bescheidene Anfänge zurückgeworfen würde.
Seuchen sind es denn auch gewesen , die in den letzt ver-
flossenen Jahren die Squatter in Queensland und Neu-Süd-Wales
so schwer betroffen haben, dass einer nach dem andern sein Ver-
mögen zerrüttet sah. Nur wer vorsichtig auch Rinderzucht be-
trieb, hat etwas von seinem Heerdenbestand gerettet. In Folge
der zahlreichen Bankerotte ist aber der Einfluss der Squatter so
lief erschüttert worden, dass es der demokratischen Partei in den
Colonien gelungen ist, das alte Gesetz über Versteigerung und
Verpachtung der Itronländereien umzustossen und dafür den
Grundsatz der freien Wahl des Ansiedlungsplatzes (free selection)
oder der Occupationsform. der Vereinigten Staaten rechthche Gel-
tung zu verschaffen.
Jetzt, wo die gesetzlichen Hindernisse für den kleinen An-
siedler beseitigt sind, bietet Neu-Süd-Wales und Queensland dem
deutschen Auswanderer die nämlichen Vortheile, wie die Vereinig-
ten Staaten. Er findet im Gegentheil ein gesünderes Klima, wo
merkwürdiger Weise trotz der ganz allgemeinen Trunksucht keine
^ j 5 Zur Länder- und Völkerkunde.
gesteigerte Sterblichkeit herrscht. In der neuen Colonie Queens-
land kann er Ananas und Feigen unbedeckt im Freien lassen,
seine Hütte unter dem Schatten von Palmen bauen und doch die
besten Gemüsearten und Feldfrüchte der Heimath daneben ziehen.
Aber es fehlt Queensland der herrliche Hintergrund der „blauen
Berge", die in Neu-Süd-Wales das deutsche Herz durch Lieblich-
keit der landschaftlichen Bilder befriedigen, auch ist in den be-
wohnten Küstentheilen ein trüber und trübe stimmender Himmel
die Regel.
An Freiheit, wenn ihm danach gelüstet, fehlt es dem Aus-
wanderer in den englischen Colonien nicht, denn der Grundsatz
der Selbstregierung gilt dort unverkümmert , die britische Krone
begnügt sich vielmehr damit, die föderalistischen Neigungen der
Ansiedler anzufachen. Damit sie nämlich in Australien nicht er-
lebe, was ihr bereits in den Vereinigten Staaten widerfahren ist,
sucht sie dort zu theilen und zu herrschen. Sie hat die Ablösung
von Queensland in dieser Absicht begünstigt, um durch den er-
wachenden Geist der Autonomie und der Liebe zur Selbststän-
digkeit ein Bündniss der einzelnen Colonien unter einander zu
verhindern, indem sie trennende Elemente und trennende örtliche
Interessen gross zu ziehen sucht. Für eine längere Zeit mag ihr
diess auch gelingen, und es wird daher wohl das jetzige Geschlecht
zu Grabe gehen, ehe die Welt erfährt, dass sich eine Union der
freien Staaten Australiens gebildet habe.
Von der Neuseelandsgruppe ist es bisher die nördliche und
die mittlere Insel gewesen, wo sich Auswanderer, meist britische
Unterthanen, niedergelassen haben. Das Klima dieser Inseln ist
unbillig gerühmt worden, es ist im Gegentheil kalt und feucht und
gleicht vielmehr dem Klima des nördlichen wie des südlichen
Europa, dessen edle Früchte auch nicht, selbst nicht auf der
Nordinsel, gedeihen. Für Lungenleidende sind diese stürmischen
Küsten höchst unpassende Zufluchtsorte und Erholung suchen dort
nur die indischen Officiere und Civilbeamten , denen die heisse
Sonne der Halbinsel und klimatische Fieber die Nervenkräfte ge-
schwächt haben. Grund und Boden wird überall theuer , in der
Nähe der grossen Ansiedlungen sogar mit fabelhaften Preisen be-
zahlt. Bekanntlich haben die Engländer bisher nur sehr enge
Flächen auf den Inseln an sich bringen können, denn die Ein-
geborenen oder Maori, ein äusserst streitbarer und im Buschkriege
Wanderziele der Deutschen. ^jj
den Engländern überlegener, bisher auch (wie bis zum Jahre 1857
die Kaffern^ immer siegreicher Menschenschlag, veräussern nichts
von ihren Ländereien , sie haben sogar einen Bund geschlossen,
dass jeder Landverkauf, mag er von einem Einzelnen oder einem
Clan geschlossen werden, als nichtig zu betrachten ist. Wer also
Landwirthschaft im Grossen treiben will, muss ein Vermögen von
mindestens 12 — 15,000 fl. mitbringen. Dennoch bezeichnet
Schmarda Neu-Seeland als das Wanderziel für arme Leute. Es
ist diess aber so zu verstehen, dass der kleine Auswanderer, der
als Zwergwirth beginnen, Kartoffeln und Gemüse bauen will , in
Neu-Seeland sehr hohe Preise für seine Erzeugnisse erzielen kann,
weil er Absatz nach den grossen und nahen Seeplätzen des austra-
lischen Festlandes findet. Wen aber nicht eine besondere Lieb-
haberei nach den reizenden Landschaften der Inseln oder ein Ge-
lüsten nach den Aufregungen von Maorikämpfen dorthin zieht,
der thut wahrlich besser, sich den Deutschen in Australien an-
zuschliessen.
Fassen wir den Inhalt dieser Musterung der Auswanderungs-
gebiete zusammen, so haben wir gänzlich geschwiegen von allen
tropischen Fieberländern, wir haben abgerathen von der Auswan-
derung nach Ungarn, Südrussland, Algerien, Nord-Brasilien und
gewarnt vor dem Parceriasystem in Süd-Brasihen. Wer einen
harten Winter nicht fürchtet, dem bietet Canada besondere Vor-
theile. Katholiken, die sich nach dem tropischen Frühling sehnen,
denen winken die aromatischen Kaffeeplantagen Costarica's oder
das klösterliche Paraguay, sind sie aber tüchtige Handwerker, so
mögen sie zu den Chilenen gehen, dem achtbarsten Elemente unter
den Creolen. Unbemittelten Auswanderern sind die Caplande
nicht dringend genug zu empfehlen, wer aber einiges Vermögen
besitzt, der kann immer noch die Vereinigten Staaten einschliess-
hch Californiens oder eine der lustig gedeihenden Colonien Austra-
liens wählen. Jeder aber sei fest entschlossen, zu arbeiten und
zu entbehren, denn ein hartes Leben erwartet ihn unter allen
Umständen.
Peschel, Abhandlungen. II. 27
Ferienreisen.
Eine Rigifahrt.
(Beilage zu Nr. 254 der AUgem. Zeitung vom il. September 1855.)
Meine Erwartungen auf eine belohnende Aussicht auf dem
Rigigipfel waren sehr gering, als wir am 29. August in Arth an-
kamen. Die Sonne beglückte uns zwar mit ungemilderter Gluth,
aber der Himmel zeigte ein kränkliches Blau , und weisse Dünste
verhüllten fortwährend den Pilatus bei der Fahrt über den Zuger
See. Indessen war der Rigi ganz wolkenfrei, und unser wetter-
kundiger Führer versicherte uns , dass seit dem Morgen die Aus-
sicht sich beständig gebessert habe. Sie kennen ja den kurzen
Fussweg rigiaufwärts nach dem Dächli. Wir gewannen auf diesem
steilen Fusspfad etwa eine halbe Stunde vor der berittenen Gesell-
schaft, die mit uns von Arth aufgebrochen war. Dieser Zeitgewinn
hatte seinen Werth, denn kaum hatten wir uns im Dächli nieder-
gelassen, so hessen sich die ersten Donnerschläge vernehmen,
langsam und gemessen von dem mannigfachen Echo der Berge
wiederholt. Keine fünf Minuten vergingen, so war das Thal unter
uns mit der Aussicht nach dem Rossberg, dem Lowerzer See und
den Schwitzermythen durch eine Wolkenmasse verschlossen, die
querüber trüb und widerwärtig wie ein Spinngewebe sich an die
Bergwände hing , und bald schoss ein reichlicher Regen auf den
gehchteten Abhang hinab, auf dem jetzt einige berittene Regen-
schirme , Wachstuchmäntel und graue Hüte sichtbar wurden. Im
stillen hatte ich auf den Genuss einer Abend- und Morgenbeleuch-
tung verzichtet, doppelt betrübt um meine Heben Reisegefährten,
die zum erstenmal den Berg bestiegen und nun ziemlich sicher
Eine Rigifahrt. 4IQ
sein konnten, bei der grossen Touristenlotterie auf dem Rigi eine
Niete zu ziehen. Nach einigem Zaudern brachen wir im Regen
wieder auf, der wenig nachliess, bis wir beim Klösterh das zweite
Drittel unserer Bergfahrt erreicht hatten. Die Gewitterschauer
gewährten uns wenigstens den Anblick einer reichen Wassermasse,
die sich über die braunen Felsenwände an der andern Thalseite
der Rigifurche von dem Rücken der Scheideck herabstürzte. In
einem Wirthshaus des Wallfahrtsortes Hessen wir uns Thee bereiten,
der an Wohlgeschmack einen Aufguss über Tabakblätter ziemlich
erreichte. Als wir uns auf solche Art für vergangene und künftige
Beschwerden erquickt hatten, setzten wir unsere Bergstöcke weiter.
Aber siehe da! der Regen hatte aufgehört, und als wir die
„Staffel" erreichten, lag unter uns die grosse Fläche nach Nord-
west ausgebreitet, und sechs bis sieben Seen waren sichtbar.
Allein alles ist in die Leibfarben des Aergers gekleidet, der Himmel
voll von zerfetztem tuschfarbenen Gewölk , wenig verklärt durch
ein schmutziges Abendroth. Der Pilatus, nach dem ich schon
auf dem Zuger See so sehnsüchtig mich umgesehen , schimmerte
w^etterfarbig und nur einem alten Verehrer kenntlich über den
Luzerner See herüber. Eigentlich bot die Veränderung des Wetters
wenig Hoffnung auf eine Morgenaussicht, aber was ist stärker als
der nebelverjagende Glaube eines begierigen Rigifahrers? Auf dem
Gipfel preisen wir uns glücklich, mit dem Telegraphen Zimmer
und Betten bestellt zu haben. Die Telegraphenleitung geht nämlich
bis zur Kaltwasseranstalt, und ein Bote trägt die Depeschen nach
dem Hause auf der Kulm. Lassen Sie mich dieses Serai der
Touristenkarawanen ein wenig preisen, denn es bildet eine höchst
rühmenswerthe Ausnahme der Schweizer Gasthäuser. An der
Wirthstafel wird ein Abendessen aufgetragen, wie man es als
Gasthauskost selten besser antrifft. Die Weine sind die trefflichsten,
die mir je in der Schweiz vorgekommen waren, und wenn man
bedenkt, dass alles, selbst das Wasch- und Trinkwasser den Berg
hinaufgetragen werden muss, so wird jeder Billige die Zeche noch
wohlfeil finden müssen, selbst wenn der Rigi nicht in der theuren
Schweiz, sondern im wohlfeilen Guldenlande läge. Und diess
treffen wir auf einem Punkte an, wo der Wirth Monopolpreise
erheben könnte.
Nachdem wir uns für unsere überstandenen Beschwerden an
dem vorgefundenen Chambertin in vollen Zügen erquickt hatten,
27*
420
Ferienreisen.
legten wir uns nieder mit dem Schlummer der Gerechten. Mir
jedoch war eine schlaflose Nacht bescheert, und für den Verlust
des Schlummers belohnte mich nur, dass es seit 2 Uhr plötzlich
hell wurde. Das Gewitter hatte dem Mond Platz gemacht, und
freundlich blickten mich durchs Fenster die fünf Sterne der Cas-
siopeia an. Nach 4 Uhr Hess sich das bekannte Signal des Alpen-
hornbläsers vernehmen , welches bekanntlich den Rigipilgern das
Loos eines schönen Morgens verkündet. Schweigt die hölzerne
Trompete , dann mögen die Schläfer ruhig zwischen den warmen
Decken bleiben, denn die Aussicht lohnt dann nicht das Schuh-
anziehen.
Um die Wette wurde jetzt der Morgenanzug vollendet. Eine
Tafel im Zimmer enthielt das Verbot, die wollenen Bettdecken
mit ins Freie zu führen, wie diess sonst so sehr im Schwung war,
und beraubte uns daher des ehemaligen Schauspieles, die elegante
Welt beduinisirt zu sehen. Die Aussicht gehörte freilich nicht zu
den vollkommensten, denn die Ebene unter unsern Füssen war
bedeckt mit einem leichten Nebelmeer, als schlummere sie unter
einer Schicht gekrämpelter Baumwolle. Weder der Schwarzwald
noch der Jura, noch die Seen gegen Westen und Norden waren
sichtbar. Dafür waren ,,hoch vom Sentis her" bis zur Blümlis-Alp
alle Berge wie frisch gewaschen , keine Spitze fehlte , jede war
deutlich und lag in der Reinheit des Morgens in trügerischer Nähe
vor uns. Eine Schilderung dieses grossen , feierlichen und be-
geisternden Anblicks ist eine schwierige Sache. Wer das Schau-
spiel genossen, den verdriesst die geringe Kraft des geschriebenen
Wortes, und wer den Zaubergipfel nie bestiegen, dem kann man
keinen Begriff geben von dem innerlichen Jauchzen, wenn unser
Blick hinabfällt auf den dunkelblauen Spiegel des Vierwaldstätter-
sees, der durch zertheilte Nebel sichtbar wird und dann sich auf-
wärts schwingt nach dem nahen Höhenzuge der Unterwaldner
Gebirge, ein Halbrund prächtig gehörnter Alpen am Rande mit
blendendem Schnee gefleckt. Ganz im Osten tiefdunkelblau auf
dem Purpursaum des Morgens hebt sich der Sentis, die erste indi-
vidualisirte Berggruppe, das äusserste Ende des sichelförmigen
Gebirgstheaters. Der Sentis in dieser wolkenhohen Schau ist
mir immer vorgekommen wie das Aufheben des Capellmeisterstabes
beim Beginn einer grossartigen Symphonie. Die Felsenburg des
Glärnisch mit ihren quadratischen Formen ist ein „Satz" für sich.
Eine Rigifahrt. 421
Aber nun schlingen sich verschiedene Höhenkämme voller Zinken
und Zacken bald auf-, bald niedersteigend , durch und über , vor
und hintereinander, und es fordert einige Aufmerksamkeit, Glieder
und Thäler, die Glarner von den Urner Systemen zu sondern und
sich die Richtung der Achsen und der Wasserscheiden deutlich
m machen. Die nähern Gegenstände verlangen dann wieder ihre
Rechte, und der Blick wird hinabgezogen nach dem ovalen Lo-
werzer See, hinter dem die scharfen Ränder des gabelförmig ge-
spaltenen kleinen Mythen schroff aufsteigen, denen als erwachsener
Bruder der grosse Mythen, ein ungeheurer Felsenzahn mit fleisch_
rother Spitze, über die Achsel schaut. Bald weiss man nicht mehr^
wo man hinschauen soll, bis zuletzt und am längsten, und immer
wieder das Auge an der krystallnen Pracht der Berner Alpengipfel
haften bleibt, auf welche jetzt der erste Lichtgruss fällt. Jeder
Berg in dieser Gruppe scheint uns bedeutend, ich hätte beinahe
gesagt durch seine Persönlichkeit, und sie zusammen, einen Kopf
höher als alle, auch die schneebedeckten Häupter lassen sich in
ihrem Hermelin wie ein Monarchencongress , wie die Churfürsten-
bank auf dem Reichstag hoher Alpengipfel anschauen. Sie er-
kennen und unterscheiden deuthch zur Linken das Finsteraarhorn,
die Schreckhörner, das feingespitzte Wetterhorn, die stumpfe Höhen-
kante des Mönches , den Zapfen des Eigers und hinter ihm drei
glänzende Pünktchen, die, wie Sie dem Führer glauben dürfen,
dem lichtbestrahlten Saum der halbversteckten Jungfrau angehören.
Wenn diese Aristokratie der Alpenwelt vom Licht getroffen wird
und selbst zu leuchten anhebt, dann haben Sie für nichts mehr
Sinn was tiefer hegt. Aber höher steigt die Sonne und höher
und mit der Vertheilung von Licht und Schatten klären sich allent-
halben neue Gipfel von den tiefblauen Gründen los. Jetzt vermag
Sie wieder der Pilatus zu fesseln, an dessen Felsenpyramide lang-
sam wie ein bläuliches Gewand der Schatten des Rigi hinabsinkt.
Aber freilich der Pilatus will nicht vom Rigi aus betrachtet werden,
sondern von der Ebene, wo seine phantastisch aufgestiegenen
Kanten gleichsam gen Himmel aufzulodern scheinen. Und jetzt
ist alles erwacht, die Thäler werden grün, die Seen spiegeln freund-
Hche Städtchen, weisse Wölkchen klettern nach den Scheiteln der
Berge empor und allmählich wird es einsam auf der Rigispitze,
denn die Morgenluft hat den Appetit geschärft , und es wartet
unsrer die Labung eines Theefrühstücks.
422
Ferienreisen.
Behielte man nicht auf dem Rückweg nach Weggis das beste
Stück der Rigiaussicht und namentlich die schneeweisse Krystall-
krone des Bemer Oberlandes im Gesicht, und zöge uns nicht das
saftige Blau und Blaugrüne des Vierwaldstättersees hinab, ein Los-
reissen von diesem Gemälde im Morgensonnenlicht wäre eine
Schmähung, wäre eine Versündigung an allen Schöpfungszaubern
dieses lichten Bildes. Verwundert schauen die säubern Rigikühe
Pilger und Saumthiere den schroffen Weg nach dem Luzerner See
hinab eilen, andern grossartigen Eindrücken entgegen, voll Befrie-
digung und dankbar über den erhabenen Genuss , den so wenige
sich verstatten dürfen, und der so manchen von den wenigen
versagt wurde.
. . . Beim nochmaligem Durchlesen dieser Zeilen fällt mir auf,
dass ich eigenthch vieles geschildert, was ich nicht gesehen, und
dass unwillkürlich in die neuen Eindrücke frühere Erinnerungen
sich gemischt haben, die beim Durchlesen alter Tagebücher leben-
dig mir erwachten. Es fehlte uns nämlich diessmal ein völlig ab-
geklärter Osten , und als sich die Sonne hinter einem schwarzen
Wolkenstreif erhob, hatte sich ihre Gluth schon abgekühlt, und
sie kam als blasse Scheibe zum Vorschein. Die kleine hölzerne
Pyramide auf der Kulm war vollständig mit Engländern beiderlei
Geschlechtes überfüllt, die mit langgestreckten Hälsen dem Auf-
steigen des leuchtenden Gestirns entgegenharrten. Wahrscheinlich
mochten sie glauben , es sei der Sonnenaufgang selbst , dem zu
lieb sie ihre Morgenruhe geopfert, als ob die Sonne auf dem Rigi
prächtiger aufginge als in der Ebene, oder wohl gar auf dem
gewölbten Spiegel des Meeres. So kehrten sie beständig dem
grossen Schauspiel , nämlich der Alpenwelt im Morgenlicht , den
Rücken zu, und ich möchte wetten, dass sie sich schwer beklagt,
keinen rechten Sonnenaufgang genossen zu haben — blind, wie
Teiresias gescholten wird, an Gefühl und Aug' und Sinnen 1
Das Reussthal.
(Beilage zu Nr. 263 der Allgem. Zeitung vom 20. September 1855.)
Von allen Alpenseen ist der Vierwaldstätter mein Liebling,
den Genfer und den Comersee nicht ausgeschlossen. Wem das
Das Reussthal.
423
wie eine Ketzerei klingt, der wird wenigstens nicht bestreiten,
dass der See mit seinen vier bis fünf Kammern die mannigfaltig-
sten Reize gewährt, es ist kein See, es sind fünf Seen, und drei
davon geschmückt mit der Aussicht auf solche Meisterstücke geo-
logischer Fertigkeit, wie der Pilatus in der Luzerner Ecke, wie die
beiden Mythen über der Schweizer Bucht und wie die hohe
Schneepyramide des Bristenstocks in der engen Schlucht von
Fluelen. Und betrachten Sie aufmerksam die Wände des Rigi
und gegenüber die Felsen des Grütli, dort gewahren Sie die
Schichten der Gesteine, dünn, aber drei-, vier-, und fünffach zu-
sammengefaltet und gequetscht wie ein Stück Wäsche unter dem
Bügeleisen, oder beinahe zusammengerollt wie eine Omelette.
Mögen die Gelehrten bestimmen, wann das geschehen sei, und
welche geognostische Generation hauptsächlich die Stösse zu er-
leiden hatte, welche die Oberfläche zum Bersten zwang, das Thal
des Vierwaldstättersees aufriss und jene Gipfel hob. Der Laie
sieht in jenen Schriftzeichen an den Felsenwänden die hierogly-
phischen Namensschilder der grossen pharaonischen Bauten geo-
logischer Naturkräfte. Einen zweiten Weltengestalter lernt er
respectiren, wenn er die nussbaumbepflanzte Strasse bei Amsteg
verlässt und der tobenden Reuss aufwärts folgt. Beim Mönchs-
sprung trifft man auf den ersten Fall des zornigen Gewässers, wo
sich das Element, durch die enge Felsenklamm gezwängt, in die
Tiefe stürzt und mit ehernem Mund die Felsen anbrüllt. Das
alles ist aber nur eine Vorbereitung auf die classische Stelle, welche
bei Göschenen beginnt und der Gotthardstrasse ihre hohe Be-
rühmtheit gegeben hat. Das Thal verengt sich hier zur Schlucht,
und die schroffen Felswände treten enger und enger zusammen.
Schon hinter dem nächsten Vorsprung wird jede Aussicht auf
einen Rückweg verschlossen. Der Strom im jähen Fall wirft sich
bald rechts, bald links, einen Ausweg aus diesen gewundenen Erd-
spalten suchend. Kein lebendiges Wesen regt sich rings um uns.
Nur mühsam erreicht das Auge den Rand der Felsen, die nicht
hoch, aber eng zusammengerückt uns entgegenstarren , an manchen
Stellen so glatt auseinandergespalten, als ob diese Steintafeln ko-
lossalen Inschriften dienen sollten. Nur hie und da zwischen dem
Gestein trägt eine Handvoll Erde spärhche Grasbüschel. Flechten
allein bedecken einige Blossen des graugrünen Gesteins, tintenblau
aufgefärbt, so hoch der Wasserstaub der Reuss hinaufreicht, die
424
Ferienreisen.
hier in beinahe ununterbrochenen Katarakten neben dem Fusspfad
tobt. Ein klarer Sonnenschein passt nicht für die ernsten Schauer
dieses Felsenschlundes, Wer bei hellem Wetter hindurchzieht,
nimmt desshalb gewöhnlich nur einen matten Eindruck in die
Heimath. Man wähle, wem die Wahl bleibt, die Stunde der ein-
brechenden Dämmerung. Der Verkehr auf dem Alpenpass ist
dann völlig erstorben. Im Abgrund leuchtet der Schaum der ge-
hetzten Gewässer, und ununterbrochen vernimmt man von oben
ein gedämpftes Donnern, das endlose Echo der stürzenden Wasser.
Immer vernehmlicher wird der gewaltige Donner, bis die Teufels-
brücke erreicht ist und der Wanderer, über die Steinbrüstung ge-
beugt, den gewaltigen Sprung des Stromes in den schwindelnden
Abgrund schaudernd mit dem Auge misst. Es scheint dann bei-
nahe, als risse der unwiderstehliche Schwall ihren Blick immer
wieder mit sich hinab über die Felsbank in die kochende Tiefe.
Wer dann auserwähltes Glück hat , dem begegnet es obendrein,
dass von der Furca schwarzbraune Gewitterwolken in das Thal
drängen und heissrothe BUtze nach einander aufleuchten. Welches
Schauspiel, welche Zeugen! Vor uns droht das ungastliche Ge-
witter, neben uns horchen die regungslosen Wände, unter uns er-
schüttert der zur Wuth gehetzte Strom die jähe Tiefe mit dem
Gebrüll eines Homerischen Kriegsgottes, und über dem göttlichen
Streiter fühlen wir uns auf sicher gewölbtem Bogen, welcher den
finstern Pass und die gewaltige Reuss gezähmt und überbrückt
hat. Bequem aufwärts geleitet, erreichen wir den kleinen vier-
eckigen Tunnel, der vor dem Eisenbahn - Zeitalter noch Anspruch
hatte, von dem Wanderer neugierig durchschritten zu werden. Mit
ein paar Dutzend Schritten ist das Urner Loch passirt, und wir
gelangen in eine neue Welt. Die Reuss fliesst geduldig in einem
ebenen Bett zwischen grünen Matten, und aus der Ferne winken
Lichter, Obdach und Labung dem Hungrigen und Müden ver-
heissend !
Ueber den Oberaippass nach Graubünden.
(Beilage zu Nr. 265 der Allgeni. Zeitung vom 22. Sept. 1855.)
Von dem Reussthal nach dem Vorder- oder, genauer ge-
sprochen, nach dem Tavetscher Rhein führt der Oberaippass, der
Ueber den Oberalppass nach Graubünden.
425
wenig besucht wird, weil der grosse Strom der Schweizer Touristen
an Andermatt vorüber und rechts über die Furca nach der Grim-
sel zieht. Der Weg ist überdiess etwas beschwerlich, und die
landschaftlichen Schönheiten des Rheinthaies auf andern Wegen
und bequemen Landstrassen erreichbar. Auch hat im einsamen
Tavetscherthal die Reisecultur noch nicht die Wirthshäuser beleckt,
und eine leidliche Fahrstrasse beginnt erst bei Sonvix. Diess sind
eben so viele Motive, einen Reisenden, der zum erstenmal die
Schweiz besucht, von dieser Strasse zu verscheuchen, während an-
dere gern dem Touristentumult des Berner Oberlandes ausweichen,
und neue, wenig besuchte Thäler aufsuchen.
Unmittelbar hinter Andermatt steigt der Weg streng bergan,
bis man nach einer Stunde die Höhe erreicht, und nun in einem
sattelförmigen Thale gelind aufsteigend östlich vorwärts schreitet.
Wir kehren uns noch einmal um, die erstiegene Höhe durch einen
Blick ins Reussthal hinab zu ermessen, und gewahren, dass über
den bräunlich grünen Matten der jenseitigen Thalwand sich der
scharf geränderte graue Galenstock erhoben hat, reichlich bedeckt
mit blendendem Schnee und geschützt durch den stahlfarbigen
Schuppenpanzer eines mächtigen Gletschers. Unser Weg geht
mitten durch prächtige Heerden von Hornvieh, welches seine
Weide reichlich selbst gedüngt hat und überall feiste Kräuter am
Boden findet. An der nördlich gelegenen magern Seite der Matte
hält eine Division Geissen in zwei Colonnen mit uns Schritt, all-
mählich mehr und mehr die Höhe gewinnend. So gelangen wir
an einen klaren dunkeln Forellensee, den der Wirth in Andermatt
gepachtet hat, und welcher seine Wasser den Lawinen verdankt,
die ihm von den schrägen Thalseiten nicht entgehen können.
Wir selbst müssen hart am Rande des Sees über einen solchen
Schneekoloss hinwegsteigen, und erblicken jetzt bereits über der
Höhe des doppelten Joches die jenseitigen Bergesgipfel des Rhein-
thales. Zwei Wege führen hinab , wir wählen aber den linken
und kürzeren, obgleich er ims über einen steileren und höheren
Bergsattel aufwärts führt, und es ein sprudelndes Bergwasser von
Stein zu Stein zu überspringen und, wo die Steine fehlen, zu
durchwaten gilt. Die Wasserscheide ist nun erreicht, und das
lustige Gewässer, welches zur Linken von den schneebetupften
kahlen Berggipfeln herabkommt, gehört bereits dem Rhein an.
Das Kindlein, welches später Zinnen und Mauern, Thürme und
^20 Ferienreisen.
Münster spiegeln, welches schwerbefrachtete Kähne und schlechte
Poesien ertragen soll, welches die buschigen Inseln im grünen
Rheingau baut, und der grösste Städtegründer im weiland heihgen,
jetzt entheiligten römischen Reiche genannt zu werden verdient
— dieses Kindlein, sage ich, kommt nackt zur Welt, und die
Mutter Natur steht daneben im härenen Barfüssergewande. Ein-
förmige Felsenkegel trachten zum Himmel empor, reich mit Schnee-
streifen geädert, und umweht von trüben zähen Nebelfasern.
Nichts Grünes findet an dem schrägen steinigen Körper seine
Nahrung, nur allmählich, wo sich der Berg thalabwärts rundet,
wird er bekleidet mit filzigen Matten, aber ohne dass das Grün
besonders fröhlich uns anlachte. Erst später wagen sich einige
zu Phalangen geordnete Tannen bergaufwärts , während tief unten
der graue Tavetscher Rhein im steinigen Bett dahinfliesst und an
der Verödung des Thaies eine bösartige Verheerungslust bewährt.
Der Weg abwärts ist äusserst beschwerlich. Es müssen mehrere
Bäche durchschritten werden, bis man eine enge Strasse von
spitzigen Steinen erreicht, auf der kleine Schleifen oder Schlitten,
mit Brennholz für die Senner beladen, vom Hornvieh mühsam
hinaufgezogen werden. Aber ehe man in Selva das erste grössere
Dorf erreicht, bekleiden sich die Abhänge bereits mit Gersten-
feldern, deren Halme jedoch trotz der späten Jahreszeit noch
grün und zart waren. Nach fünf Stunden angestrengten Marsches
mag man sich in Selva erquicken , doch rechne man nicht auf
einen labenden Schluck Wein, da der Veltliner, auf den das ro-
manische Graubünden angewiesen, bekanntlich seit der Trauben-
fäule rar in den Kellern geworden ist.
Von Selva führt der Weg fortwährend abwärts bis Dissentis.
Das Thal bleibt eng und seine Wände reich bewachsen mit Fich-
tenholz, hier und da von lichten Matten durchbrochen. So oft
aber der Rhein wieder einen rechten Nebenfluss aufnimmt, er-
schliesst sich nach Süden ein tiefes Seitenthal, überwacht von
einem hochaufgeschossenen Bergesgipfel, dessen graues Felsenhorn
aus hellem Schnee hervorbricht, während ■ breit und tief ins Thal
die grauen Gletscher hineingewachsen sind, wie namentlich bei
Dissentis, wo der Medelser Rhein von dem Luckmanier herab in
den Tavetscher Strom sich ergiesst. Wir bewegen uns jetzt an
der Südseite des Urner Bristenstocks dahin, ohne dass ims eine
rechte Aussicht auf diese prächtige Schneepyramide zu Theil
Ueber den Oberalppass nach Graubünden. ^27
würde. Bis Sonvix müssen wir den Saumweg am rechten Ufer
suchen, denn an der Felswand gegenüber krachen rasch hinter-
einander die Sprengschüsse der Strassenarbeiter, welche an der
Verlängerung der Oberrheinstrasse arbeiten. In Sonvix mietheten
wir Pferd und Wagen , um noch Ilanz , das erste Städtchen am
Rhein, zu erreichen, in der Hoffnung auf ein reinliches Nachtlager,
welches die bisherigen Wirthshäuser uns nicht zu versprechen
schienen. Mittlerweile aber war die Dämmerung angebrochen,
und ein Gewitter verfinsterte vollends das Thal, so dass man
nichts gewahrte, als dass die Strasse bald am rechten, bald am
linken Ufer des rauschenden Rheins ganz eben, aber meistens
durch dunkelndes Nadelholz führte. Von Stunde zu Stunde kamen
wir durch eine Ortschaft, wo bereits Licht und Lärm erloschen
war, und höchstens zwei; oder dreimal begegnete uns ein verspä-
tetes Fahrzeug, dem bei der Dunkelheit und auf der engen Strasse
schwer auszuweichen war. Auch in Ilanz waren nur wenige
Scheiben noch erleuchtet, und lange mussten wir an einem statt-
lichen Gasthaus läuten, bis man endlich öffnete und ein Zimmer
herrichtete. Unserm Reise-Instinct folgend, waren wir in das
reinhche, appetitliche Hotel zum Luckmanier gerathen, und als
wir am andern Morgen die Jalousien unseres Fensters öffneten,
lag der Rhein und jenseits der Haupttheil des Städtchens vor uns,
mit der Aussicht in das Glennerthal auf bewaldete Anhöhen und
neue schneebedeckte Felsenspitzen.
Von Ilanz verlässt die Strasse den Rhein und wendet sich
links bergauf, grosse Umwege beschreibend, mühsam durch die
Felswände gesprengt und über tiefe Thäler gebrückt. Hätte man
die Strasse den Rhein entlang geführt , sie wäre um das Drittel
kürzer geworden, auch hätte sie weniger Kosten verursacht und
zahlreichere Ortschaften berührt. Die Ablenkung aber geschah zu
Gunsten einiger höher gelegenen Gemeinden, deren pohtischer
Einfluss wahrscheinlich hinreichte, das wichtige Verkehrsmittel der
Landschaft zu verbiegen, den Bau und die Kosten der Benutzung
zu vertheuern. Dieses Denkmal der Engherzigkeit kommt aber
dem Reisenden trefflich zu statten, denn der Weg, welcher sich
hoch über das Thal hinauf schwingt, bietet einen fortwährenden
Wechsel der Landschaft, führt uns über manchen gähnenden
Schlund und an riesenhaft bis zur Schneelinie aufwachsenden Fel-
sengipfeln vorüber, belebt durch reiche schäumende Wasserfälle ;
428
Ferienreisen.
er gewährt vor allem immer nach rechts einen freien Blick ins
Rheinthal mit seinen frischen Wiesen und Obstbaumfluren, ein-
geengt bis zur Verworrenheit durch ein Gedränge wunderlicher
Buckel und Hügel, die man für abgelöste Bergesgipfel halten
möchte, welche, von den schroff ansteigenden Gebirgen in die
ebene Thalsohle einst herabgerollt und später mit fruchtbarem
Erdreich bedeckt, lieblich zu grünen begannen. Der Reiz der
Landschaft steigert sich namentlich vor Reichenau. Zur Linken
behalten wir noch immer die steilen Schneegipfel, welche Grau-
bünden von Uri, Glarus und St. Gallen trennen, rechts aber dringt
unser Blick tief in ein ebenes Thal, welches im blauen Hinter-
grund abermals eine Alpenpyramide verriegelt und woher jetzt der
Hinterrhein uns zuströmt. Da wo die beiden steingrauen Gewässer
sich aufschäumend in die Arme stürzen und eine Art geräusch-
volles Wiedersehen wie zwei Freunde nach lang erwartetem Be-
gegnen feiern, liegt an einem Hügelvorsprung ein frisch geputzter
und mit Liebe gepflegter Garten, den der Hberale Besitzer des
Schlosses Reichenau, berühmt durch Ludwig Philipps Schulmeister-
jahre, jedem Fremden öffnet, und wo man zwischen saftigem Rasen
und prangendem Blumenflor durch verstohlene Gänge und zahme
Grotten hindurch auf eine Galerie dicht über den Zusammenfluss
des Rheinbruderpaars gelangt. Wer in der Schweiz einen stillen
Aufenthalt sucht, unbelästigt von der Reisewuth der Hunderttau-
sende, nicht geärgert durch brittischen Touristenpöbel oder ver-
stimmt durch Schweizer Naturprellereien, der sollte Reichenau auf-
suchen, dessen freundliche Wohnhäuser zum Bleiben einladen wie
ein appetitlich gedeckter Tisch. Von dort giebt es nach allen
Seiten Ausflüge zu machen , ins vordere Rheinthal , nach Tusis,
nach dem Engadin über den Julier-, nach dem Comersee über
den Septimer-Pass.
Zu Wagen in anderthalb Stunden erreicht man dann das
freundliche Chur, welches sich, der grossen Strasse nach Italien
zu lieb, rheinabseits nach der Mündung eines rechten Seitenthals
gezogen hat, und wo moderne bürgerliche Bauten mit eleganten
Gärten und gusseisernen Balconen die Hauptstadt des Cantons
verrathen. Wir indessen begeben uns über böses Pflaster in das
altmodische innere Städtchen, wo uns ein Wirthshaus von jeden-
falls vormärzlicher Fagon, das weisse Kreuz, wegen Küche und
Ueber den Oberalppass nach Graubünden. 429
Keller empfohlen worden ist, und dem Gewährsmann nichts we-
niger als Schande machte.
Der Rhein hat schon vor Chur begonnen, den Fuss der
Berge, die ihn einschHessen, mit Geröll zu vergraben und eine
Ebene im Thal auszufüllen, die sich hier beträchtlich erweitert,
so dass unsere Blicke zu beiden Seiten über grüne Teppiche
streifen, ehe sie an dem reichbewachsenen Gebirge hinaufsteigen.
Alle Nebenflüsse des erstarkenden Stromes kommen von Süden,
nach welcher Seite sich auch die grössten und weitesten Thäler
aufschliessen. So völlig hat indessen das Wasser nicht seine Ufer
bis zum Rande der Berge nivellirt, dass nicht die Köpfe einiger
Felsenblöcke über das fruchtbare Land noch hervorragten. Sie
sind nicht selten mit Eichen bewachsen, oder von altem Gemäuer,
mit Thürmen und Schlössern gekrönt. In der Ebene herrscht der
Maisbau und die Obstbaumzucht. Farbe und Glanz des Busch-
werks verräth ein milderes Klima, die Hügel bedecken sich mit
Reben, und vor uns wachsen im Abenddunkelblau die phantastisch
geformten Felsenkronen des Rhätikon auf, nur zum Gürtel mit
Laub- und Nadelholz bewachsen, dann schroff und nackt, mit aus-
genagtem Kamm, voll Nasen und voll Zacken. Ihnen gegenüber
unter Weingärten und reichbelaubten Abhängen liegt das freund-
liche Ragatz am Eingang der Taminaschlucht , die nach Pfeffers
führt. Weitaus gen Norden mögen wir den Lauf des Rheins ver-
folgen, bis dann wieder das Thal vom zarten Grau einer kalk-
steinfarbigen Felsenwand geschlossen wird. Der Reichthum des
Pflanzenwuchses, der uns nach längerer Entbehrung erst recht
entzückt, das freundliche Städtchen, die dunkelblauen Felsen über
dem Strom, die Ruinen auf frisch begrünten Hügeln, und die
tiefen Farben der Abendluft könnten uns vollständig befriedigen,
wenn nicht der schlammfarbige Rhein zerstörungssüchtig sich mit
seinem Geröll weit und breit umgürtet und das Grüne von dem
Grünen durch eine steinige Oede geschieden hätte.
Im Ragatzer Hof, der eine kleine Stadt für sich vorstellt,
war es noch ziemlich lebendig, obgleich die Saison sich ihrem
Ende zu neigte und am andern Morgen , wo wir abreisten , die
Post mit ihrem Beiwagen sich vollständig mit abziehenden Gästen
füllte, die sämmtlich den Weg über den Wallenstädter See nach
Zürich einschlugen. Wir allein blieben dem Rhein getreu und
fuhren hinein in die grüne Pracht des St. Galler und Appenzeller
430
Ferienreisen .
Landes. Es war ein duftiger Morgen , der Himmel tief dunkel-
blau und die Berge umspielt von blendendem Wolkendampf, der
uns zur Rechten und zur Linken gewaltige mit Schnee gezierte
Bergzacken bald enthüllte , bald verschleierte. So trieb ers auch
mit der Sentiswand, die bis zum Gürtel reich mit Laub bewachsen,
schroff und gezähnt wie der Rand einer Seemuschel, grau mit
hochgelben Rändern durch den Nebel zum Vorschein kam, wäh-
rend rechts auf dem Saum des sonnigen Rheinthals mit seinem
Obstrevier die hohen, schirmenden Bergwände des kleinen Fürsten-
thumes Liechtenstein ihre blauen Schatten warfen. Noch immer
sehnsüchtig kehrten aber unsere Blicke nach den Bergen zurück,
die jetzt zwischen uns und Ragatz lagen, und über denen höhere
Alpengipfel, die Schnee- und Gletschergruppe der Scesaplana in
duftiger Ferne her überragten. Das ganze St. Galler Land ist nur
ein grosser Garten, und hoch oben auf dem Postwagen müssen
wir uns der belasteten Zweige wehren, die mit Aepfeln oder
Birnen schwer behangen uns mit ihren Schlägen derb begrüssen.
Höfe, Ortschaften, Dörfer, Städtchen folgen sich in dem wohl-
gepflegten fleissigen Lande. Wir schauen hinein in das obere
Stockwerk der säubern Häuser, deren Aussenwände mit hölzernen
Schuppenziegeln bekleidet sind, und überall vor dem trommelartig
ausgespannten Musselin, im Erdgeschoss, im obern Stock, im bun-
ten Blumengärtchen vor dem Hause, im Schatten der Scheune
oder unterm Nussbaum im Freien, sitzen sie einzeln, oder zu
mehreren oder in Gesellschaft, Kinder und Erwachsene , Frauen
und selbst Männer am Stickrahmen und schaffen mit ihrer Nadel
die Muster in den klaren Baumwollenstoff zu Vorhängen und
luftigen Sommerkleidern. So geht es ohne Unterbrechung fort,
bis allmählich die hohen Wolkengipfel zu Bergen sich abrunden,
und diese wieder in sanfte Hügelwellen sich senken, bis jetzt vor
uns ein niederer Horizont sich öftnet , hinter seinen buschigen
Gränzen die Fläche des Bodensees verrathend.
Ein Ausflug in die Salzburger und Tiroler Alpen.
I.
(Beilage zu Nr. 298 der Allgem. Zeitung vom 25. Oct, 1858.)
Der Weg von Tegernsee nach Achenthai ist für denjenigen,
welcher gewaltigen Gebirgsansichten entgegeneilt, eine todte Strecke,
Ein Ausflug in die Salzburger und Tiroler Alpen. 4^ t
die er gern überspringen möchte, besonders wenn ihr der Reiz
der Neuheit fehlt. Kommt man indessen aus der Ebene, und ist
noch nicht mit grossartigen Eindrücken übersättigt, so geniesst
man auch dankbar die Schönheiten eines bewaldeten Engpasses;
man labt sich an der Kraft und Fülle des Pflanzenwuchses, dem
es nie an nährender Feuchtigkeit fehlt ^ man erquickt sich an der
grünen Klarheit der wilden Gewässer, die auf dem tirolischen Ab-
hang der Alpen sich trüben; man hat noch Augen für den ma-
lerischen Styl der Holzhütten im Thal und auf hohen Almen ;
man bewundert das blanke, wohlgenährte und wohlgestaltete Vieh,
und die physischen Vollkommenheiten des Menschenschlags , den
es ernährt, bis Thal und Pass sich lichten, und man am Spiegel
des Achensees steht, dessen sattes Tintenblau man von neuem
anstaunt, und an dessen oceanische Tiefe man gern glaubt, wenn
man die schroffen, nur zur Hälfte mit Nadelholz bekleideten Ge-
steinmassen zu beiden Seiten beinahe lothrecht in das Wasser
sinken sieht, so dass nur hie und da am jenseitigen Rande des
Sees eine schmale Stufe zum Landen zu erspähen ist, während
diesseits der Felsen abgesprengt werden musste, um Raum für
einen Fahrweg zu bieten, auf dem zwei Wagen Mühe haben sich
auszuweichen. Der See ist ein hochgelegenes Becken, welches die
Wasser von den einschliessenden Höhen sammelt, um sie als ein
ansehnliches Seitengewässer nach der Isar abziehen zu lassen.
Wie hoch man sich an seinem Spiegel schon befand, Avird man
erst gewahr, wenn man den bequemen Sattel gegen Süden über-
schritten hat, und die Strasse nun in einen Engpass nach dem
Innthal eine Wegesstunde ohne Ablass unter einem beschwerlichen
Winkel sich hinabsenkt. Bei Jenbach erreicht man endlich das
sonnige Innthal, und hält gern in einem neugebauten Wirthshaus
mit breiter Veranda, von wo aus man bis zu den duftigen Alpen
jenseits Innsbruck und abwärts bis zu dem Wilden Kaiser sieht,
während der bayerische Gebirgszug durch seine abenteuerHch auf-
ragenden Felsenhörner die Nähe der Karwendelsteine verräth.
Im Vorgefühl künftiger Erleichterungen überschritten wir am
Inn die Eisenbahn, auf der bereits die Schienen lagen, und die
uns künftig von München in einem halben Tag bis Innsbruck be-
fördern wird , von wo aus so viele Pfade offen stehen , und so
manche neue Fahrt in die Tiroler Gebirge noch ungenossen uns
erwartet. Diessmal blieben wir der Richtung nach Süden getreu.
432
Ferienreisen.
und gingen in das Zillerthal hinauf, welches in seinem untern
Theil wenig Reize bietet, als die Aussicht auf stark bewaldete
Bergwände mit grasreichen dicht bewohnten Lichtungen, wo die
zierlichen hölzernen Häuser mit den blitzenden Fenstern, winzig
wie geschnitztes Spielwerk, beisammen standen. Die Thalsohle
selbst wird durch den grauen Zillerfluss in einen Sumpf verwan-
delt, welcher Ried und saure Gräser sich erzieht, während man
statt der weit berühmten Schönheiten des Thaies viele fieberblasse
Gesichter und Kropfentstellungen wahrnimmt. Doch wollte von
dergleichen Leiden ein munterer Bursche aus Zell nichts wissen,
der mir auf meine Fragen nach den Gesundheitszuständen den
lasciven Bescheid gab : was ihnen denn fehlen solle, ,,so lange die
Mädel gesund sind?" So wie man sich Zell nähert, zieht sich das
Thal im Hintergrund mit der schönen Femergruppe der wilden
Gerlos, die ihrem Schnee- und Gletscherschmuck und ihren Fel-
senzacken das Beiwort verdankt. Zell scheint nach der Zahl der
Wirthshäuser zu schliessen ein vielbesuchter Ort , und beim
,,Bräu" fehlte es denn auch nicht an Gesang und Citherspiel, so
wie an norddeutschen Touristen, die unter dem Beistand ihres
Bädeker schwarz auf weiss ihren Cursus durch Tirol gewissenhaft
consumirten. Verschiedenemale suchte ich die Zillerthaler zum
Sprechen über Hrn. Schütz, über amerikanische Auswanderung
und Peru zu bringen, aber immer stiess ich auf grosse Augen,
leuchtende Blicke und thörichte Hoffnungen; nur unser Träger,
der sich, weil ihm ein Auge fehlte, an das schärfere Sehen ge-
wöhnt zu haben schien, gestand über das Schicksal der peruani-
schen Tiroler treuherzig und mit naiver Wortstellung: ,,den mei-
sten geht's gut, der Mehrzahl aber bedeutend nicht viel besser!"
Bei Zell nimmt die Ziller als rechtes Seitengewässer die statt-
liche Gerlos auf, deren Thal uns nach einem Joch hinauf leitet,
welches bequem nach dem Pinzgau und ins Salzburgische hinüber-
führt. Der Weg von Zell bis auf die Höhe der Gerlosplatte erfor-
dert nicht ganz sechs Stunden , und etwas mehr als eine halbe
Stunde bedarf man um Krimi, die nächste Ortschaft im Pinzgau,
zu erreichen. Vier Stunden lang hat man einen angenehmen Reit-
weg, der nur anfangs steil an die Gebirgswand hinaufführt, und
dann schattig an den Falten der Thalwand sich weiter bewegt,
während unten, aus tiefem Spalt durch Laubwerk heraufschimmernd,
die Gerlos abwärts tobt. Der Bach selbst giebt einem kleinen
Ein Ausflug in die Salzburger und Tiroler Alpen. ^^X
Pfarrdorf den Namen, wo wir zu unserer Ueberraschung ein hüb-
sches Wirthshaus und zu noch grösserm Erstaunen — es war ein
Freitag — Fleischspeisen vorräthig fanden. Der Pfarrer selbst, so
hiess es, hatte die Erlaubniss gegeben, den Reisenden solche uner-
laubte Diät zu gewähren, ein Liberalismus, welchen der norddeut-
sche Fremdenzug allmählich dem strengen Tirol abgedrungen
hatte. Die Zahl der fremden Gäste scheint in starkem Wachs-
thum , und an den gewöhnlichen Schlusspunkten der Touristen-
etappen waren die kleinen Wirthshäuser ziemlich gefüllt, vorzüglich
von unsem Vettern oder Brüdern aus dem Norden. Noch aber
herrscht zum Glück in Tirol und im Pinzgau Einfachheit und Be-
scheidenheit bei der Verpflegung der Fremden. Wer nicht exo-
tische Delicatessen und Hotelüppigkeiten sucht, der wird überall
befriedigt scheiden, denn er findet, wie überhaupt in kaiserHchen
Landen, eine Küche mit lecker bereiteten Gerichten, weit bessere
Weine als in der Schweiz und einen trinkbaren Kaffee. Stattliche
Kellnerinnen, die gewöhnlich auf den Namen Purgel (Walpurgis)
hören, ersetzen noch die oft so lästigen sogenannten Gargons der
grossen Hotels ; es giebt noch keine lithographirten Rechnungen
für das , was der Fremde verzehrt oder nicht verzehrt hat , also
auch keine Gelegenheit, um zwei Francs ,,Bougies" in einem
Abend zu verschwelgen, auch wird der Freigebigkeit des Reisen-
den durch kein ,, Service" eine anständige Ausdehnung zugemessen,
sondern man giebt nach Billigkeit und mit Humor, wofür man,
wenn man sich nicht wehrt, reaHter durch einen Kuss auf die
spendende Hand beköstigt wird. Engländer waren, dieses Jahr
wenigstens, die seltensten Geschöpfe, was man den Handelskrisen
und Regengüssen wahrscheinlich zu danken hatte.
Von Gerlos führt der Weg gemächlich und noch immer schat-
tig thalaufwärts. Aber bald werden die Berge kahl , der Wald
öffnet sich, und vor uns hegt über dem letzten Saum zerstreuter
Fichten ein mager bewachsener Bergrücken, der mit einem platten
Schädel endigt, und dessen Höhe wir gewinnen müssen. Zur
Rechten starren aus Gletschermassen und blendendem Schnee-
mantel die starren Zacken der wilden Gerlos und die Reiche Spitz,
halb und halb schon eingehüllt von grauen Nebelfetzen, während
wir vom Regen wenig geschont auf schlammigen Pfaden vorwärts
schreiten. Auf der sumpfigen Höhe des Jochs stehen etliche Senn-
hütten, und bei diesen musste entschieden werden, dass wir den
Peschel, Abhandlungen. II. 28
.^. Ferienreisen.
Gipfel des Plattenbergs unbesucht zur Seite lassen sollten, da sich
die Regenmassen immer tiefer senkten, und den Gipfel des Jochs
umlagerten. Als wir jedoch die andere Kante des Rückens er-
reichten, und etliche Zeit gerastet hatten, begann die Sonne, die
uns bisher nur einige wässrige Gnadenblicke zugeworfen hatte,
mächtiger zu wirken. Das Pinzgau selbst war von Dunstmassen
bald befreit und gewährte uns den AnbHck eines sonnigen Thals,
mit schön geformten Höhenketten in der blauen Verklärung des
Hintergrundes, während rechts waldige Vorgebirge und malerisch
gezackte Felsenkämme in mannichfaltiger Folge rasch in die Thal-
ebene sich senkten, und uns den Einblick in stille Querschluchten
verhiessen. In grösster Nähe gegen Süden aber öffnete sich un-
mittelbar vor uns ein solches Thal, oder besser ein dicht bewach-
sener Spalt, aus dem links eine völlig geschonte Wand düstern
Nadelholzes aufstieg, während rechts die veilchenfarbenen Felsen
der Reichenspitz dunkelten, die karg bewachsen in einem scharfen
Kamm endigten, dessen Eis- und Schneespitzen ein zorniges Ge-
witter zu krönen drohte, welches indessen die Sonnenstrahlen noch
nicht verhinderte uns durch den Fichtenwald hindurchblit/end das
Wasser zu zeigen, wovon die Felsenwände trieften. Diese Gebirgs-
gasse schlössen die Krimler Tauern, schwarze Felsenkhppen , die
aus blendenden Schneefeldern aufstiegen. Von ihnen herab kam
die Krimler Ach, ein stattliches Gewässer, welches von der letzten
Bergstufe in drei gewaltigen Sätzen herabspringt, die von unserm
Platz aus beinahe senkrecht übereinander liegen. Die Höhe der
drei Fälle soll zusammen 2000 Fuss betragen. Ihre Regelmässig-
keit, der Reichthum und die Gewalt der Wasser, die eine enge
Scharte durch die Felsenstufen gebrochen haben, geben den Fällen
unbedingt den ersten Rang in den deutschen Alpen. Der Donner
des Wassers erfüllt das enge Thal, und verkündigt sich mit eherner
Stimme selbst bis zur Höhe des Jochs. Keine Spur von sonstiger
Lebensregung stört die Einsamkeit dieses abgelegenen Thals,
höchstens dass von Felsenspitze zu Felsenspitze ein Aar herüber-
schwebt. Fallen dann Lichtstreifen über das waldige Dunkel und
auf den blendenden Schaum der Wasserfälle, so fehlt dem Ge-
mälde nichts mehr, um unvergessHche Eindrücke zu hinterlassen,
Krimi selbst ist ein freundliches und schmuckes Pfarrdorf,
welches eine Viertelstunde von dem sogenannten untersten Fall der
Ach liegt. In zwei Stunden kann man bis zum obern Fall und
Ein Ausflug in die Salzburger und Tiroler Alpen. ^^-jj
wieder zurück auf einem sichern Weg gelangen, der anfangs am
linken Ufer hinaufführt, beim obern Fall aber die Ach überschrei-
tet. Der sogenannte mittlere Fall ist derjenige, welcher, zwischen
solchen Geschwistern gelegen, am wenigsten Eindruck macht,
während die Vorzüge des obern wie des untern sich ziemlich die
Wage halten. Bei dem untern theilt sich die Wassermasse nicht
in Bänder, sondern stürzt durch einen engen Spalt mit solchem
Ungestüm herab, dass der Wasserstaub wohl auf Büchsenschuss-
weite in immer wiederholten Ladungen beinahe horizontal über
Wiese und Buschwerk geschleudert wird. Dieses ewige Verpuffen
des zarten Wasserschleiers und der Wechsel in den Gestalten des
Wassersturzes beschäftigt und entzückt uns doch nur desswegen so
lange, weil wir gleichsam für eine streitende Creatur halten, was
doch nur das mechanische Spiel bewegter Massen ist. Der obere
Fall unterscheidet sich von dem ersten dadurch, dass er aus meh-
reren Bändern besteht, die sich erst halben Wegs zu einem Strom
vereinigen. Er ist von gleicher Höhe wie der untere , sein An-
blick aber nicht recht zu geniessen, denn wenn man über schlüpf-
rige Felsenstücke sich dem Schauspiel nähert, so belästigt der
beizende Wasserstaub, der in dichten Wolken uns entgegen sprüht,
nicht wenig das Auge. Gleichwohl ist der Anblick voller Reize,
denn jede Welle, die kochend über den Rand der Felsenstufe
stürzt, gestaltet sich im Fallen wie ein Kegelschnitt und senkt sich
anmuthig in die empört aufbäumende Tiefe. Ehe sie diese noch
erreicht, eilen ihr eine zweite und diitte zur Linken oder zur
Rechten nach in unendlicher Folge. Ein solcher Fall spendet un-
aussprechliche Kraft und Frische über alles Wachsthum im Thal,
und verleiht diesem selbst eine Art von Jugendreiz. Man wun-
dert sich beinahe, dass die Ach mit ungebärdigem Lärm sich über
den unerwarteten Widerstand empört, dass sie so besinnunglos die
besten nie wiederkehrenden Momente ihres Laufes überspringt, als
ob sie nicht früh genug aus frischem Fichtendunkel auf den
schwülen Boden herabgelangen könne, wo sie vom Schlamm und
Moder des Schuttlandes sich trübt, an seichten Stellen sich phleg-
matisch verbreitet, und zwischen Ried und Moos träge säumt;
wo bei einem Rückfall in jugendliches Tempo ihr durch Korb-
geflechte von Obrigkeitswegen ein corrigirter und polizeilich zuläs-
siger Wandel vorgeschrieben wird, bis sie im Flachland endlich
vor jedem Hügel, vor jeder Erdzunge sich krümmen lernt, und
28*
436
Ferienreisen.
zuletzt die Stelle erreicht, wo sie schiffbar wird, zum Rang eines
„Circulationsmittels" sich aufschwingt, und Lasten trägt wie sehr
viele andere, deren Abkunft nicht hinauf führt nach den Gletscher-
spalten der Krimler Tauern.
Unser Reiseglück hatte uns für die Wanderung oder Fahrt
durch das Pinzgau einen auserwählten Morgen bescheert. Die
linke oder nördliche Thalseite, welche nach dem Inn zu die Was-
ser scheidet, ist theils buschig bewachsen, theils bebaut und ohne
alle landschaftlichen Reize bis Brück, wo sich die Berge golfartig
nach einer blauen Tiefe öffnen, und eine Kette entblösster Felsen-
gebirge zeigen, unter denen wir den Watzmann suchen und das
steinerne Meer unterscheiden, doppelt für uns anziehend, weil wir
uns über die scharfen Steinkämme hinüber denken können in die
Tiefe des schattigen Königsees. Die Salzach folgt ziemUch schnur-
gerade der grossen Achse des Thaies, aber die Moderfarbe ihres
Wassers, ihre sumpfigen Verbreiterungen und Rohrwiesen dienen
der Landschaft wenig zur Zierde. Auch sucht das Auge nur am
jenseitigen Ufer seine Genüsse, weil gegen Süden eine Kette der
höchsten Ferner sich mit unserm Weg parallel gegen Osten bewegt.
Geschlossen folgt dort ein Schneeberg nach dem andern, und
nur hie und da findet sich eine Lücke, die einen brauchbaren
Uebergang in das jenseitige Tirol verstattet. Die weit vorgescho-
benen Stufen der hohen bewachsenen Vorberge würden uns jeden
Blick in den Schnee neidisch wehren, wenn sie nicht durch zahl-
reiche Querspalten zertheilt würden, die sich in unablässiger Folge
fast jede halbe Wegstunde erneuern und schluchtenartig nach dem
Fuss der Ferner öffnen. Kaum liegt der stille Thalwinkel der
Krimler Ach, gekrönt mit dem Anblick auf den Schnee der Reich-
spitz, hinter uns, so bemerken wir eine doppelte Lücke der rech-
ten Thalwand. Die dichtbestandenen Vorgebirge senken sich hier
schroff herab und lassen Raum für eine beträchtliche Querspalte,
die durch eine waldige Pyramide unparteiisch in zwei Thäler ge-
schieden wird. Anfangs will die Thalsohle sich beträchtlich dem
Horizont nähern, so dass man meint, es müsse sich dort der be-
quemste Uebergang nach Tirol finden; aber bald füllt sich die
erste Schlucht, das obere Sulzbacher Thal, mit dem Anblick von
blendenden Schneemassen, die in mehreren Spitzen aufstreben.
Noch hat man nicht ganz diese Gruppe des kleinen Venedigers
verloren, so steigt, begränzt von den scharf auf einander fallenden
Ein Ausflug in die Salzburger und Tiroler Alpen. A-yj
Linien der völlig mit Nadelholz bedeckten Vorberge, der grosse
Venediger auf — eine dreiseitige unbefleckte Schneepyramide von
geometrischer Reinheit, als ob der im klaren Frost starrende
Gipfel unmittelbar aus dem schwärzlichen Wäldersaum heraus-
gewachsen wäre. Die Luft ist so klar, dass man die Hand nach
diesem herrlichen Krystall ausstrecken möchte, und doch Hegt er
in so unerreichbarer Tiefe, dass wir gar nicht die felsigen Schul-
tern dieses mächtigen Geschöpfes, sondern nur seinen Schnee zu
Gesicht bekommen. Der Anblick war dieses Jahr besonders voll-
kommen, weil Ende JuU so mächtige Schneemassen gefallen waren,
dass sie jede Besteigung damals sehr gewagt machten oder gänz-
lich hinderten. Im nächsten Thal Hess sich der glänzende Schädel
des Habacher Kees blicken, und so gewährte jede folgende Spalte
eine neue Gruppe, mit neuen Formen und neuen Lockungen, die
Tauernkette durch einen Uebergang zu bezwingen. Von allen
Thälem der Alpen, die parallel den grossen Achsen der Höhen-
züge folgen, verdient desshalb das Pinzgau durch seinen Reich-
thum und raschen Wechsel der Landschaft jedenfalls den höchsten
Preis, weil es immer wieder durch neue Bilder überrascht, wäh-
rend andere Längenthäler uns nur gar zu leicht ermüden.
IL
(Beilage zu Nr. 299 der Allgem. Zeitung vom 26. October 185S.)
Aus ähnhchen Gründen wie Chamounix in der westlichen
Schweiz, wird in den östlichen Alpen Heilig-Blut, ein kleiner Wall-
fahrtsort des MöUthals in Kärnthen, aufgesucht, weil man von dort
dem Grossglockner, nach der Ortelesspitze dem höchsten Berge
Tirols, am meisten sich nähern kann. Vom Pinzgau aus führen
das Fuscher- und das Rauriserthal, zwei parallele Spalten, senkrecht
nach der grossen Kette der osttirolischen Ferner. Fusch ist ein
kleines Pfarrdorf, wo man vor dem Uebergang über das Joch
übernachten mag, wenn man nicht vorzieht, noch tiefer ins Thal
nach dem ,,Tauernhaus" (Fehrleiten) vorzudringen. In der Ver-
längerimg des Fuscherthals gerade gegen Süden, zwischen dem
Eiskogel und Brennkogel, liegt die Pfannenscharte, eine Bresche
438
Ferienreisen.
im Kamm der Schneegebirge , welche unmittelbar nach den Glet.
Sehern des Grossglockners hinüberführt; aber dieser Uebergang
wird nur bei sicherm Wetter und bloss den völlig schwindelfreien
Reisenden angerathen. Betretener und bequemer ist der Pfad
nach dem Fuscherthor, einem Joch oder einer Scharte von 7300
Fuss Erhebung. Von der Thalsohle gerechnet erreicht man diese
Höhe in 2^/2 Stunden. Anfangs geht es an weichen Rasenwänden
bergauf, dann gewährt der Wald eine Zeitlang Schatten, worauf
man den Gürtel des Knieholzes erreicht, über freie Matten dann
aufwärts steigt, bis man zuletzt nur nacktes Gestein betritt. Das
Fuscherthor führt aber nicht nach Kärnthen, sondern nur auf die
Höhenscheide der oben erwähnten Parallelspalte nach dem Rau-
liserthal hinüber. Auf dem Joch selbst geniesst man eine Aussicht,
die an Grossartigkeit nur von auserwählten Punkten des Berner
Oberlandes übertroffen wird, denn man befindet sich mitten in
einer Gruppe der höchsten Schneegipfel von 10 bis nahe an
12,000 Fuss. Gegen Osten liegt unter uns der Spalt des Rau-
riserthals, verriegelt durch den scharfgezackten Weissenbacher Kees.
Zwischen ihm und dem Brennkogel ist der Gebirgsrand tief aus-
gewetzt und lässt ein zweites Joch, das Hochthor, wahrnehmen,
welches einen bequem eingeschnittenen Sattel zum Uebergang
nach Kärnthen verheisst. Wem das Glück besonders hold ist,
der findet dort die Gipfel vom Nebel so frei, dass er hinter dem
Hörn des Fuscher Eiskogels links die Doppelspitze des Gross-
glockners wahrnimmt. Gewöhnlich aber sind drei oder vier Stunden
nach Sonnenaufgang schon die Höhen mit wehenden Nebeln um-
hüllt, mag auch sonst der Himmel völlig fleckenlos und blank ausge-
spannt sein. Aber gerade diese Nebel geben dem Schauspiel un-
vergleichliche Reize. Drei volle Stunden standen wir auf dem
Fuscherthor in höchster Spannung, denn eben war die Sonne durch
die Brüche eines dünnen Morgenhimmels gedrungen und riss nun
tiefe Lücken in die strömenden Bergdämpfe. Aber es fehlte an
einem ausdauernden Wind, um alle Gipfel rein zu blasen, denn er-
müdet legt sich jedesmal der Luftzug, sobald er eine Nebelbank
beiseite geschoben hatte. Gar trügerisch ist das Spiel der Dunst-
massen und ihr Kampf gegen die wachsende Tageswärme. Lange
hängen sie zäh in gerader Linie an den Gürteln der Berge,
dann sinken sie nur, um an den Thalabhängen sich aufwärts zu
wälzen.
Ein Ausflug in die Salzburger und Tiroler Alpen,
439
Während hinter uns ein sonnenerwärmtes Thal Hegt, die
Schneemassen an den gehörnten Bergen frisch und klar herüber-
leuchten , quillt und wirbelt es uns aus dem Seitenthal grämlich
aschgrau entgegen wie aus einem Rauchfang, und bald fühlen wir
fröstelnd uns vom nassen Gewölk in die Dämmerung eines Regen-
abends gehüllt. Aber nicht lange, so lichtet es sich wieder in
dem Dunststrom, ein Glanz verbreitet sich am untern Saum und
wächst mit verheissungsvoller Hast. Abermals zeigen sich wieder
die sonnenbestrahlten untern Gletschermassen der Tauern, aus
deren bläulich schimmerndem Eis hervor ein halbes Dutzend
schäumender Wasserstränge über die lothrechte Felswand in die
grünende Tiefe sich hinabsenken. Von solcher Höhe fallen die
Wasser herab, so täuschend nah und doch so weit entfernt sind
wir von ihnen, dass wir die einzelnen Schaumgarben so gemächlich
niedergleiten sehen wie Tropfen an den Wänden eines Glases
herabrinnen. Aber wir haben keine Zeit, mit dem Auge Schwall
auf Schwall zu begleiten, denn plötzlich zerreisst über uns an
einer zweiten Stelle der Nebelschleier, und mit einer Art von
freudigem Schreck, in einer Höhe, wohin sich das Auge nicht
verirrt hätte, erscheint gegen Nordwest der Schneegipfel einer
mächtigen Pyramide, das Wiesbacher Hörn, über 11,317 Fuss
hoch , so dass , wenn sich der Wiesbacher auf die Zehen stellen
dürfte, er gleiches Mass mit dem Venediger und Grossglockner
besässe. Dicht neben ihm, volle tausend Fuss niedriger, aber in
einen unbefleckten Schneemantel gehüllt, erhebt die „Glocknerin'
ihren kleinen Kopf, und plötzlich ruht, von allem Dunst entblösst»
vor uns die schöne Gruppe bis zu den Kapruner Tauem völlig
frei im schärfsten Sonnenglanz. Auch zwischen dem Fuscher Eis-
kogel und dem borstigen Kamm des Brennkogels will es hell
werden , der Nebel verdünnt sich und quillt leuchtend durch die
Oeffnung, wo der Grossglockner sichtbar werden soll. Schon er-
scheint durch den Dunstflor der spitze Gipfel des Eiskogels , und
seine Umrisse werden, wenn auch matt, bis zur Basis klar — jetzt
noch ein kräftiger Windstoss, und das herrliche Gemälde stände
gereinigt vor den gierigen Blicken !
Wie wünschten wir in diesem Augenblick uns die Schweizer
Industrie herab. Dort giebt es würdige Personen am dunkelblauen
Eise des Rosenlaui, welche als ,, Gletschermeister" gegen ein Trink-
geld den Reisenden sich satt an der Wunderpracht des Alpeneises
440
Ferienreisen.
ZU sehen gestatten. Warum gab es nicht auch einen kühnen
Speculanten , der sich uns als „Nebelmeister" des Fuscher Thores
vorgestellt hätte? Gewiss hätte er für eine einzige minutenlange
Lücke in dem neidischen Gewölk , die wir seiner Barmherzigkeit
verdankt hätten, ein hartes Stück Geld verdienen können. Aber
vergeblich schauten wir uns nach einem solchen Gesellen um, und
nach kurzer Zeit wehte und quoll es wieder düster und frostig
vom Thal herauf. Wohl vier-, wohl fünfmal innerhalb dreier
Stunden wiederholte sich dasselbe Schauspiel; immer und immer
war die Glocknerin und der Wiesbacher, seltener der Eiskogel,
uns gefällig ; der Grossglockner aber hatte seine Laune , und wir
schieden betrübt über seine Illiberahtät, wenn wir uns auch glück-
lich priesen, diese auserwählte Gruppe Tiroler Ferner in ihren
schönsten, den flüchtigen Momenten, im Spiel von Licht und
Nebel, betrachtet zu haben.
Der Weg vom Fuscherthor nach dem Hochthor führt durch
SteingeröUe am Fuss des schieferblauen Brennkogels zunächst ab-
wärts, dann bergauf über einen Sattel, das sogenannte Mittelthörle,
und endlich über einige Schneefetzen steil hinauf nach der Scharte
des Hoch thores (8300 Fuss), welche einen bequemen Pass zwischen
dem Weissenbacher Kees und dem Brennkogel gewährt. Die
Aussicht von der zweiten Höhe überrascht, wie jeder Blick in ein
neues Land, und war in der Richtung unseres Weges noch völlig
von Gewölk frei. Nach Südwesten zu liegt quer vor uns ein Thal,
dessen Tiefe das Auge noch nicht zu erreichen vermag, und aus
ihm steigen krystallscharf etliche Gipfel des Petzeck und der
Weissenbacher Spitze mit Schnee und Gletschern auf, die eine
besondere Gruppe bilden, getrennt durch ein muldenförmiges
Hochthal von den Gletschern der Pasterzenkogel, den Jüngern Ge-
schwistern des Grossglockners,- mit denen gegen Westen die Fern-
sicht abschliesst. Von ihren Höhen senkt sich an unversehrten
Nadelwäldern der Blick in ein unbequem enges Thal nieder, wo
die Sonne nur wenige Stunden des Tags zu verweilen vermag, und
wo Heilig-Blut, an schroffe Matten gelehnt, sich vor unserm BHck
noch versteckt. Abwärts von Heilig-Blut bildet das Möllthal, dessen
Bach von den Gletscher wassern des Glockners und der Petzeck-
Gruppe sich nährt , einen Ellenbogen , indem es seine ursprüng-
Hch östliche in eine südliche Richtung ändert, an Breite gewinnt
und sich besser unsern Blicken öffnet, lieber die rechte Höhen-
Die hohe Salve.
441
scheide des Thaies hinweg ziehen klar am südUchen Himmel die
Ketten des obern Pusterthals gegen Westen, während hinter diesem
letzten Kamm der Alpen ein Stück lombardischen Himmels sich
wölbt. Begierig den Grossglockner diessmal von rückwärts zu
fassen , stiegen wir auf einem mit Vieh betriebenen Weg nach
Heilig-Blut hinab. Aber an der tiefern Stelle, wo das Glocknerhom
zuerst hinter den verdeckenden Vorbergen sich zeigen sollte, ge-
wahrten wir nur die Schneemassen der Pasterzenferner und das
eisige Fussgestell des Grossglockners selbst, denn seine Spitze —
die am Morgen völlig rein gewesen war — hatte sich mittlerweile
in eine grämliche Nebelkappe gehüllt. Da es gerade Sonntag
und Wallfahrtszeit in Heilig-Blut war, so hatten wir Mühe, in dem
mit Lärm erfüllten Wirthshaus bis zu unsern Zimmern vorzudrin-
gen. Zwar vermissten wir dort manche Bequemhchkeit des Berner
Oberlandes, spendeten aber dafür Küche und Keller treffliches
Lob, und so fehlte uns nichts als ein Blick, ach ! nur ein einziger
Blick nach dem tückischen Grossglockner.' Für diese Entbehrung
entschädigte uns der freundliche und geseUige Pfarrer des Orts
durch Vorzeigen eines hübschen Reliefs der Grossglockner-Gruppe,
durch Schilderungen von Glocknerfahrten, deren Verdienst er weni-
ger den Reisenden als den kundigen und unerschrockenen Führern
beimass, die selbst schwindelnde Reisende halb ohnmächtig bis
zum zweiten Hörn getragen und an Seilen hinaufgezogen haben.
Wir besprachen die Möglichkeit von Partien nach der „Elisabeth-
ruhe" und der Franz -Josephs -Höhe für den folgenden Morgen,
obgleich der Regen vor dem Hause plätscherte, und ich erfreute
mich im stillen, mit welcher Anhänglichkeit und Achtung der
liebenswürdige geistliche Herr im Gespräch der Allgemeinen Zeitung
gedachte, ohne dass er ahiite, oder noch jetzt ahnt, dass er mit
jemand sprach, der sechs Jahre lang die Ehre hatte, zur Redaction
zu zählen und sich dieser Zeiten noch dankbar erinnert.
III.
Die hohe Salve.
(Beilage zu Nr. 303 der Allgem. Zeitung vom 30. October 1858.)
Den Freunden von tiroler Naturgenüssen ist es längst bekannt,
dass die hohe Salve eine unvergleichliche Gebirgsaussicht bietet.
AA2 Ferienreisen.
der grosse Touristenstrom aber hat sich noch nicht dorthin er-
gossen, ja nur wenige wissen überhaupt, dass die westlichen Alpen
ein ebenbürtiges Seitenstück zum schweizerischen Rigi besitzen.
Seit Eröffnung der Eisenbahn nach Kufstein ist es möglich ge-
worden, von München mit Bequemlichkeit in Einem Tag die Spitze
des Berges zu erreichen, und am andern mit derselben Gemäch-
lichkeit wieder heimzukehren. Es fordert daher wenig prophe-
tische Gabe, um vorauszusagen, dass, ehe noch fünf Jahre ver-
gehen, auf der hohen Salve ein geräumiges Wirthshaus wachsen,
am Fuss des Berges sich ein zahlreicher Apparat zum Besteigen
aus vier- und zweibeinigen Packthieren entwickelt haben, und
jeder schöne Sommer- oder Herbstmorgen eine andächtige Ge-
meinde von Naturfreunden auf dem Kulm des Tiroler Rigi ver-
sammeln wird. Die Salve liegt zwischen dem Inn und dem Achen,
und erhebt sich auf 5656 F. (österr. Mass), ist also eben so hoch
als der Rigi, und hoch genug, um über die niedern Bergketten
hinwegzuschauen, die zwischen ihr und der hohen Schneekette
der Tiroler Alpen liegen. Bestiegen kann die Salve von sehr
verschiedenen Seiten werden , und von Kufstein aus in gerader
Richtung über Soll in fünf Stunden. Wer es sich aber bequem
machen will, fährt zuerst nach Hopfgarten, und schlägt dann einen
schattigen Weg ein, der bergauf in 2^2 Stunden nach dem Kulm
führt. Noch näher, aber auch steiler, ist der Pfad von Brixen
aus, wo ein tüchtiger Fussgänger, wenn er nicht rastet, in zwei
Stunden die Spitze des Berges erreicht. Rosse oder Saumthiere
sind noch nicht vorhanden, und erst Versuche gemacht worden,
nach Hopfgarten einen Weg zu bahnen. Rings umher liegen
gleichartig gestaltete Berge, wie die Salve, nämlich regelmässige
Kegel auf einem massiven Bergrücken, unter denen das Kitzbüchler
Hörn, der Doppelgänger der Salve, weiter gegen Osten, wegen
seiner etwas grössern Erhebung unserm Berg den Rang streitig
machen soll Anfänglich zieht sich der Weg von Brixen durch
lichten Wald oder Wiesen hinauf an Almhülten vorüber, bis man
den Kegel selbst erreicht, dessen Abhänge, bäum- und strauchlos,
mit niederm Weidegras bekleidet sind. Als wir eine halbe Stunde
vor Sonnenuntergang den Gipfel gewannen , senkten drohende
Hochgewitter an den südlichen Ketten sich hernieder, oder hingen
sich wie düstere Spinngewebe über den Eingang der nahen Thäler,
während Wolkendampf aus den Hörnern der Berchtesgadener
Die hohe Salve.
443
Felsengruppe und dem Steinernen Meere quoll. Doch versagte
uns die Sonne nicht einen goldigen Abschiedsgruss , und wärmte
mit ihrer Farbengluth die Felsenburg des Wilden Kaiser. Der
lange Steinrücken dieses Gebirgszugs ist bekanntlich eine der
höchsten Zierden des Innthals, und ein Liebling der tiroler Natur-
freunde. Er ersetzt uns völlig die Felsenbildungen am Vierwald-
stättersee, denn wenn er an Gestalt auch weit eher dem rauhen
Kamm der Kurfürsten in St. Gallen gleicht als den prächtig
auflodernden Felsen des Pilatus, so übertrifft er diese doch noch
durch den Reichthum seiner phantastisch aufstrebenden Linien.
Nirgends aber gewährt diese Klippenkette mehr Entzücken , als
von Kitzbüchel oder von Südsüdost gesehen, wo sich die einzelnen
Felsensicheln von einander ablösen, und jedes versteinerte Glied
gleichsam wie mit einem zum Schwur erhobenen Finger in den
Himmel ragt. Von der baierischen Ebene am linken Innufer be-
schaut sich das Gebirge dagegen wie ein festgeschlossener Wall,
der zu seiner grössten Verherrlichung des abendlichen Lichts be-
darf. Wenn das zarte Grau des zerklüfteten Gesteins von der
letzten Gluth rosig angehaucht wird, die scharfen Schatten blau
und blauer werden, oder wohl gar schön gestaltete Wolken an
den unwirthlichen Felsen schweben, und diese steinerne Wildniss
von der Macht zarter Farben bewältigt und besänftigt wird, da
erklärt und rechtfertigt es sich, dass schon bei dem Namen
dieses Gebirges unsere Naturfreunde in Begeisterung gerathen.
Da im Westen und Süden die Aussicht von der Salve am
Abend verwettert war, so begaben wir uns nach Sonnenuntergang
unter Obdach. Auf dem Gipfel der Salve stehen nämUch drei
Gebäude, eine Capelle, eine Hütte zum Uebernachten mit drei
zweischläfrigen Betten, und eine andere, welche die Kammer der
Wirthsleute enthält, die wiederum durch eine Küche von einer
gemeinsamen Stube für die Gäste getrennt wird. Da sich kein
Schornstein vorfand, so zog der Küchenrauch in die Stube, wo er
sich verwandtschaftlich mit dem Qualm des k. k. Tabaks mischte,
der aus ein paar Dutzend Cigarren und Pfeifen uns entgegen
wehte, und sehr monopolitisch roch. In diesem Dunstkreise nun
verzehrten wir ein höchst frugales Mahl, welches, obgleich es ein
Freitag war, nur aus einer Fastensuppe und Fastenspeise bestand,
wozu ein trinkbarer Tiroler-Wein und Wasser in bedachtsam zu-
gemessenen Quantitäten gereicht wurde. Entschlossen , aus ge-
444 Ferienreisen.
wissen Gründen, nicht auf dem Heu zu schlafen, blieben wir in
dieser Stube, und hielten uns beim Kartenspiel wach bis sich die
Gesellschaft nach ihren anderweitigen Schlafplätzen verfügt hatte,
worauf es erst möglich wurde, den verpesteten Raum zu lüften.
Als wir dann gegen Mitternacht vor die Hütte traten, lagen unter
uns die zahllosen Berggipfel im Frieden des Mondscheins, während
am Horizont die abgezogenen Gewitter durch immer spärlicher
zuckende Strahlen eine baldige Beruhigung des Dunstkreises ver-
hiessen, denn sonst hatte der Himmel sich völlig abgeklärt, und
liess einen hellen Morgen erwarten. Vergnügt darüber, verfügten
wir uns zurück nach unserer Rauchkammer, wo wir mit andern
Leidensgefährten Bänke und Tische zu einer kurzen Nachtruhe
theilten. Gewiss würde ich Sie und Ihre Leser mit diesen trivia-
len Beschwerden verschont haben, 'wenn nicht die Schilderung
andern Reisenden zur Warnung dienen sollte, mit Damen nur dann
auf der hohen Salve zu übernachten, wenn man sich vorher der
einzigen Kammern des dritten Gebäudes versichert hat. Ferner
wird die einfache Mittheilung in Ihrem Blatt vielleicht hinreichen,
bald allen Entbehrungen der Reisenden abzuhelfen. Es kann gar
nicht ausbleiben, dass, nachdem die Salzburger Bahn vollendet ist,
nach der hohen Salve sich der grosse Schwärm der Naturwall-
fahrer ebfn so wie nach dem Rigi ergiessen wird, sobald für die
Beherbefgung zahreicher Besuche Sorge getragen ist. Der jetzige
Wirth auf der hohen Salve gestand gutmüthig ein; dass es ihm
bei vorgerücktem Alter an Muth zu Unternehmungen und vor
allem an Geld fehle, dass er daher seinen kleinen Betrieb nicht
ausdehnen könne, wenn sich ihm nicht ein CapitaHst zugeselle.
Wäre die Rosenheim-Kufsteiner Bahn ein Privatunternehmen, so
würde eine solche Gesellschaft für ihr eigenes Geschäft sorgen,
wenn sie Darlehen zu einem Hotelbau auf der hohen Salve be-
willigte. So aber findet sich vielleicht der Speculant von selbst
ein, wenn das Bedürfniss durch diese Blätter recht bekannt wird.
Es giebt nun freilich unter uns manche, die gegen solche Wünsche
eine Art von Abscheu hegen, weil sie meinen, dass hohe Natur-
genüsse immer mit ascetischen Prüfungen verknüpft bleiben soll-
ten. Zu diesen gestrengen Herren zähle ich nicht, obgleich mich
weder Anstrengungen noch Entbehrungen von irgendeinem Natur-
genuss abgeschreckt haben. Nie habe ich gefunden , dass ein
reinliches Bett, der Luxus eines Waschapparats am Morgen, eines
Die hohe Salve.
445
schmackhaften Gerichts, gewürzt durch die Wanderschaft am Tage,
der Empfänglichkeit des Gemüths für die Reize der holden oder
erhabenen Schöpfung geschadet, sondern dass im Gegentheil diese
guten Dinge die Fähigkeiten von Sinn und Geist für den edelsten
aller Genüsse, für die Aufnahme landschaftlicher Eindrücke, nur
geschärft haben. "Wohl begreife ich den Jammer der genügsamen
Alpenwanderer, wenn sie nach und nach alle versteckten Heilig-
thümer ihrer Gebirgswelt vom Lärm des Touristenpöbels er-
füllt sehen, und daher gern wünschen, dass hie und da noch so
viel Ungemach übrig bleibe, um wenigstens die Bequemen noch
längere Zeit zu verscheuchen. Wenn wir aber in Betracht ziehen,
dass Naturgenuss das Gemüth erhebt, beglückt, und ich möchte
sagen , in eine gereinigte Stimmung zu versetzen vermag , dann
müssen wir um der sittlichen Wirkungen willen gewiss nur wünschen,
dass der grossen Menge auch die unbekannten Glanzpunkte zu-
gänglich werden. Und wer wünschte nicht auch dem zartern
Geschlecht dorthin einen Pfad zu bahnen, ^^ndem er auf die Be-
friedigung von Schicklichkeitsforderungen dringt? Wer aber noch
nie mit einer holden Frau in unwegsamen Alpenthälern gewandert,
und selten besuchte Bergketten überstiegen hat, der kennt weder
die Reize, noch das Ungemach einer solchen Begleitung, und sollte
also nicht mitsprechen. Ob es sich aber lohne, die hdfce Salve
mit Anstalten, wie die Schweizer Berge zu versehen, das will ich,
obwohl solche Schilderungen ihr Ziel nie erreichen, doch darzu-
stellen versuchen.
Ein grosser Reiz des Rigi fehlt dem tirolischen Bruder, näm-
hch der Anblick der herrlichen blaugrünen Seen in lothrechter
Tiefe oder im fernen Flachland. Auch sind die nächsten vor-
liegenden Berge nicht prächtige mit Schnee betupfte Felsenkronen,
sondern waldige Rücken mit grasreichen Gipfeln, zwischen denen
enge Thalsohlen hinaufsteigen und freundliche Ortschaften hell im
Grünen schimmern. Wer vollends den Blick über weite Flächen
sich verlieren lassen und auf der Ebene Ortschaften, Kirchthürme
und Städte zählen will, der findet auf der hohen Salve wenig zu
zählen, denn er ist ringsum eingeschlossen von Bergen , die nur
gegen Nordosten eine Oeffnung nach dem flachen Land erschliessen,
wo eine kurze Bogenöffnung des Horizonts sichtbar wird, und
wohin der Inn, lange geängstigt durch enge Thäler und begierig
nach Freiheit, in gefälhgen Krümmungen entschlüpft. Auch solche
446
Ferienreisen.
märchenhafte Felsengebilde wie die scharfen Zähne der Schwyzer
Mythen sucht man auf unserm Gemälde vergebens, da sich in
diesem Theil der Alpen das Gestein in Massen mit rauhem Kamm
und wild zerklüftet mauerartig zusammenzudrängen liebt. Dafür
sieht man weit mehr Schnee als vom Rigi, und befindet sich der
hohen Kette der Alpen in erwünschter Nähe, während gerade die
krystallenen Kleinode des Berner Oberlandes nur ihr Profil dem
Rigi zeigen, und so weit abseits liegen, dass man immer den Berg
nach ihnen hinschieben oder sie näher heranrücken möchte. Dem
Rundblick auf dem Rigi haftet auch eine gewisse Unruhe anT
Man findet sich erst nach und nach zurecht in dieser Anarchie
von Gebirgszügen, deren Gliederung nur mit Beschwerde fasslich
wird. Auf der hohen Salve empfindet man beinahe die Anwesen-
heit eines Künstlers, der mit Vorbedacht die Gegenstände zu einem
gemeinsamen Eindruck geordnet habe, namentlich beherrscht ge-
gen Süden wie ein Juwel im Ring der Venediger das gesammte
Gemälde. Duft und Farbenreize sind zwar auf dem Rigi noch
zauberhafter als auf der Salve, dafür aber geniesst dieser Berg
wegen seiner Zuckerhutform den Vorzug, dass kein langer Berg-
rücken ihm einen Theil der Aussicht durch eine todte Staffage
entzieht, und dass er nicht bloss im Halbkreis, sondern in einem
beinahe vöUig geschlossenen Theater die Gebirgswelt zeigt.
Der Morgen war klar wie ein Thautropfen, und die fernsten
Berggipfel spiegelten sich rein und blank ab wie frisch geprägte
Silbermünzen. Im Osten lagen über der grünen Dämmerung der
nächsten Thäler und bewaldeter Kuppen im duftigen Schatten vor
der aufsteigenden Sonne, überflössen von dem gemeinsamen zarten
Farbenton der äussersten Ferne als eine breite Felsenbastion, die
Lofersteine, das Steinerne Meer und der Ewige Schnee, unter
deren zahllosen Gabeln, Zinken und Hörnern mit Hülfe einer
hthographirten Bergsilhouette der Watzmann herausgesucht werden
konnte. Weit mächtiger wirkte der Anblick nach Süden, wo eine
fortlaufende Schneekette am Horizont einen Bogen von mehr als
120° Oeffnung füllt. Hier drängen sich zwischen uns und das
Pinzgau hohe Vorberge mit zahllosen waldigen Kegeln, von denen
eine Reihe anmuthiger Linien in Thäler sich senkt, welche ein-
ladende Pässe nach dem jenseitigen Salzachthal verheissen. Wie
der Kopf einer Bleifeder mit abgebrochner Spitze überragt diese
Vorberge sämmtlich der Rettenstein, eine 7000' hohe Klippe, die
Die hohe Salve.
447
bis an den Horizont reicht, denn über die andern Theile dieses
farbigen Vordergrundes leuchtet der Schnee der Ferner auf. Tiefer
zurück und zur Linken neben der Pyramide des Wiesbacher
Homs unter lauter Schneehäuptem steigt einsam die Nadel des
Grossglockners auf, die aber ihrer Höhe ungeachtet viel zu
schwächlich ist, um grosse Eindrücke zu hinterlassen, denn weiter
rechts, fast genau im Süden, beherrscht der Venediger in könig-
licher Ruhe die gesammte Kette der Tiroler-Ferner. Er ist nicht
wie der Montblanc, vom Arvethal aus gesehen , ein langsam aus
rostbraunen Felsennadeln aufsteigender Rücken mit flachem Kopf,
sondern erhebt sich aus Schneemassen wie der Krystall einer drei-
seitigen Pyramide. Und da seine Flächen etwas hohl geschliffen
sind, so fällt der blaue Schatten der Kanten malerisch über den
leuchtenden Schnee, der den Berg vollständig und fleckenlos be-
deckt. Es steigert die Würde des Venedigers nicht wenig, dass
weder zur Rechten noch zur Linken ihm ein Schneegipfel bis zur
Schulter reicht, sondern die Kette zu beiden Seiten im Ebenmass
sich senkt, bis erst weiter gegen Westen wieder die stattliche
Gruppe der Krimler Tauern mit der Dreiherrenspitze ihre mäch-
tigen Schneemassen ausbreitet. Nähere und fernere aufsteigende
Gipfel der Vorberge beginnen jetzt die Schneegebirge zu überragen,
und die Fernerkette in einzelne Bruchstücke zu trennen. So fol-
gen zunächst als gesonderte Gruppe die scharfen in Schnee und
Eis starrenden Hörner der Reichen Spitz und des wilden Gerlos-
Kees. In grösseren Abständen und zerstreuter wegen der wach-
senden Entfernung schauen noch einzelne Schneespitzen über die
farbigen Zwischenketten, deren Höhenränder gegen Westen immer
entzückender sich verschUngen, so dass man bisweilen ein halbes
Dutzend von Linien und Farbenstufen übere^^nander zählt. Unter
jenen Fernern soll sogar die Ortelesspitze erkannt worden sein,
die am Fuss anderer Schneekegel in Nadelkopfgrösse herüber-
schaut, doch WMrd bei der ausserordentlichen Entfernung dieses
edlen Berges die Möghchkeit einer strengen Identificirung sehr
erschwert. Weniger grossartig, aber doch anziehend und anmu-
thig, ist die Aussicht gegen Westen. Dort senkt sich das nähere
Gebirge mit seinen zahlreichen Gipfeln abwärts, und gewährt der
Ebene des Innthales einen sonnigen Raum, auf dem wiederholt
der Fluss und schmucke Ortschaften an seinen Ufern sichtbar
werdeji. Wird auch durch die näheren Berge dem Blick die Thal-
^^g Ferienreisen.
sohle selbst rasch wieder entzogen , so kann man doch , da die
Gebirge weit zurücktreten, noch weit hinauf die Lichtung des
grossen Thals verfolgen, bis durch eine Curve hinter Innsbruck
die Spalte sich dem Auge entzieht, und im blauen Duft die Höhen
am rechten Ufer das Thal verschHessen. Dort wird abermals eine
Schnur von Fernern wahrnehmbar, worunter der Stubbair zu er-
kennen ist, und die jener Schneekette angehören, welche zwischen
Innsbruck und dem Oetzthal liegt. Das linke Ufer des Inn be-
schirmen dagegen die steilen Steinmassen des schönen Karwendel-
gebirges, hinter denen, schwer erkenntlich, die Zugspitze aufragt.
Von dort setzt sich der Höhenkamm in reicher Mannichfaltigkeit,
wenn auch besänftigter, nach Nordwesten fort. Am lieblichsten
winkt die Aussicht gegen Norden. Noch einmal erhebt sich links
die Kette der baierischen Alpen zu einer lebhaften Gruppirung.
Kamm überragt Kamm, gekrönt von Hörnern und Zacken, unter
denen der Wendelstein alle beherrscht, bis sich die Kette in nie-
drigen Kuppen verläuft, zwischen und über denen das ruhige
Flachland mit seinem Bogen den Horizont begränzt, und wo der
Inn gewandt das Freie sucht, denn ihm zur Rechten und weiter
gegen Osten dunkelt das mächtige Gebirge des Wilden Kaisers,
dessen Schluchtengewirr die morgendUchen Schatten noch sanft
verwischen.
Mit einer solchen trockenen Aufzählung der Gegenstände lässt
sich freiUch nicht viel mehr erwecken als der Begriff von dem
Reichthum und der Mannichfaltigkeit der Rundschau. Unbe-
schreiblich bleiben dagegen alle jene Reize, die mit dem Wechsel
des Lichtes verbunden sind. Wenn ich vorhin von einer Art
malerischer Ordnung in diesem herrlichen Gemälde sprach, so
wird dieser Vorzug ganz besonders beim Sonnenaufgang fühlbar.
Wo man, wie bei der Rigi-Aussicht, die höchsten Gipfel im Westen
suchen muss, und diese der erste Lichtstrahl trifft, da wird der
Bhck leicht hin und her von Gipfel zu Gipfel gejagt, wenn er das
erste Entzünden der Höhen verfolgen will. Auf der hohen Salve
entwickelt sich das Schauspiel mit mathematischer Regelmässigkeit.
Die Beleuchtung rückt von der Linken zur Rechten, denn zuerst
umfliesst die zarte Gluth das Profil des Grossglockners , dann er-
wärmt sich erst die Spitze des Venedigers, und während im Osten
schon die geringeren Häupter aus der Dämmerung aufglänzen,
regt sich das Licht langsam an den Krimler Tauern und der
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer.
449
Gerlosgruppe. Dieser Sprung des Sonnenglanzes von Gipfel zu
Gipfel, und das erste Flüssigwerden der Farben aus frostiger Er-
starrung gilt vielen für den höchsten Moment des Morgens, aber
genussreicher vielleicht ist die Wirkung, wenn die Sonne etwa um
ihren doppelten Durchmesser über den Horizont gerückt ist. Dann
steht bereits die Höhenkante der vordem Thäler in Beleuchtung
und die Gegensätze von Licht und Schatten, von lebendigen und
starren Farben walten auf dem ganzen Bilde , während auf den
Schneeketten noch ein leichter Saffranhauch schwebt, und die
blauen reizend gestalteten Schatten auf dem matten Gold der
Schneewände durch ihren Gegensatz die Farbenherrlichkeit vollen-
den. Dann möchte man dem fortrückenden Tag Einhalt gebieten,
und zum Augenblicke sagen: ,, Verweile doch! du bist so schön!"
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer.
I. Von Lyon nach Nizza.
(Ausland 1865. Nr. 27. 8. Juli.)
Lyon liegt, wie jedermann weiss, am Zusammenfluss des
Rhone und der Saone. Der Hauptfluss im geographischen Sinne
ist unbedingt der Rhone, Lyon aber dankt dem Nebenfluss weit
mehr als dem mächtigen Strom. Der älteste Theil der Stadt mit
dem Dome liegt auf dem rechten Ufer der Saone, folgUch muss
dort der Stadtkeim gesucht werden. Der Rhone heisst an seinem
Ursprung noch jetzt der Rothe Fluss (Rotten), woraus die
Römer Rhodanus, die Franzosen Rhone schufen. Er hat, da der
Leman-See 1154, Lyon nur 523 Fuss über dem Mittelmeer liegt,
ein gewaltiges Gefäll , und die Eisenbahn , welche von Genf aus
seinem Laufe ziemlich treu bleibt, ist ungewöhnlich reich an
Kunstbauten und Tunneln, indem sie fortwährend an jähen Ab-
hängen oder durch tiefe einsame Schluchten führt. Ein Fluss mit
starkem Gefälle, mag auch seine Wassermasse noch so bedeutend
sein, ist ein Culturmittel von geringem Werth und ein schlechter
Städteerbauer. Die Saone dagegen heisst bei den Kelten Arar,
die Langsame, was auf eine Begünstigung der Schififfahrt schliessen
Peschel, Abhandinngen. II. 29
ACQ Ferienreisen.
lässt. Und wirklich ist noch heutigen Tages für Lyon der klei-
nere Fluss wichtiger als der grössere'). Dieses Verhältniss der
beiden Gewässer wurde zum Gesetz für das Wachsthum der Stadt.
Vom rechten Saoneufer dehnte sich Lyon zuerst nach dem linken
Saöneufer , von diesem nach dem rechten Rhoneufer aus , und
jetzt erst sieht man eine junge , noch lückenreiche Stadt auf
dem linken Rhoneufer entstehen. Es ist ein bekanntes phy-
sikalisches Gesetz , dass die Gabelungen von Strömen oder
ihre Delta's stromabwärts zu rücken pflegen, ähnlich müssen
sich auch die Halbinseln , welche durch die Vereinigung zweier
Flüsse gebildet werden, beständig durch Anschwemmungen ver-
grössern. Wahrscheinlich lag die Mündung der Saone noch in
historischen Zeiten weiter oberhalb, wo sich jetzt auf einer Land-
zimge der vornehmere Theil der Stadt ausbreitet, in welchem man
die grossen Plätze, die Kaiser- und die Kaiserinstrasse, das Rath-
haus, die Börse, das Museum, die reichsten Magazine, die grössten
Hotels , die besuchtesten Kaffeehäuser und die meisten Müssig-
gänger antrifft. Die Saone hat sich ein tiefes und enges Bett in
krystallinisch metamorphische Felsarten gegraben, deren Gestein
mitten in der Stadt anstehend gesehen werden kann. In diesem
engen Felsenthale ist nur Raum für den Fluss, für die Quais und
für ein oder zwei Reihen Häuser. Die Stadt musste also terrassen-
artig emporsteigen auf der felsigen Halbinsel zwischen Saone und
Rhone, und sie musste auch die Höhen krönen über dem rechten
Saoneufer. Dieser Umstand ist es, der Lyon zu einer so male-
rischen Stadt gemacht hat. Denkt man sich zwei Flussthäler ge-
trennt durch Anhöhen , an denen sich Terrassen über Häusern
und Häuser über Terrassen erheben, so fühlt man sogleich, welche
Vorzüge die grosse Seidenweberstadt vor den Städten der Ebenen
voraus haben muss.
Der höchste Punkt in der Stadt selbst ist eine viel besuchte
Wallfahrtskirche, Notre Dame de Fourvieres, auf einer beherr-
schenden Stelle des rechten Saoneufers , 140 Metres über dem
Fluss gelegen, von deren Glockenthurm der Präfect des Rhone-
departements das beherrschte Samos vollständig überschauen kann.
I) Auf der Saone gelangen jährlich 400,000, auf dem obern Rhone nur
250,000 Tonnen Waaren nach Lyon. Die Thalfahrt auf den vereinigten
Flüssen bewegt von Lyon aus nur 260,000 Tonnen, die Bergfahrt aber bringt
gar nur 81,000 Tonnen.
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer.
45:
Jenseits der Saone erhebt sich auf seiner Felsengrundlage Croix
Rousse, das berüchtigte Arbeiterviertel, die 'Schöpferstätte der
schwersten Seidenzeuge, der buntesten gewirkten Shawls und der
tollsten sociaHstischen Träumereien. Tiefer unten zwischen den
beiden Flüssen liegt das handeltreibende Lyon, und unzählige
Kettenbrücken verbinden die vier Ufer der beiden Ströme. Die
meisten dieser Kettenbrücken sind an der Stelle , wo die Kette
verankert ist, mit Löwen als „Briefbeschwerer" verziert. Nun ist
es ganz in der Ordnung, dass die Stadt Lyon eine Bestie verehrt,
deren Familiennamen sie sich angeeignet hat. Die Lyonneser
Brückenlöwen aber scheinen nicht die mindeste Hochachtung für
die Stadt zu besitzen, denn wie auf Verabredung drehen sie
sämmtlich ihr und den Spaziergängern auf den Quais denjenigen
Theil ihres Körpers zu, welchen die Natur am wenigsten für
ornamentale Zwecke ausgebildet hat.
Vom Thurm der Frauenkirche von Fourvieres soll man die
Alpen mit dem Montblanc sehen können. Wir sahen sie ent-
schieden nicht, obgleich es ein sonniger Tag war. Ueber der
Stadt schwebte nämlich , ihre äusseren Umrisse fast bis zur Un-
kenntlichkeit verhüllend, ein Duft, der nichts mit der atmosphä-
rischen Bläue zu schaffen hatte, sondern sich schon dem Geruch
als Kamin- und Kohlenrauch, kein bonus odor lucri, verrieth, und
an die schwunghaften Maschinenfabriken sowie an die 9000
Messingknopferzeuger erinnert, die in Lyon ihr Brod erwerben.
Lyon besass 1862 318,000 Einwohner und 54 Mill. Frcs.
Gemeindeschulden. Es ist also jedenfalls eine grosse Stadt, aber
es ist nicht eine Grossstadt und noch weniger ein Klein -Paris,
wie es die Studenten in Auerbachs Keller von Leipzig behaupten.
Seine Quais könnten vollständig die Boulevards ersetzen, seine
Rue Imperiale wäre stattUch genug, um sich in dem belebtesten
Theil von Paris sehen zu lassen, und doch vermisst man nirgends
mehr die heitere Stadt an der Seine, die weltliche Grossstadt und
die Stadt der grossen Welt als in Lyon. Diess kommt daher,
dass seine 318,000 Einwohner Franzosen sind, aber keine Pariser.
Die Lyonneser Strassen sind selbst in den ersten Abendstunden,
wo Paris sich mit Licht und Leben erfüllt, wenig bewegt. Billiger-
weise kann es auch nicht anders sein. Paris zieht nicht nur aus
Frankreich, sondern aus ganz Europa alles an, was sich gut er-
nähren und gut unterhalten will. Jede fünfte Person auf den
29*
^C2 Ferienreisen.
Boulevards gehört zu der beneideten, wenn auch nicht glücklichen
Classe, die Feierabend hat, wenn sie früh Morgens aufgestanden
ist. In Lyon dagegen ist die Bevölkerung entweder nur mit der
Seidenindustrie oder mit ihrem Seelenheil beschäftigt. Auch giebt
es dort, da auf je 162 Frauen nur 156 Männer treffen, schon der
Statistik zu Liebe und von vorn herein 4 Proc. „unverstanden
gebliebener Seelen". Wenn man daher irgendwo die Wahrheit
des Spruches drückend empfinden will, Paris sei Frankreich, so
gehe man nach Lyon. Nur eine gute Seite hat die Stadt, sie
besitzt ausser ihrem alten gothischen Dom mit einem prächtigen
Portal und einem Saal voll schlecht beleuchteter Gemälde , die
man der Entführung nach dem Louvre nicht werth gehalten hat,
keine sogenannten Sehenswürdigkeiten , zu denen die Lohndiener
ihre Opfer schleppen könnten.
Lyon liegt lat. 45° 46' N., Marseille — wie schon Pytheas
334 Jahre vor Chr. es richtig angab — unter lat. 43° 7', die
Saonemündung aber besitzt 170 Metres Höhe über dem Meer.
In etwas mehr als 6 Stunden fahren die Eilzüge bis ans Mittel-
meer, und in dieser Zeit verliert man also 2^/2° an geographischer
Breite und mehr als 500' an absoluter Höhe. Wenn man im
Frühjahr über den Brenner nach Italien herabsteigt, ändert sich
der Pflanzenwuchs mit der Meereshöhe. Die Kirschen, die sich
bei Brixen erst zu färben beginnen, sind roth bei Clausen, reif
bei Botzen und schwarz in Verona. Im Rhonethal ändert sich
dagegen bei den geringen Höhenunterschieden alles nur mit der
geographischen Breite, und solche Aenderungen sind, wie A. von
Humboldt uns gelehrt hat, am allerstärksten in der Nähe des
45. Breitegrades. Bis zu dieser Polhöhe trifft man Weinbau im
Rhonethal, südlicher wird er seltener und verschwindet allmählich
völlig. Gleich hinter Lyon erscheinen in Gärten der Judasbaum,
die Oleander, die Rosen in voller Pracht, im Freien überwinternde
Feigenbäume , Cypressen , und als Handelsgewächs der niedem
Lagen der Maulbeerbaum. Diess sind die charakteristischen
Culturpflanzen , die man auch an der warmen Seite des Genfer
Sees trifft. Erst bei Valence, also jenseits des 45. Breitegrades,
treten die Oliven auf, kaum mannshoch und auf schwächlichem
Holz. Sie gleichen dort an Stamm- und Astbau unsern Pflaumen-
bäumen, an Belaubung unsern Weiden. Die Aehnlichkeit des Oel"
baums mit der Weide ist jedoch nur eine sehr geringe, und be-
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer.
453
schränkt sich darauf, dass die Olivenblätter sehr schmal und auf
ihrer Rückseite grau sind. Bei uns erscheinen Weiden neben
Laubbäumen graulichgrün ; sieht man aber Oliven neben Weiden,
so erscheinen die Weiden grün und die Oliven grau. Nichts ist
ärgerlicher als die Uebertreibungen schwärmerischer Reisenden.
Räthselhaft war uns bisher immer, wie man die ,, herrlichen Oliven-
wälder" an den italienischen Seen preisen konnte. Es giebt keine
Olivenwälder, so wenig wie es Birnenwälder oder Apfelwälder')
in Europa giebt. Der Oelbaum erfordert eine besondere Zucht;
selbst an den höchsten und ältesten Gewächsen entdeckt das Auge
die Spuren des Messers und der Säge. Soll die Ernte reichlich
ausfallen, so muss der Boden unter dem Oelbaum dreimal im Jahr
aufgehackt und gelockert werden. Das alles verträgt sich nicht
mit unsern Begriffen von einem Wald, den wir uns nicht ohne
ein Wachsthum im Freien und in der Freiheit denken können,
■während die Oelpflanzungen meistens hinter Mauern eingefangen
oder durch Terrassen an den Anhöhen begränzt werden. Was
man von Oelbäumen m der Lombardei und im Venetianischen
sieht, trägt nicht eben zum Schmuck der Landschaft bei, denn der
Oelbaum ist in der Jugend weder durch sein Holz noch durch
seine Belaubung ein malerischer Gegenstand, und wer ihn nur
dort gesehen , begreift die schwärmerische Verzückung nicht , in
•die sein Anblick so viele Naturschilderer versetzt. Aber je süd-
licher man sich bewegt, desto mehr nimmt diese Pflanzengestalt
an Schönheit zu. Schon an der genuesischen Riviera gewinnt sie
eine Höhe bis zu 30 und 40 Fuss. Ihr Umfang verleiht ihr Pa-
triarchenwürde und das Knorrige ihrer Stämme sogar Aehnlichkeit
mit dem Holzwuchs unserer Eichen. An jenen Uferabhängen des
Mittelmeers verdrängt die OUve fast jeden übrigen Baum und be-
deckt ganze Bergrücken nicht bis zur Baumgränze, wohl aber bis
zur Gränze der Bäume. Von weitem erscheinen dann die Berge
wie mit Laubwald überdeckt, und in diesem Sinn lässt sich auch
der Ausdruck Olivenwälder rechtfertigen. Ein Hain urväterlicher
Oelbäume kann wirklich zum Gegenstand einer ästhetischen Be-
friedigung werden, denn kein einziger Stamm gleicht an Wuchs
seinem Nachbar, jeder macht sich durch Eigenthümlichkeiten,
fast möchte man sagen durch seine scharf ausgeprägte Persönlich-
[) Wirkliche Apfelwälder sollen sich in Valdivia finden.
.rA Ferienreisen.
keit, bemerbbar. Die Belaiibung ist in Folge des spärlichen Blatt-
wuchses und der schmalen Form der Blätter sehr durchsichtig,
und das Licht dringt daher mit einer befremdenden Wirkung, die
nicht ohne Reize ist, bis auf den Boden hinunter, und bringt den
eigenthümlichen Zauber eines schattenlosen Waldes hervor. Daher
gelingt es auch den Italienern , unter dem Oelbaum in den so-
genannten Ohvenwäldern noch eine Haferernte zu erzielen, was
bei einer andern Belaubung rein unmöglich wäre. Auch die Cy-
pressen pflegen oft unverständig bewundert zu werden. Nichts
ist geschmackloser als die Reihen bleistiftähnhcher Pflanzen-
gestalten, wie man sie, vom Norden herabsteigend, zuerst bei den
Villen am Garde-See sieht. Selbst die bis zur Berühmtheit ange-
priesenen hundertjährigen Cypressen in dem Garten des Palazzo
Giusti zu Verona erscheinen uns nur wie düstere Pedanten des
Pflanzenreiches , und sollten sich nie von den Kirchhöfen in die
Ziergärten verirren. Aber auch die Cypresse, an richtigen Platz
und richtig gestellt, kann zum Schmuck der- Landschaft werden.
Am Mittelmeer verliert dieses Gewächs seine spitzigen Formen
und fängt an, sich am Gipfel abzurunden. Sieht man dann aus
dem matten Grün der Olivenwipfel auf dem Hintergrund des
blauen Mittelmeeres kleine Gruppen von Cypressen verschiedenen
Alters schwärzlichgrün aufsteigen, so versteht man zum ersten-
mal , dass diese Conifere auch aufrichtige Bewunderer gefunden
haben kann.
Die Gränze des Oelbaumes , der seine Blätter nicht abwirft,
ist zugleich die Gränze der immergrünen Belaubung, und wo er
auftritt, da beginnt im klimatischen Sinne Südeuropa. Erreicht
man endlich bei Marseille das Mittel meer, so gesellt sich zu ihm
die amerikanische Agave oder die Aloe der Trivialsprache, die
Cacteen und die Pinie , das edelste Geschöpf unter allen einhei-
mischen Gehölzen unseres Welttheils. Sie ist zwischen Marseille
und Genua nirgend gemein, und nur gesellig auf einer kleinen
Strecke, bevor man Frejus erreicht. Wo sie auftritt, fesselt sie
von weitem schon und lange die Blicke des Naturfreundes. Ihr
schirmartiges Dach auf dem säulenartigen Stamm giebt ihr eine
entfernte Aehnlichkeit mit Palmen, besonders wenn sie auf Höhen-
kämmen niedriges Laubholz überragt und auf blauer Luft die
zierliche Verästelung ihrer Krone sichtbar wird. Aehnlich bemerkt
Herr v. Chamisso, der ein grosser Kenner landschafdicher Schön-
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer. j^ti-
heiten war, dass in der Südsee nichts dem Anblick gleich komme,
als wenn man auf einer niedern Koralleninsel einen Palmenwald
aufsteigen sehe und durch die schlanken Stämme der Himmel
fast unverdeckt bleibe. Allen Reisenden , welche die Tropen be-
suchten, bleibt die Stelle merkwürdig, wo sie die Wendekreise zum
erstenmal gekreuzt haben. In Europa könnte man nur dem 45.
Parallel eine ähnliche mathematische Wichtigkeit beilegen. Aber
gewiss wird niemand Ort und Zeit vergessen , wo er die erste
Palme im Freien gewahr wird. Geht man über Marseille nach
Italien, so sieht man bei Toulon in einem Garten das erste krän-
kelnde Exemplar, bei Cannes die erste hochgewachsene Palme
und bei Nizza die ersten Palmen gesellig sich vereinigen. Zwischen
Cannes und Nizza beginnen auch die ersten Orangenhaine sich
zu zeigen. Orangen- und Citronenwälder kann man sie nicht
nennen , denn meist hinter Gartenmauern , reihenweis gepflanzt,
mit Messer, Scheere und Säge geformt, bleiben sie stets Erzeug-
nisse der Cultur, keine Kinder der Freiheit. Palmen und Citrus-
arten im Freien wachsen zu sehen, nicht in menagerieartigen Kä-
figen wie in Südtirol und am Garda-See, wo sie den Winter unter
Dach und hinter Glas mit Hülfe von Wasserheizung überstehen,
diess war der hauptsächliche Reisezweck des Verfassers , und er
hat ihn am Mittelmeer vollständig erfüllt gesehen.
Auf dem Schienenweg von Lyon nach Marseille fehlt es zu
keiner Zeit an hübschen Aussichten. Auf dem rechten westlichen
Ufer des Rhone erfreut uns der Anblick der Cevennen, die jedoch
bald zurücktreten und allmählich niedriger werden. An manchen
Punkten gewährt der Strom freundliche und belebte Bilder wie
der Rhein. Es fehlt nicht an alterthümlichen Städten, an Burgen
und Schlössern mit Thürmen, Mauern und Zinnen, aber die bür-
gerliche Bauart der Ortschaften ist die französische, wenig ver-
schieden von der unsrigen und weniger eigenthümlich als die
schweizerische. Diess ändert sich jedoch, wenn man die Provence
erreicht. Avignon , Tarascon und Arles machen einen ganz selt-
samen, nicht eben freundlichen, sondern unwohnlichen Eindruck.
Kahl, ohne Schatten, von der Sonne gebleicht, mit flachen Dächern
und verwahrlostem Mauerwerk, erscheinen sie, bevor sich das Auge
an das Neue gewöhnt, fast wie halbverlassene Brandstätten und
eher im Zustande des Verfalls, als wie blühende oder wohlhabende
Städte.
456
Ferienreisen.
Bei Arles , wo der Rhone sich die Miene giebt , ein kleiner
Mississippi zu werden, wendet sich die Bahn von ihm ab nach
Ostsüdosten und durchschneidet die Ebene La Crau, welche nur
eine östliche Fortsetzung der berüchtigten Camargue ist. Wenn
irgendwo , so kann man dort Europa sich entrückt und in eine
völlig fremde Welt versetzt dünken. Dieser Eindruck rührt nicht
von einem Wechsel des Pflanzenwuchses , sondern vielmehr von
seiner gänzlichen Abwesenheit her. In der deutschen Heimath
finden wir jeden Felsenabhang, dessen Fallwinkel 30° nicht über-
steigt, bewachsen. Wo sich kein Gehölz mehr festklammern kann,
spriesst Gras und Blume, und wo für sie Erde noch nicht hin-
reichend vorhanden ist, überziehen Flechten und Moose das Gestein,
Erst wenn wir 6 — 7000 Fuss hoch gestiegen sind und die Alpen-
matten uns verlassen , sehen wir bisweilen Felsen in ebener Lage
völlig von Kraut und Gras entblösst. Aber selbst diese Erschei-
nung ist gewöhnlich auf einen engen Raum beschränkt, denn wo
der Schnee aufhört, regt sich auch das Pflanzenleben. In der Ebene
La Crau befindet man sich nur wenige Meter über der See, und
doch treten überall flach gelagerte und zerklüftete Felsarten in der
Ebene zu Tage, eine Steinwüste, auf der jede Lebensregung
erstarrt und auf die man in der Provence zu stossen nicht vor-
bereitet war. Um diese niederen Felsen legt sich eine glatte
Ebene von neuester Bildung, aus Rollkieseln bestehend, die durch
ein grobes Bindemittel zusammengebacken sind. Auch diese
schattenlose Fläche erscheint im allgemeinen pflanzenleer, doch
wird sie durchzogen von Schafheerden , die einige kümmerliche
Halme und Grasbüschel, halb von der Sonne schon gedorrt, be-
gierig abweiden, Dass die Unfruchtbarkeit jener Striche nicht den
mineralogischen Bestandtheilen der Felsarten zuzuschreiben ist,
bezeugen einige Oelpflanzungen , die in den flachen Mulden der
Steinwüste gedeihen , wo sich urbarer Boden angesammelt hat.
Die Ursache der Verödung muss daher dem Mangel von sommer-
lichen Niederschlägen und dem Wasserdurchlassen des Bodens
zugeschrieben werden. Die Regenlosigkeit im Rhonedelta wird
dem Reisenden auch ohne meteorologische Beobachtungsreihen
bestätigt, sobald er den ßtang de Berre erreicht, einen geräumigen
See, der in einer muldenförmigen Vertiefung zwischen felsigen
Anhöhen liegt, gegen Südwesten aber eine Verbindung mit dem
Meer besitzt. Dort wird unter freiem Himmel Salz gewonnen.
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer. 45 ^
indem der Strand durch schmale Dämme netzartig eingefasst als
Pfanne dient, während die Sonne das eingelassene Seewasser ver-
dunstet. Ein solches Gewerbe wäre nicht möglich, wenn nicht
monatelange Trockenheit herrschte , denn jedes reichliche Ge-
witter oder ein einziger beharrlicher Regentag müsste die abge-
sperrte Salzlauge wieder verdünnen.
Ein Tunnel durchstösst die östliche Felsenmauer jenes Beckens,
und wenn man das Freie erreicht, erblickt man zum erstenmal
das offene Mittelmeer und das ersehnte Reiseziel. Von allen
Hafenplätzen des Mittelmeers hat Marseille gegenwärtig die grösste
Zukunft vor sich. Während man in Venedig beobachten kann,
wie eine Stadt langsam verhungert un(J zusammenstürzt, wächst
Marseille ungestüm nach allen Himmelsrichtungen. Es vereinigt
die Reize eines südlichen Hafenplatzes mit den Vorzügen der
grossen französischen Städte. Längs der gemauerten Hafenleisten
oder Quaien herrscht geschäftiges Getümmel, ein Babel von
Sprachen, ein Gemisch aller Trachten und Hautfarben, bis zum
Ebenholzschwarz der Kinder des Sudan. Auf einer östHchen
kahlen Anhöhe steht, im Bau begriffen und bald vollendet, eine
Kuppelkirche, Notre Dame de la Garde, von deren Gallerien der
Blick unbeschränkt Meer, Küste, Hafen und Stadt beherrscht und
landeinwärts über Fluren und Wälder streift bis zum Fuss mäch-
tiger meist kahler Felsengebirge, die nicht ohne anmuthige Formen
durch die Zartheit der südlichen Farbentöne ausserordentlich ma-
lerisch werden. In der See , etwa eine Stunde entfernt , liegen
zwei völlig nackte Felseninseln, die dem Hafen als Wogenbrecher
dienen, die eine gekrönt mit dem Chäteau d'If, der Quarantäne-
station. Der Niederbhck auf einen belebten Hafen ist unter allen
Verhältnissen ein erheiterndes Bild , dort aber doppelt , weil die
felsigen Uferküsten durch tiefe Einschnitte an Schönheit gewinnen.
Kahle Gesteinsmassen heben sich und sinken wieder sanft nach
dem Meer hinab. Wie Oasen zerstreut , ruhen auf ihnen freund-
liche Sommerpaläste und dunkelgrüne Gärten, deren Pinienwipfel
unmittelbar über dem blauen Lichte der See noch schwärzlicher
erscheinen als sie sind. Die grösste Verkehrsader, die Strasse La
Cannebiere, zertheilt die Stadt bis zum innersten Hafenbecken und
wird selbst wiederum senkrecht gekreuzt von einer schattigen Allee,
la Course genannt , einer Nachbildung der Champs Elysees , der
selbst als Beschluss nicht ein Luxusthor im Styl des Are de l'Etoile
458
Ferienreisen.
fehlt. Die Quaien, die Cannebiere und la Course strotzen von
Leben und Bewegung, so dass sie selbst einen Vergleich mit den
classischen Strecken der Pariser Boulevards vertragen, nur sind es
in Marseille nicht geputzte Pflastertreter, sondern das Volk selbst,
und zwar Matrosen und Hafenarbeiter, welche die Strassen füllen,
La Cannebiere wird aber bald nicht mehr die Hauptstrasse Mar-
seille's sein. Dicht am Hafen wächst eine Kaiserstrasse mit Luxus-
bauten empor, die nach dem neuen bis zu halber Höhe vollen-
deten Dom führen wird. Marseille gehört nämlich zu den Städten,
welche das zweite Kaiserreich verjüngt hat. Auf unserer Seite
des Rheines ist gar viel geschrieben worden über die imperia-
listische Baufurie und über die Verschuldung der Gemeinden, im
Lande selbst aber ist man dankbar und befriedigt. Die alten franzö-
sischen Städte waren gealterte Städte und hinter den Bedürfnissen
ihres Bevölkerungszuwachses lange Zeit ungebührlich zurückge-
blieben. Ein Schweizer Freund versicherte dem Verfasser, dass
das alte Marseille durch die napoleonischen Umgestaltungen grossen
Nutzen gezogen habe. Wenn ein Geschäftsmann ehemals eine
schwimmende Ladung habe besichtigen wollen, musste er hohe
Stiefeln anziehen, um durch Schlamm und durch Gestank im Hafen
hindurch zu waten. Jetzt hegen die Schiffe hart an den reinlichen
steinernen Quaien , auf deren Quadern der Kaffee mit Schaufeln
ausgeschüttet und in Säcke verpackt werden kann. Durch diese
Bauten sind den Städten allerdings Schulden erwachsen, doch war
das Capital nicht für sie verloren , sondern trägt seine Zinsen
durch die Erleichterung des Verkehrs. Wenn wir oben erwähnten,
dass Lyons Schuldenmasse auf 54 Mill. sich beläuft, so setzen
wir jetzt hinzu, dass sie im Jahr 1854 nur 10 Mill. betrug. Durch
solche Zahlen lässt sich dem deutschen Publicum leicht ein Schauder
vor dem französischen Leichtsinn beibringen, wenn man aber
erfährt, dass im Jahr 1854 der Stadt Lyon bei 4,877,000 Frcs.
Einnahme nur 620,000 Frcs. für Schuldentilgung oder ausser-
ordentlichen Aufwand übrig blieben, jetzt aber trotz der ange-
wachsenen Schulden unter 9 Mill. Einnahmen immer noch 3V2 MilL
Ueberschuss sich vorfinden , so muss man gestehen , dass der
Wohlstand französischer Städte in seinem Wachsthum immer die
Zunahme der öffentlichen Lasten um mehrere Schritte überholt hat.
Von Marseille aus benutzten früher die Touristen die Dampfer
zur Fahrt nach Nizza. Jetzt legt man die Strecke mit dem Schnell-
Eine Ferienreise nach dem Mittelmeer. 459
zug in sechs Stunden zurück. Da die Bahn Antibes und Cannes
berührt und in nicht allzugrosser Entfernung an Grasse vorüber-
geht, jene drei Städte aber berühmt sind durch ihre Erzeugung
wohriechender Essenzen, so hoffte der Verfasser etwas von dem
Blumenackerbau zu sehen, welcher dem Var- Departement eigen-
thümlich ist. Die Täuschung war jedoch eine vollständige, wahr-
scheinlich weil die Blüthenernte Mitte Mai längst vorüber und auf
den Feldern andere Früchte auf die Blumen gefolgt waren. Von
Toulon aus verlässt der Schienenweg wieder das Mittelmeer und
wendet sich binnenwärts durch eine dünn bewohnte Gegend , die
anfangs wenig Interesse bietet. Nach zweistündiger Fahrt jedoch,
bevor man Frejus erreicht, gelangt man durch eine entzückend
schöne Berglandschaft, deren Thalsohle durch Pinienwälder ver-
herrlicht wird, wälirend nach der See zu Felsengebirge aufsteigen, die,
obgleich kaum 2000 Fuss hoch oder weniger, doch an rauher Zer-
klüftung und zackigen Umrissen vollständig unsern höchsten Alpen-
kämmen gleichen. So wie man das Mittelmeer wieder erreicht,
läuft die Bahn hart an steil abfallenden Bergen fort, deren zahl-
reiche Felsenvorsprünge durch Tunnel durchstochen und deren
zwischenliegende dicht bewachsene Schluchten überbrückt werden
mussten. Die See bricht sich schäumend an Klippen und über
felsigen Untiefen, deren Purpurfarbe, verstärkt durch die Wärme
abendlicher Lichter, so grell aus dem blauen Meer tritt, dass ein
Maler sie auf dem Bilde mildern müsste, um nicht für unwahr ge-
halten zu Averden. Cannes, eine kräftig aufblühende und durch
ihre Sauberkeit verlockende Stadt, zieht jetzt viele Wintergäste
von Nizza zu sich herüber, dessen Klima in neuester Zeit nicht
mit Unrecht gefürchtet zu werden beginnt. Uebrigens finden jetzt
Winterflüchtlinge von Frejus bis nach Savona längs der ganzen
Riviera fast in jedem grösseren Orte Pensionen und zur Miethe
freistehende Landsitze. Weit empfehlenswerther als Nizza soll
namentlich Mentone sein> welches nicht bloss geschützter gelegen
ist, sondern auch eine grosse Wahl von Ausflügen und Spazier-
gängen bietet, während Nizza nichts anderes aufzuweisen hat, als
sein altes Schloss und eine Fahrt nach der Bucht und dem Hafen
von Villafranca, dessen angebliche Abtretung, richtiger Vermiethung,
an die Russen vor sieben oder acht Jahren der deutschen politischen
Presse so viel Gelegenheit bot, durch abgeschmackte Vermuthungen
ihren Lesern das Blut heiss zu machen, während jetzt, wo der
460
Ferienreisen.
Hafen französisch geworden ist, der ganze Handel verschollen und
aus den Augen verloren worden ist. Nizza selbst ist im Mai nach
geschlossener Saison ein trostloser Aufenthalt, und auf der berühm-
ten Promenade des Anglais, wo die Seebrise den Schatten ver-
treten muss, herrscht eine drückende Kirchhofstille.
II. Die Riviera di Ponente.
(Ausland 1865. Nr. 28. 15. Juli.)
Der westliche Saum des Golfes von Genua, etwa von Nizza
angefangen bis zur Vaterstadt des Columbus und des Paganini,
heisst die Riviera di Ponente , im Gegensatz zur Riviera di Le-
vante, die sich von Genua in südöstlicher Richtung nach Spezia
erstreckt. Jener schmale Ufersaum zwischen den See- Alpen und
dem Mittelmeer gehört wegen seiner hohen landschaftlichen Reize
mit Recht zu den gefeierten Strichen Italiens. In kurzer Zeit wird
eine Eisenbahn auf ununterbrochenen Kunstbauten und durch un-
zählige Tunnel den Reisenden in wenigen Stunden an den ligu-
rischen Orangegestaden vorüberführen , aber geniessen wird er
dabei sehr wenig. Die Post zwischen Nizza und Genua legt den
Weg in 20 — 22 Stunden halb bei Tag, halb bei Nacht zurück.
Wer daher die Riviera seh'en, d. h. bei Tage reisen und doch
mit seinen Geldmitteln haushalten will, der lässt sich am ersten
Tag bis Oneglia einschreiben und setzt am nächsten seine Fahrt
nach Genua fort. Will man aber ungeschmälert die Herrlichkeiten
der Natur geniessen , dann miethe man auf 3 — 4 Tage einen
Zweispänner für 200 — 220 Frcs. einschliesslich des Trinkgeldes.
Wer Italiens wohlklingende Worte liebt, der sagt dann nicht, er
sei mit dem Lohnkutscher, sondern er sei mit dem Vetturin ge-
fahren. Nur denkt man sich gewöhnlich unter einem Vetturin
einen lustigen Kerl mit spitzem Hut und geflickten Aermeln, der
seine Gäule mit dem Peitschenstiel und in ehrenrührigen Aus-
drücken misshandelt, dem Reisenden aber ausser dem durch die
Sitte geheiligten Trinkgeld (buona mano) auch noch ein Supple-
ment (bottiglia) abverlangt. Mit Ausnahme der letzten Eigen-
thümlichkeit gleichen die Vetturini der Riviera nicht ihren Zunft-
Die Riviera di Ponente.
461
genossen im übrigen Italien, sondern weit eher den gesitteten
Lohnkutschern im römischen Reiche deutscher Nation, nur dass
sie auf Kosten ihrer Thiere das Handwerk weit besser verstehen
als ihre Kunstgenossen in unserer Heimath. Sie fahren zwar nicht
wie diese auf ebenem Lande in einem gedankenreichen Adagio,
aber auch nicht, wie man es oft liest, im Galopp die schrägen
Stellen der Strassen hinan, sondern sie erkennen wie die unsrigen
an solchen Strecken das Newtonische Gesetz an. Selbst die Post
fährt an steileren Ebenen im Schritt. Ebenso übertrieben ist es,
zu sagen, dass die Fahrt ängstlich sei für Personen, die dem
Schwindel ausgesetzt sind. Da wo die Strasse in schroffe Fels-
wände eingesprengt worden ist, hat man gemauerte Brüstungen
zur Seite, und wo diess nicht der Fall ist, doch wenigstens Bö-
schungen von Erde. Gelegenheit zum Schaudern bietet daher die
Riviera so viel oder so wenig wie unsere Gebirgsstrassen, und we-
niger sogar als diese.
Man würde sehr enttäuscht werden, wenn man auf dem 30
Meilen langen Weg einen unausgesetzten Wechsel auserwählter
Landschaften erwarten wollte. Es giebt Strecken, wo das Auge
keine andere Labung hat als das sonnige blaue Mittelmeer mit
seiner milchweissen Schaumlinie am Strande, und Schiffen in
der Ferne, die nach den Häfen streben. Der Oelbaum verdrängt
fast jede andere Pflanzenform. Nur bisweilen sieht man am Wege
Johannisbrodbäume, fast ganz unseren gemeinen Acazien ähnlich,
mit langen Schoten, die Ende Mai noch grün sind. Gelegentlich
macht sich auch ein Feigenbaum bemerkbar, sehr selten Pinien,
und Cypressen nur als Ziergewächse in den Gärten. Dagegen
blüht der Oleander wild an kahlen Abhängen, wo er Nässe genug
findet. In der Niederung zwischen Oneglia bis zum Vorgebirge
bei Noli wird Getreide gebaut , und zu Heckenzäunen dient dort
der Granatstrauch, den wir im Winter in ein warmes Haus ver-
setzen und nur in den sonnigen Gegenden Deutschlands zur Blüthe
bringen. Wo Wasser fliesst oder steht, ist es dicht eingefasst von
einem Wald von Schilf (Arundo Donax), welches bei uns als
Rasenzierde benutzt wird, im Winter aber gedeckt werden muss.
Mit neidischem Blick gewahrt der nordische Barbar durch die losen
Fugen der Mauern Geranien hervorbrechen und einen Scharlach-
blumenteppich über die Terrassenwände breiten, der aus Stunden-
ferne noch herüberleuchtet, ja bisweilen sieht man sie sogar als
462
Ferienreisen.
Schattengewächs über Lauben gezogen. Von Nizza bis YentimigUa
hängen über die Gartenmauern belastete Citronenäste, weiter nach
Genua zu, also nördlicher, werden die Citronen seltener und durch
die Orangen verdrängt, denn die Orange ist härter als die Citrone.
Den Glanzpunkt südlicher Vegetation erreicht man aber nicht, wie
es in Reisebüchern angegeben ') wird , bei San Remo , sondern
vielmehr bei Bordighera, einer kleinen Ortschaft zwischen Venti-
miglia und San Remo. Dort sieht man , was man mit einigem
Pathos einen „Palmenwald" nennen könnte, d. h. man kommt an
einem kleinen Hügel vorüber, der gekrönt und ziemlich dicht von
Dattelpalmen bestanden ist. Der Anblick ist nicht sonderlich ma-
lerisch, und da man nie vergisst, dass man ein Culturgewächs
vor sich hat, ist er auch nicht tropisch, immerhin aber fremdartig
genug, zumal wenn man das Glück haben sollte, daneben noch
amerikanische Agaven in Blüthe anzutreffen. Im Mai freilich darf
man nur erwarten, die verdorrten Blütheschäfte des vorigen Jahres
zu sehen, die stark und holzig wie ein junger Baum, 15 — 20 Fuss
hoch ihre Blüthenleuchter in die Luft ragen liessen , schöner zum
Zeichnen als zum Sehen. Wenn die Dattelpalmen noch nicht sehr
hoch sind, und selbst bisweilen wenn sie es schon sind, werden
ihre Wedel zusammengeschnürt, um sie vor Verletzungen zu
schützen. Eine Allee solcher eingeschnürter Palmen ist ein uner-
quicklicher Anblick, denn jedes einzelne Gewächs gleicht einem
eingesenkten ungeheuren Besen. Selten sieht man Dattelpalmen
wild, d. h. ungepflegt und vom Zufall ausgesäet wachsen. Die
Fächerpalme (Chamerops humilis), die einzige in Europa heimische
Palme, blieb in der Freiheit unsichtbar, doch trifft man sie häufig
in Gärten, und wer unter dem Schatten eines kräftigen Exemplars
l) In dem Itinerfire de l'Italie von Du Pays wird versichert, dass San
Remo die Palmenwedel liefere, womit in der Osterzeit die Kirchen Roms ge-
schmückt würden, und zwar kämen sie aus der nahe gelegenen Einsiedelei des
heil. Romulus. Diese liegt aber hoch in den Bergen, und obgleich die Dattel-
palme höher als 1000 Fuss bei Nizza steigt, so findet sie sich doch nicht weder
beim heil. Remus noch heim heil. Romulus. Ein englisch geschriebener von
einem ungenannten Italiener verfasster Roman, Doctor Antonio, der vor weni-
gen Jahren erschienen ist und die genauesten Schilderungen der Riviera enthält,
klärt dieses Missverständniss damit auf, dass es in San Remo eine Familie
giebt, welche von Altersher das Vorrecht geniesst, die österlichen Palmenwedel
für römische Kirchen zu liefern. Sie kommen aber aus Bordighera, wie es
schon A. de Candolle, G^ogr. botanique rais. p. 344 richtig angiebt.
Die Riviera di Ponente.
463
Gefrorenes schlürfen will, findet Gelegenheit dazu im Cafe dltaUa
Genua^s. Auch Dattelpalmen sieht man noch bis Genua, ein
herrliches dreissig Fuss hohes Exemplar in Loano ; sie werden
aber nördlich von La Bordighera immer spärHcher.
Die Riviera , oder vielmehr die Napoleonische Kunststrasse,
zerfällt in drei Abschnitte , nämlich : in die Strecken von Nizza
nach Oneglia, von Oneglia nach Noli und von NoH nach Genua.
Gleich hinter Nizza steigt sie zwei Stunden lang bergauf und ge-
währt dort einen entzückenden Niederblick über Oelbelaubung auf
die orangengefüllte Thalebene, zerschnitten von dem fast wasser-
losen mit Geschieben angefüllten Bette des Paglione, dem durch
Uferbauten die Wiederholung seiner früheren Verheerungen sauer
gemacht wird. Was man diesem Wildwasser vom Thal abge-
rungen hat, ist bedeckt mit Oelpflanzungen und Orangengärten,
hinter denen die Trümmer des alten Schlosses von Nizza auf
ihrem Felsensockel sich erheben, an dessen Fuss zu beiden Seiten
die Stadt sich ausbreitet. Man verliert das Meer dort aus dem
Gesicht und die Strasse erreicht eine Erhebung von gewiss 2000
Fuss, wenn nicht mehr, wo sie an einer vom Wetter zerfressenen
und zerklüfteten Felswand (la Corniche) vorüber führt. Aber schon
bei der nächsten Biegung kommt das Meer wieder zum Vorschein,
und unten am Gestade auf einem Felsenrücken Hegt Monaco,
hell und sauber, als ob es sich eben von einer Feuersbrunst erholt
hätte. Ein Landes sprüchwort lautet:
Monaco bin ich, auf einem Stein,
Säe nichts aus und bringe nichts ein,
Aber gesättigt will ich doch seim).
Nach diesem Sprüchwort hat (mit Ausnahme der letzten
Strophe), wie man sieht, das deutsche München mit dem itahe-
nischen nichts gemein. In neuerer Zeit soll die Stadt an der
Riviera auch das Einbringen gelernt haben durch ein, wenn nicht
achtbares, doch probates Geschäft, nämlich durch die Errichtung
einer Spielbank.
Die landschaftlichen Reize der Riviera erreichen ihren Höhe-
punkt bei Ventimiglia. Alle malerischen Bauwerke, oder die
1) Son Monaco sopra un scoglio,
Non semino e non racoglio
E pur mangiar voglio.
464 Ferienreisen.
meisten wenigstens, sind unappetitlich. Ventimiglia ist sehr ma-
lerisch. Es liegt an einem steilen Abhang, Haus über Haus,
darunter sich Orangengärten nach einem offenen Thal senken mit
Fluss und Brücke , während im Hintergrund Berge die Aussicht
verengern, die zuletzt durch eine Alpengipfelkette geschlossen wird.
Was begehrt man noch mehr? Die See mit vordringenden Klip-
pen, die heitere Luft Italiens, eine Ortschaft in anmuthiger Lage
und dahinter ewigen Schnee auf starren Kämmen. Nur die Palmen
fehlen dieser Stelle.
Auf dem Wege nach Nizza kommt man durch ein Dutzend
Städtchen, fast alle am Meer gelegen, bisweilen befestigt, bisweilen
mit gemauerten Hafenwerken versehen, bisweilen durch Schiffs-
werften belebt, wo Fahrzeuge bis zu 500 Tonnen erbaut werden.
Sie gleichen sich alle so ziemlich, denn sie bestehen meistens nur
aus einer einzigen Strasse, so eng, dass sich die Bewohner in die
Häuser flüchten müssen, wenn der Postwagen durchgaloppirt. Von
dieser einzigen engen Strasse führten dann Gassen, die noch schmaler
sind, nach dem Strande, wo gewöhnlich schmucke Fahrzeuge
und Gondeln, malerisch über die Wasserlinie hinaus auf die rein-
lichen Kiesel gezogen sind. Die grössern Orte heissen San Remo,
Porto Maurizio, Oneglia, Alessio, Albengo und Savona. Vertieft
man sich in das Innere dieser Städtchen, so geräth man in enge
krumme Strassen, die bisweilen streckenweis überwölbt, gewöhnlich
aber mit Bogen überspannt sind. In diese Häuserschluchten scheint
noch nie ein Sonnenstrahl und ein Kehrbesen gedrungen zu sein.
Erblindete Fenster, zerbrochene Scheiben, Seile von Haus zu Haus
gespannt, an denen Wäsche trocknet, Spinnweben, Käsegeruch
und andere Gerüche, neben denen der Käsegeruch noch unschul-
dig erscheint, Bewohner, die einem Antiseifenverein angehören,
aber doch schneeweisse Hemden tragen, freundlich, aber nicht
zudringlich, sehr lebendig, und zwar bis in die tiefen Abendstunden
auf Unkosten des müden Reisenden, der spät sein Nachtquartier
erreicht und früh aufbrechen soll. Die Männer, die von und auf
der See leben, tragen wie Masaniello blutrothe Mützen mit blauem
Rande, viele der Frauen den genuesischen Schleier, d. h. ein Stück
gesäumten Mousselin, der ihnen bräutlich vom Haupte herabwallt.
Unter dem Mousselin sieht es aber nicht immer bräutlich aus, ja
man prallt bisweilen zurück vor einem zigeunerhaften Willewauwau-
Gesicht. Ueber die Wirthshäuser in diesen Städten dürfen sich
Die Riviera di Ponente.
465
selbst verwöhnte Kritiker nicht beklagen. Sie sind so reinlich wie
bei uns, und was das Ungeziefer betrifft, so leidet man darunter
so wenig oder weniger als in den besten Häusern der Schweiz,
und viel weniger als in den Gasthäusern am Rhein mit ihren Be-
völkerungen von Acanthia lectularia. Sie haben nur eine Schatten-
seite: die Prellerei. Man kann ihr zwar entgehen, wenn man sich
auf das Accordiren und das Feilschen verlegt, aber beides ist ein
so widriger Zeitvertreib, dass man das Geprelltwerden fast als das
mindere Uebel noch vorzieht. Uebrigens ist dieser Missstand nicht
dem Nationalcharakter zuzuschreiben , denn in Genua sind in ita-
henischen Häusern die Preise ganz bescheiden ; es muss vielmehr
an dem südlichen Klima liegen, welches die Ueppigkeit der Wirths-
rechnungen steigert, und zwar bei Deutschen so gut oder besser
wie bei Eingeborenen, denn die grösste Leistung dieser Art erlitt
der Verfasser von einem Deutschen aus Schaffhausen , dem Be-
sitzer des Hotel de France zu Nizza. Der Reisende ist gegen-
wärtig nicht schutzlos gegen diqgks moderne Raubritterthum. Die
Herausgeber unserer Reisehandbücher sind dankbar für jeden Nach-
weis, und man braucht daher nur die betreffende Wirthsrechnung
an Herrn Bädeker oder Berlepsch zu senden, damit das PubUcum
in Zukunft gewarnt werde. Da unsere rothen Reisebücher gegen-
wärtig auch ins Enghsche und Französische übersetzt werden, so
wirkt die Strafe um so empfindlicher.
Der zweite Abschnitt der Riviera umfasst die Strecke zwischen
dem Capo delle Mele bis zur Landspitze hinter Noli mit den
Städtchen Allasio, Albenga, Finale Marina und Finale borgo. Man
bewegt sich dort über eine geräumige Niederung, umgeben von
einem gewaltigen Höhenkranz, auf dessen Kämmen noch Schnee-
flecken sichtbar sind. So weit der Oelbau reicht, erscheinen die
Abhänge wie bewaldet, jenseits der senkrechten Gränze der Olive
breiten sich nur grüne Matten aufwärts, wie denn der Oelbaum
alles verdrängt, was Schatten giebt. An den im Nordwesten lie-
genden Abhängen leuchten zerstreute Gebäude durch das sanfte
Grün der Oliven. Dieser Anblick ist neu und überraschend. Es
fehlen nämlich in Oberitalien die Dörfer, welche durch stadtähnliche
Ortschaften ersetzt werden, und es giebt auch keine Bauern, son-
dern Pächter, die in jenen Ortschaften wohnen. Dort steht Haus
an Haus mit möglichster Ersparniss des Raumes zu engen Gassen
zusammengerückt. Nirgends sieht man Höfe oder Gärten da-
Peschel, Abhandlungen. II. 30
466
Ferienreisen.
zwischen, oder wenn man Gärten sieht, sind sie umgeben von
hohen Mauern und mit Rebstöcken oder Oelbäumen angefüllt,
ummauerte Stätten der Gartencultur, keine Räume, die zum Schmuck
oder zur Erholung bestimmt wären. Zerstreute Häuser sind
äusserst selten und darum wird man überrascht, sie wieder anzu-
treffen. Mag es ein Bedürfniss der Sicherheit gewesen sein, welches
die Italiener veranlasste, überall sich städtisch anzusiedeln, oder
ein Bedürfniss der Geselligkeit , oder eine Folge des herrschenden
Pachtsystems und des Mangels eines grundbesitzenden Bauern-
standes , oder alle diese Umstände zusammengenommen , der
Mangel an Dörfern und an einzelnen Höfen giebt den italienischen
Ortschaften ihre fremdartige Physiognomie. So wenig wie der
Italiener ein Bedürfniss fühlt, seine Wohnung durch einen Blumen-
garten zu zieren, so wenig scheint sich bei ihm ein Bedürfniss
nach Spaziergängen zu regen. Nähert man sich einer Ortschaft,
so wird die Landstrasse lange vorher, und entfernt man sich,
lange nachher durch Mauern eingingt, wahrscheinlich zum Schutze
der Früchte gegen ungebetene Gäste. Den Ausdruck ,,ins Freie
gehen" kann es im Itahenischen nicht geben, denn man fühlt sich
nicht frei, wenn Mauer rechts und Mauer links neben dem Wan-
derer aufsteigt. Frei ist nur der Weg nach dem Strande, wo
die anspülenden Wellen mit den Kieseln rauschen , wo man aber
an der Riviera vergeblich nach Muscheln suchen wird.
Beim Vorgebirge Noli's wird die Strasse der Riviera wieder
malerisch wild. Scharfe Felsen und Khppen , prächtig zerklüftet,
fallen ziemlich lothrecht in die See, deren Wogen sich schäumend
an abgestürzten Felsblöcken brechen und die Felsennasen unter-
waschen. Auffallenderweise ist das ligurische Gestade von Nizza
bis Genua inselfrei, mit nur zwei Ausnahmen. Vor Albenga näm-
lich liegt die Insel Gallinaria, ein rauher Felsenkopf, der aus der
blauen Tiefe aufragt, und hinter Noli eine zweite namenlose Insel,
der ersten familienähnlich. Hat sich die Strasse, theilweis in und
durch den Felsen gesprengt , thurmeshoch um das letzte Vor-
gebirge geschwungen, so ^schimmert am Fusse blauer Rücken das
östliche Hörn von Genua mit der Kuppel der Carignana, und der
Leuchtthurm des westlichen Hornes wird sichtbar, hinter dem,
prächtig gezeichnet, steile blaue Gebirge in die See fallen. Bis
in jene Ferne scheint sich nur eine grosse Stadt zu erstrecken, so
T^^cht drängt sich am Ufer zwischen Savona und der Hauptstadt
Die Riviera di Ponente. 467
Ort an Ort. Alle Anhöhen und alle Abhänge schwärmen mit
Villen und Landhäusern, und man fühlt immer deutlicher, dass
man sich einem grossen bürgerlichen Ernährungspunkte nähert.
Die Höhe der Küstengebirge vermindert sich aber bedeutend, und
die Riviera wird von jener Stelle an zahm und gesittet. Die
Landhäuser gehören mit wenigen Ausnahmen einem Jahrhundert
an, dem wir nicht angehören. Die Erbauer haben an steinernem
Schnörkelwerk und Bildhauerarbeit redlich gespart, dafür aber an
die flachen Wände, Säulen und Simse anmalen lassen. Diess hat
nun schon mancher recht anmuthig gefunden und es trägt jeden-
falls zur Lebendigkeit des Anblicks bei, im Grunde aber macht
diese coulissenartige Ausschmückung der Gebäude die unwill-
kommene Wirkung , uns bei hellem Tage in die Zeit der Zöpfe
zurückzuversetzen.
In Savona wurden wir zum ersten-, in Voltri zum zweiten-
male von unsern Lohnkutschern „verkauft", das heisst wir
gingen als Frachtgegenstände in andere Hände und in andere
Verkehrswerkzeuge über, weil es sich finanzpolitisch den Vet-
turinen empfiehlt , nur kleinere Strecken zu fahren. In Voltri
wurden wir der Eisenbahn übergeben, indem unser Kutscher,
nachdem er die Einwilligung seiner beiden Frachtgegenstände er-
halten hatte, uns auf seine Kosten Billets erster Classe löste.
Bevor wir jedoch Voltri erreichten, kamen wir durch eine arglose
Ortschaft, Namens Cogoleto, von ärmUchen Fischern bewohnt.
Der Verfasser war kindisch genug, jedem Bewohner, den das
Rasseln des Wagens unter die Hausthür zog, musternd ins Gesicht
zu schauen. Aber keine dieser gutmüthigen Physiognomien Hess
den geringsten Verdacht aufkommen, als ob der Inhaber auch
nur die allerentfern teste Verschuldung an der Entdeckung Amerika' s
habe. Plötzlich hielt jedoch der Kutscher vor einem keineswegs
alterthümhchen Hause und verweilte so lange, bis wir die Mauer-
inschriften, lateinische und italienische Verse, gelesen hatten, welche
das Gebäude als die Geburtsstätte des Cristoforo Colombo oder,
wie er sich als Entdecker genannt hat, Cristobal Colon bezeich-
neten.
Wir schliessen hier die Bemerkungen über die ligurische Ri-
viera, und Leser, die keine Zeit haben, sich mit den historischen
Zweifeln über die Geburtsstätte des grossen Seefahrers zu beschäf-
tigen , können getrost das folgende überschlagen , zumal wir im
468
Ferienreisen,
Voraus versichern dürfen , dass sie sich nicht genauer ermitteln
lässt, wenn es auch mehr als wahrscheinlich ist, dass der Ent-
decker der neuen Welt, wenn nicht in Genua selbst, doch in der
Nähe von Genua geboren wurde, und die Riviera im weitern
Sinne jedenfalls seine Heimath war.
Nicht weniger als dreizehn Städte Italiens streiten sich um
die Ehre , dass ihre Mauern den ersten Schrei des Neugebornen
gehört haben. Ein chinesisches Sprüchwort sagt: der Meinungen
sind viele, die Wahrheit ist aber nur eine , demnach ist es ausge-
macht, dass wenigstens zwölf falsche Geburtsorte Colons genannt
werden. Von diesen dreizehn Orten gehören drei, nämlich das
Schloss Cuccaro zwischen Alessandria und Casale, Piacenza und
Pradello im Stadtgebiet von Piacenza , nicht der Umgebung
Genua's an. Bei dem spätem Erbschaftsstreit um das Majorat,
welches der Entdecker gestiftet hatte , traten die Herren von
Cuccaro mit Ansprüchen auf, die aber historisch sich nicht be-
gründen und, was man bisher übersehen hat, sich sogar heraldisch
widerlegen lassen '). Von den zehn andern Orten hat jedenfalls
Genua selbst den meisten Anspruch; die letzten neun Cogoleto,
Bugiasco, Finale, Quinto, Nervi, Savona, Palestrella, Abizoli,
Cosseria (landeinwärts zwischen Milessimo und Carcere), sowie
Oneglia gehören den beiden Gestaden des Golfes von Genua an.
Wahrscheinlich gab es sehr viele Colombi in und in der Nähe
von Genua. Ein Domenico Colombo, der gewöhnlich für den
Vater gehalten wird, siedelte 1469 nach Savona über, und dort
erscheint auch ein Cristoforo Colombo als Testamentszeuge auf
einer Urkunde des Jahres 1472. Selbst wenn der Entdecker, was
leicht möglich ist, in einer der Ortschaften der Riviera geboren
wurde, bleibt er doch noch immer ein Genuese, denn alle diese
kleinen Gemeinden erscheinen schon dem Auge nur wie Familien-
glieder und Abkömmlinge der grossen Mittelmeerstadt. Wie um
einen grossen Stamm neue Schösslinge aus gemeinsamer Wurzel
und aus gemeinsamer Erde aufspriessen , so die kleinen Orte, die
ihr Leben von der Nähe eines mächtigen Stadtkörpers empfangen.
Es ist daher nur eine Frage der Neugier, wo der Entdecker ge-
i) Der Verfasser hat schon auf den Unterschied der Familien wappen des
amerikanischen Colon und der Herren v. Cuccaro aufmerksam gemacht. S.
Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 98.
Die Riviera di Ponente.
469
boren wurde, für die Geschichte genügt es' vollkommen, wenn wir
wissen, dass er ein Ligurier gewesen sei, gleichgültig dagegen ist
es, ob er zuerst die Luft der grossen Stadt selbst oder eines nahen
Ortes eingesogen habe. Es ist ebenso zweifelhaft, ob er 1436
oder 1456 geboren wurde, und nur das eine scheint sicher zu
sein, dass er plebejischen Ursprungs war. Seinfunehelicher Sohn
Don Fernando , der die Lebensbeschreibung des Vaters verfasste,
kannte selbst weder das Alter, noch die Geburtsstätte, noch die
Jugendgeschichte seines Erzeugers. Vielleicht hat er die letzte ab-
sichtlich im Dunkel gelassen. Sein Bruder und seine Neffen
wurden Granden von Spanien, im dritten Gliede bereits verwandt
mit den spanischen Habsburgern, und sie hatten keine Ursache,
den Schleier zu lüften. Wir wissen indessen , dass ausser zwei
Brüdern der Entdecker eine Schwester besass, die den Giacomo
Bavarello, einen Pizzicagnolo, heirathete. Genau zu ermitteln,
was ein Pizzicagnolo sei, hat schon Gelehrte beschäftigt, und
Alex. v. Humboldt übersetzt den Ausdruck mit Fleischhändler.
Das Gewerbe blüht noch immer in Genua und an der Riviera.
Um daher Gewissheit über diese grosse historische Frage zu er-
halten , musterte der Verfasser in Genua einen Laden , der die
Aufschrift eines Pizzicagnolo trug. Dort wurden Käse, Schmalz,
Eier, kurz Lebensmittel und Küchenbedürfnisse verkauft, und schon
der Geruch beseitigte alle kritischen Zweifel über den bürgerlichen
Beruf der PizzicagnoH. Wenn also die Schwester Würste ver-
kaufte, warum sollen wir bezweifeln, was die ältesten und besten
Angaben bezeugen, dass näniHch der Entdecker Sohn eines Tuch-
webers gewesen sei? Bei dieser Gelegenheit erlaube man uns
eine andere falsche Angabe zu widerlegen, die schon A. v. Hum-
boldt bestritten, Prescott durch sein Schweigen verworfen hat, die
aber neuerlich wieder aufgetischt worden ist. Der gelehrte Sohn
des Entdeckers , Don Fernando , erzählt , dass sich sein Vater an
Bord eines Geschwaders befunden habe, welches von einem aristo-
kratischen Seeräuber, Namens Colombo, befehhgt wurde, und das
im Jahr 1485 vor Lissabon vier venetianische Galeeren auf dem
Wege nach Flandern überfiel. Bei dem Gefecht fing das Schiff,
auf dem sich der Entdecker befunden haben sollte, zu brennen
an, und der grosse Mann rettete sich nur, dass er ein Ruder er-
griff und als geübter Schwimmer die zwei Meilen entfernte Küste
erreichte. Ein englischer Gelehrter R. Brown, der kürzüch die
47°
Ferienreisen.
Archive von Venedig durchsuchte , will dort die Beglaubigung
dieser Thatsachen aufgefunden haben. Allein er fand doch nur,
was niemand bestritten hat und was bereits in dem venetianischen
Annalisten Sabellicus zu lesen ist, dass nämlich vier venetianische
Galeeren von Seeräubern vor Lissabon angefallen wurden, dass
die Piraten ein Mann, Namens Colombo, befehligte, von dem
wir andrerseits wissen , dass er der edlen Familie in Cuccaro an-
gehörte, und dass die That im Jahr 1485 vorfiel. So weit ist
alles in Ordnung.
Nun fragt vielleicht ein unbefangener Leser, warum die histo-
rische Kritik sich anmasst , etwas zu bezweifeln , was der Sohn
vom Vater erzählt? Don Fernando weiss jedoch nicht mehr als
was im Sabellicus steht, und was er von der Theilnahme seines
Vaters erzählt, beruht auf Hörensagen, wenn nicht auf eigener
Phantasie, denn der Entdecker selbst gedenkt in seinen Briefen
nie einer solchen Begebenheit. Dieser Umstand, welcher in die
Classe der sogenannten negativen Beweise gehört, die ausserordent-
lich gefährlich sind, wäre allein nicht hinreichend, wenn wir nicht
aus den Urkunden und aus den eigenen Briefen des Entdeckers
wüssten, dass er im Jahr 1484 Portugal verlassen und dass er
beim Antritt seiner Entdeckungsreise 1492 bereits 8 Jahre im
Dienst der spanischen Krone gestanden war. Die Urkunden
widersprechen daher der Angabe, und Don Fernando hat sich
vielleicht nicht ungern das Märchen aufbinden lassen, als er in
Italien reiste und die edlen Colombi in Cuccaro besuchte, um sich
Auskunft über seine Vorfahren zu verschaffen.
Genua hat seinem grossen Sohne ein würdiges Standbild aus
Marmor gesetzt, vielleicht beabsichtigt, vielleicht unbeabsichtigt im
Angesichte des Bahnhofes, so dass der marmorne Mann, welcher
das Weltmeer so gewaltig verkleinern half, sich in unmittelbarer
Nähe unserer raumbewältigenden Verkehrsmittel befindet, welche
das Festland uns jetzt so angenehm verkürzen. An die Knie des
Columbus schmiegt sich eine Indianerin mit dem Kreuz in der
Hand, eine sinnige Anspielung (wenn es eine solche sein sollte)
auf den Vornamen des Entdeckers, der ihn als den Christ-
träger') als den Ueberbringer des Evangeliums nach der neuen
i) Colon selbst , ein religiöser Schwärmer , war tief betroffen durch den
Umstand, dass er schon in der Taufe als Christoph, als der Träger des Evan-
Die Riviera di Ponente.
471
Welt schon in der Taufe angekündigt hat. Wäre der italienische
Künstler in der Völkerkunde bewandert gewesen, so hätte er
wahrscheinlich die Indianerin zu Füssen des Entdeckers wegge-
lassen , denn er erinnert damit an die dunkelste Seite der Ent-
deckung Amerika's. Das Christenthum hat der Genueser wohl
hinübergeführt über das atlantische Thal , aber zugleich auch den
Racentod. Die Hälfte der eingebornen Stämme, mit denen Colon
in Berührung kam, war bereits von dem Erdboden verschwunden
ehe ein halbes Jahrhundert verstreichen konnte. Das Aussterben
der schwächeren Menschengeschlechter erfolgt nach einem Natur-
gesetz, welches sich nicht bloss auf beiden Festlanden Amerika's,
auf den Inseln des grossen Oceans, auf der Sandwichgruppe, den
Marquesas-, den Gesellschafts-, den Freundschafts-, den Fidschi-
Inseln, auf Neu-Seeland und in Australien an den Völkern wieder-
holt, sondern dem selbst Pflanzen erliegen, sobald Gewächse der
alten Welt ferne Inseln und Festlande überfallen und die schwä-
cheren Formen der eingebornen Flora verdrängen. Traurig bleibt
es aber immer , und die Gestalt der Eingebornen zu Füssen des
steinernen Seefahrers erscheint fast wie eine Anklage, das Kreuz
in ihren Händen aber nicht als ein Zeichen der Rettung, sondern
wie das Zeichen über einem Rasenhügel, wenn alles vorbei ist.
Es ist uns kein Porträt des Genuesers erhalten worden oder
vielmehr alle in Umlauf befindlichen Porträts sind unecht und er.
fimden. Der Künstler hat daher freie Wahl, sich den Mann zu
denken wie er will. Daher die grosse Verschiedenheit zwischen
den Auffassungen des Genueser Bildhauers, Kaulbachs im Refor-
mationsbild, Rubens und Rugenda's. Rüben scheint sich der histo-
rischen Wahrheit am meisten genähert zu haben. Nach der
Schilderung seines Sohnes war Colon hoch gewachsen und stark
geliums in die neue Welt bezeichnet worden war. Um diesen Umstand recht
fühlbar zu machen, unterzeichnete er stets XPO FERENS, wie man auch auf
seinen Originalbriefen, die im Palazzo del Municipio in Genua unter Glas ge'
zeigt werden, und deren Echtheit nie einen Zweifel erregt hat, lesen kann-
Das XPO soll Christo (statt Christum) gelesen werden, da in alten spanischen
Urkunden und Druckwerken dem X und P bei griechischen Worten auch der
griechische Lautwerth gelassen wird. Juan de la Cosa, ein Begleiter des Ent-
deckers und der Verfasser der ältesten Karte von Amerika, hat auf diesem
Erdgemälde vom Jahr 1500 den heiligen Christoph mit dem Jesuskind auf den
Schultern abgemalt , wie er durch Schilf an das Ufer der neuen Welt steigt,
was man auch für eine Anspielung auf den Namen des grossen Entdeckers hält.
472
Ferienreisen.
gebaut. Sein Gesicht länglich geformt, wurde bedeutsam durch
eine Adlernase, entstellt aber durch einen grossen Mund, sowie
durch Sommerflecken und eine stehende Röthe. Schon im dreissig-
sten Jahr war sein rothblondes Haar ergraut, wie er selbst be-
hauptet in Folge von Sorgen. Das ist alles, was wir von der
äussern Erscheinung des grossen Mannes wissen.
III. Genua.
(Ausld. 1865. Nr. 29. 22. Juli.)
Die Natur hat Venedig nur seine Lagunen und den täglich
mehr versandenden Hafen geschenkt. Man muss auf den Thurm
des Marcusplatzes steigen um jenseits des Lido das bewegte Meer
und gegen Süden die vulkanischen Kegel der euganeischen Berge
zu sehen. Venedigs Reize sind also nur menschliche Kunstwerke,
und ein Maler findet dort nichts, wenn er nicht ein Canaletto ist.
Für Genua's Schmuck hat dagegen die Natur mehr gethan als
die Genueser. Von jedem höhern Punkt wird das Meer über dem
Mastenwald des Hafens sichtbar. Küstengebirge von beträcht-
licher Höhe begränzen den Golf nach Westen wie nach Osten,
die Stadt selbst aber hebt sich an einem halbmondförmigen Becken
empor. Paläste überragen Paläste, dann folgen Terrassen und
grüne Gärten, über den Gärten steigen Matten empor, und zuletzt
krönen jede Kammspitze malerische Festungswerke, zwischen denen
die Mauern hier sichtbar, dort versteckt auf den geschwungenen
Höhenkanten auf- und niederklettern. Nach dem Wetterkalender
ist jeder dritte Tag in Genua ein Regentag, aber die Regen fallen
nur, wenn die Sonne in den südlichen Zeichen steht, und die
schöne Jahreszeit ist wirklich schön und nicht wie bei uns em
,,grün angestrichener Winter".
Die Hauptstrassen in Genua sind mit Quadern getäfelt, werden
sehr rein gehalten und sind fast ganz geruchlos. Doch fällt bis-
weilen seitwärts der Blick in sehr hohle Gassen hinab, wohin die
Sonne aus Discretion nicht eindringt, um nicht die Wäscherinnen
zu stören, die im tiefen Dunkel um einen Brunnen Genua's
schwarze Wäsche säubern, die dann zwischen den Häusern au
quer gezogenen Stricken bis in die vierten Stockwerke hinauf an
Genua.
473
der Luft trocknet. Die bessern Strassen sind breit und vom
frühesten Tage bis gegen Mitternacht belebt. Wie in jedem See-
handelsplatz herrscht in der Nähe des Hafens der grösste Tumult,
doch ist in Genua der Verkehr bei weitem nicht so gross wie in
Marseille.
Im Vergleich zu Mailand und Venedig besitzt Genua wenig
Kunstschätze, und die wenigen befinden sich zerstreut im Privat-
besitz. Seine wichtigsten Kunstwerke sind die Paläste, welche
dicht an einander gereiht die Strassen Via Nuova, Nuovissima und
Balbi bilden. Diese Strassen und Paläste sind es, welche Genua
den Beinamen der Prächtigen (Genova la superba) ei-worben
haben. Vor der Ankunft Galeazzo Alessi's aus Perugia, der in
15 Jahren der Stadt ihr monumentales Gepräge gab, scheint die
Architektur viel frugaler gewesen zu sein. Man sagt sich diess
wenigstens, wenn man den Palast des Andrea Doria aus dem
16. Jahrhundert äusserlich betrachtet, der, am östlichen Ufer des
Hafens gelegen , ziemlich ärmlich und verarmt erscheint , wenn
man kurz zuvor die Palaststrassen durchwandert hat. Im Innern
freilich sind noch Reste der ehemaligen Pracht und Kunstliebe
genug vorhanden, so dass man sein erstes Urtheil wieder ändert
und inne wird, dass die Genueser des 16. Jahrhunderts für den
Schmuck ihrer Stadt und ihrer Wohnungen im Vergleich zu ihren
damaligen Mitteln ebenso viel aufwendeten wie ihre spätem Nach-
kommen.
In Venedig haben die Mehrzahl der Paläste ihre Besitzer
nicht sehr günstig gewechselt. Sänger, Tänzerinnen, Börsenspieler
und Gasthofsbesitzer haben die schönsten Monumente inne. In
Genua gehören die prächtigsten Stadtsitze noch immer den alten
Familien, in Hotels haben sich nur die Paläste umgewandelt,
welche die Front bilden zur innersten Vertiefung des Hafens-
Dort steigen sie auf cyklopischen Bogengängen zu Kirchenhöhe
auf, und der Fremde, der eines dieser Häuser ersten Ranges wählt,
bewohnt dort die ehemaligen Gemächer genuesischer Nobili,
marmorgetäfelt, mit Balconen versehen und etwa 18 — 20 Fuss
hoch. Die Höhe der Zimmer ist es, welche allen genuesischen
Palästen ungewohnte Grössenverhältnisse gegeben hat. Anfangs
denkt man wohl , es sei plutokratischer Uebermuth gewesen,
welcher die Genueser verführt habe, sich in Riesenbauten zu über-
bieten, aber bald sieht man ein, dass körperliches Behagen sehr
47 4
Ferienreisen.
genau mit der architektonischen Hypsometrie zusammenhängt,
denn obgleich Genua im Sommer nicht so heiss ist wie Mailand,
und jeder freie Platz durch die Seeluft erfrischt wird, so ist man
doch dankbar für die Kühle dieser Gemächer, deren senkrechter
Höhe man die erquickende Nachtruhe zuschreiben muss.
Aeusserlich zeichnet sich von allen Kirchen Genua's der Dom,
ein sehr altes romanisches Gebäude aus weiss und schwarzen
Marmorstufen , am günstigsten aus , während umgekehrt die An-
nunciata, äusserhch unvollendet und scheinbar im Verfall begriffen,
inwendig durch ihre verschwenderische Pracht überrascht. Von
den Capitälen der Säulen angefangen sind die Wölbungen des
Haupt- und der Seitenschiffe mit Vergoldung und Malerei über-
laden , und rothe Vorhänge vor dem oben hereinfallenden Licht
erhöhen noch durch Purpurschimmer die Farbenpracht dieses
Tempels. Wenn Kahlheit ein protestantisches Verdienst ist, so
bildet die Carignana den schärfsten Gegensatz zur Annunciata,
denn dieser innere weissgetünchte Kuppelbau zeigt keinen andern
Schmuck als einige starre marmorne Heiligenkolosse und etliche
Altarblätter, deren Kunstwerth bei der schlechten Beleuchtung
wie der fast aller Gemälde in Kirchen fast ungeniessbar wird.
Wie das Pariser Pantheon ist die Kuppel der Carignana mit einer
Gallerie und einer Laterne versehen, und da sie in der Nähe des
östhchen Homs des Hafens liegt, so geniesst man von der Höhe
einen günstigen Ueberblick über Meer und Küsten , sowie nach
Genua und seinen Hafen hinunter, der gegenüber von dem west-
lichen Leuchtthurm mit seinen Bastionen begränzt wird , von
welchem ein Molo seinen schützenden Arm vor dem Hafen aus-
streckt.
Wir werden den Leser nicht ermüden mit Aufzählen der be-
sicj^tigten Kunstschätze. Er findet sie in Reisehandbüchern und
in Stahrs Oberitalien viel besser und ausführlicher beschrieben als
wir es vermöchten, zumal uns nur zwei solcher Schätze noch un-
verwischt vor Augen stehen, eine Kreuzigung van Eycks im Pa-
lazzo del Municipio und zwei silberne Krüge von Benvenuto Cellini
im Palazzo Durazzo. Die grösste Sammlung im Palast Brig-
nole Säle war übrigens wegen Anwesenheit des Besitzers nicht
sichtbar.
Unstreitig sind die Paläste selbst anziehender als die Samm-
lungen, die sie einschliessen. Wir nennen vor allem den Palazzo
Genua.
475
Rosso , so genannt von dem ziegelrothen Anstrich seiner Mauern,
der sonderbarer Weise noch durch hellgrüne Jalousien gesteigert
wird. So gross und grossartig sind aber die Dimensionen, dass
selbst diese grelle Zusammenstellung von Farben dem Gebäude
nichts von seiner Hoheit zu rauben vermag. Ihm gegenüber liegt
der Palast des Municipio , wo im Verschluss einer vergoldeten
Kapsel einige Briefe des Columbus unter Glas aufbewahrt werden
und zugleich mit der Violine — beinah möchte man sagen
der verstorbenen VioHne — Paganinis gezeigt werden, denn
Genua rühmt sich , den grössten Geiger und den grössten Ent-
decker zu seinen Söhnen zu zählen. Der Palazzo Serra ist aus-
gezeichnet durch die Pracht seiner Prunkgemächer, in denen bis-
weilen des Winters die genuesische Gesellschaft funkelt, denn wie
der Custode treffend bemerkte, sei die Dame verloren, welche ohne
eine ausreichende Ladung Diamanten und Kleinodien diese gol-
denen Prunkgemächer mit ihren farbig spielenden krystallenen
Kronleuchtern betreten wollte. Getanzt ■ wird auf Marmor oder
Mosaikboden. Eine fachkundige italienische Dame versicherte
jedoch dem Verfasser, dass der geschliffene Stein Polka und
Walzer nicht sehr begünstige und in Mailand daher zu Tanzgele-
genheiten die Fussböden mit Wachstuchteppichen überspannt würden,
welche gleichwohl nur ein trauriger Nothbehelf im Vergleich zu
dem elastischen Parket seien. So lauten die Ansichten von Sach-
verständigen, die ein Laie andächtig sich aufgemerkt hat.
Die Palme unter allen ,, säulengetragenen Dächern" Genua's
wird wohl übereinstimmend dem Palazzo Durazzo') zuerkannt,
obgleich oder vielmehr weil er so ausserordentlich einfach ist.
Der Besucher betritt ihn durch einen viereckigen Hof, um den,
von Säulen gestützt, ein Bogengang läuft, welcher das Haus trägt,
ohne allen Schmuck ausser seiner weissen Farbe und einer bron-
zenen Laterne, aber von einem unvergleichlich wohlthuenden Mass
aller Verhältnisse. Im Hintergebäude liegt die weltberühmte
Treppenstiege von Andrea Tagliafico, die man mit wahrem Genuss
hinaufsteigt. Auffallend ist übrigens bei allen diesen Palästen die
Nüchternheit der Thürflügel. Sie sind aus gemeinem Holze ge-
fertigt und mit Oelfarbe eine falsche Maserung mahagony- oder
nussbaumartig aufgetragen, mitten unter architektonischer Ver-
i) Im Munde der Genueser klingt der Name Durasso , da das z weich
gesprochen wird.
^«5 Ferienreisen,
schwendung und grossen Verhältnissen, eine ärmliche Sucht nach
Ersparniss, zumal Luxushölzer in einer Seestadt nicht sehr kost-
spielig sein können.
Zu den Unterhaltungen, welche die Reisehandbücher dem ge-
lehrigen Touristen auferlegen , gehört auch ein Ausflug nach Pegli
in der Nähe von Voltri , um die Villa Pallavicini zu besuchen,
wozu man sich eine schriftliche Erlaubniss in der Stadtkanzlei
des Marchese zu erbitten hat. Die Fahrt geht um die Lanterna,
das heisst um den Leuchtthurm des Molo Nuovo unter Staub-
wolken durch die nächsten Ortschaften der Riviera di Ponente
und zum Theil am Meere vorüber bis nach dem Ziele. Den
Garten der Villa durchschneidet der Schienenweg und noch an
ihrem Rande liegt der Bahnhof der Station Pegli; doch sind die
Fahrtzeiten der Eisenbahn dem Besuch des Sommerpalastes der genue-
sischen Marchesi nicht_günstig. Der vorgeschriebene Custode empfängt
und führt die Fremden durch schattige Parkanlagen, an einigen
Gartentempeln vorüber eine beträchtUche Anhöhe hinan, gekrönt
durch ^ein modernes burgartiges Gebäude, von dessen Thurm und
Zinnen herab eine entzückende Aussicht über den Golf und die
beiden Rivieren sich erschliesst. Ganz im Westen im Meeresblau
und Duft verloren ist noch das Vorgebirge delle Mele zu erkennen.
Weiter landeinwärts gipfeln die Seealpen bis zu einer Höhe, auf
der sich noch zerrissene Schneeflecken erhalten konnten. Rück-
wärts hat man bebaute Bergabhänge, unter sich den waldigen
Park, die Villa, die Ortschaft Pegli und das blaue Meer, an dessen
äusserstem Saume früh Morgens und Abends, jedoch nur an we-
nigen begünstigten Tagen, Corsica sichtbar wird. Nach Osten zu
liegt Genua, grösstentheils versteckt hinter seinen halbmondartigen
Bergen , doch bleiben sein Leuchtthurm , seine Stadtmauern
und seine malerischen Castelle auf den Höhenkämmen überall
sichtbar. Hinter Genua , schon in blauer Ferne , steigt die
östliche Riviera steil aus dem Meere empor, zu einem schön
geformten zackigen Vorgebirge sich erhebend , welches jäh ab-
fallend die Aussicht schliesst. Dieser Blick auf und über den
segelbelebten Golf ist an sich eine Reise werth und gehört zu den
Bildern, die sich unverwischlich erhalten , es ist ein Gemälde voll
von südlichem Licht, von blauem Meer, von dunklem Laub immer-
grüner Gewächse und von freundlichen Wohnstätten. Man fühlt
den Segen einer bessern Sonne, die nicht lästig wird im Bereiche
Genua.
477
kühlender Seewinde. Dort beneidet man die Italiener, dort begreift
man die Sehnsucht der Barbaren und die Römerzüge.
Diese Aussicht ist unstreitig das Beste, was man in Pegli sich
holen kann. Steigt man herab, so hält indessen der Führer die
wahren Ueberraschungen noch in Bereitschaft, wir werden in eine
Grotte geführt, die künstlich aus Tropfsteinen erbaut worden ist
und zwischen deren Pfeilern und Wölbungen ein Gewässer der
Unterwelt fluthet. Die herabhängenden Stalaktiten würden natür-
lich vom Regen sehl" bald in Stalagmiten, noch wahrscheinhcher
nur in einen Brei von kohlensaurem Kalk am Boden verwandelt
werden, die künstlich gemauerte Grotte ist daher oben mit Metall
gedeckt, und erst auf dieses Gartenerde geführt und Bäume ge-
pflanzt worden. Man wird freundlich genöthigt eine Gondel zu
besteigen , die durch Grottendunkel uns plötzlich hinausbringt auf
einen grell beleuchteten Weiher mit statuengeschmückten Inseln,
chinesischen Tempeln , türkischen Kiosken , Wasserfällen , Spring-
brunnen, hochgespannten Brücken und eingeschlossen von saftigen
Rasenteppichen, auf denen blühende Magnolien ihren Schatten aus-
breiten. Man tischt uns hier bei hellem Tage ein Blatt aus dem
Feen-Märchenbilderbuch unserer Kinderzeit auf, und laute Ergüsse
der Befriedigung und des Entzückens wurden aus einer Gondel
mit einer starken Fracht schöneren Geschlechtes in correctem
Berlinisch laut. Der Eigenthümer des Landsitzes, Marchese Pal-
lavicini, öffnet den Fremden gastfrei seine Gärten und es wäre
Missbrauch dieser Grossmuth, die Capitalsanlagen des edlen Eigen-
thümers kritisiren zu wollen, zumal er dabei den menschenfreund-
hchen Zweck verfolgt, unbeschäftigten Händen der nächsten Ort-
schaften Erwerb anzuweisen. Wenn wir indessen den Besuchern
Genua^s einen Ausflug nach Pegli dringend rathen , so geschieht
es wohlverstanden der Höhenaussicht wegen, die Gartenkünsteleien
bekommen sie ohnediess in den Kauf. Nicht leicht wird jemand
errathen, dass die kostspiehgste dieser Anlagen der sparsame Wasser-
fall ist, welcher von der Höhe herabkommend Weiher und Grotte
füllt. Wasser ist baares Geld an der Riviera, und ein Wasserfall
ist ein Fall von Frankenstückeri, denn nicht weniger als acht Mi-
glien weit muss von den Bergen auf gemauerten Leitungen das
kostbare Gut herbeigq/"ührt werden, welches aus unsichtbaren
Druckwerken in allen Buschwerken sprüht.
Für Freunde der Gartenkunst bietet die Villa Pegli sowie die
478
Ferienreisen.
Gärten der Villa Negri über dem Palazzo Andrea Doria, von deren
letzteren Anhöhen man einen vollständigen Ueberblick über die
Stadt und den Hafen Genua's gen Westen geniesst, ganz absonder-
liche Ueberraschungen, doch enthält die Villa Pallavicini weit mehr
Seltenheiten und Reichthümer als die Villa Negri. Wenn wir
daran erinnern, dass bisweilen in schlimmen Wintern das Rdau-
mur'sche Thermometer in und um Genua bis auf — 6° sinken
kann, so erstaunt man, wie viele Gewächse gedeckt und ungedeckt
dort ausdauern. Die Cedern vom Libanon und vom Himalaya
(C. Deodora) findet man auch am Comer See, ebenso wie ver-
schiedene Lorbeerarten (L. nobilis und L. cerasus), zu denen auch
20' hohe Kampherbäume (L. Camphora) gehören. Das gleiche
gilt von Azaleen , Rhododendren , Kamelien , MagnoHen , Agaven,
Yuccen (Y. gloriosa) und einer Anzahl Cactusarten, Was am
Comer See aber nicht mehr im Freien, wohl aber in Genua über-
wintert, sind anmuthige Bambusarten, Stauden des ägyptischen
Papyrus , und eine neu eingeführte japanische Palme oder rich-
tiger Cycadee (C. revoluta), welche letztere jedoch gedeckt werden
muss. Merkwürdig sind drei hohe Exemplare von Korkeichen
(Quercus suber) in den Anlagen des Pallavicinischen Parkes, sowie
in der Villa Negri ein starkes Exemplar der Maniokstaude (Yatropha
Manihot), aus deren Wurzel das bekannte Tapiocamehl gewonnen
wird. Von Araucarien besitzt der Marchese Pallavicini fünf ver-
schiedene Arten (A. excelsa, brasiliana, Cunninghami, imbricata
und eine als columnaris bezeichnete, die neu sein muss, weil sie
in dem botanischen Wörterbuch fehlt) in Exemplaren bis zu 20
Fuss Höhe. Diese Araucarien , von denen kein Stück unter
10,000, eines sogar 30,000 Francs im Werth gehalten wird, müssen
in Kübeln zur Winterszeit hinter Glas wandern , ebenso wie eine
neuseeländische Damarafichte , welche die Villa bei Pegli besitzt.
In den warmen Häusern der Gartenfreunde an der Riviera und
am Comer See werden mit Vorliebe tropische Fruchtbäume, Kaffee.
Zuckerrohr und fast überall Ba,nanen gepflegt , die wir gerade in
Blüthe fanden , welche aber , vereinzelt und von unbedeutender
Grösse nur einen fremdartigen uncf trotz ihrer langen ruderförmi-
gen Blätter nicht den Eindruck besonderer Ueppigkeit gewähren.
Wir dürfen desshalb nicht irre werden, jvenn die Reisenden in
den Aequinoctialländern uns einstimmig nächst den Palmen und
vor den Baumfarn, die Musaceen und darunter gerade die Banane
Genua.
479
oder den Pisang alsdas Gewächs bezeichnen , welches den Ein-
druck des üppigen Wuchses am höchsten steigert. Was man in
Europa sieht, ist ein Kunsterzeugniss so gut es sich hinter den
Scheiben darstellen lässt.
Eine Spazierfahrt nach PegH kostet einen ganzen Tag, denn
man erreicht Genua erst kurz vor der Tafelzeit, d. h. vor fünf
Uhr wieder, und nach dem Mittagstisch bleibt nur noch ein
Spaziergang nach der Acqua-Sola und die Oper übrig. Acqua-
Sola ist ein noch jugendlicher, aber schon ziemUch schattiger
Spazierplatz und für Genua dasselbe, was die Champs Elysees für
Paris sind. An Wochentagen ist er ziemlich besucht, an Sonn-
tagen aber, wo Musik spielt, so dicht gefüllt, dass die zwei Heer-
säulen von Spaziergängern sich nur langsam an einander vorüber
schieben können. Auffallend sind die vielen kolossalen Mannet -
gestalten in Uniform und in Bürgerkleidern, denen man begegnet,
aber auch dem andern Geschlecht fehlt es nicht an stattlichen
Gestalten. Die Genueserinnen smd berühmt wegen des Kubik-
inhalts ihrer Körpermassen , der bei einigen bevorzugten Exem-
plaren einen Aequatorialumfang annimmt, dass selbst Falstaff sich
zurückgesetzt fühlen könnte. In Venedig erkennt man Tizians
Ideale wieder, in Genua hätte Rubens die seinigen wohlfeil ge-
funden. Die ProcentMhl schöner Frauengesichter und Frauen-
gestalten ist in Genua aber höchst ansehnlich und im Gegensatz
zu den vorgefassten Erwartungen die Hautfarbe, namentlich bei
den Blondinen, weit frischer und zarter als bei uns. Doch sieht
man auch bisweilen das sogenannte durchsichtige Braun, und dann
sind es Gesichter mit stolzen Brauen , die ein Maler ohne jede
eigene Zuthat frischweg als Judith verwenden dürfte.
Es ist nicht mehr als bilHg, dass sich das grösste und beste
Opernhaus in der weitaus reichsten Stadt Italiens, nämlich in
Mailand, befinde. Die Nähe der Scala ist daher wegen des Ver-
gleichs nicht günstig für die Oper Carlo Feiice in Genua , doch
ermächtigt der flüchtige Besuch des Verfassers zu keinem Urtheil.
Nur kann er die Bemerkung nicht unterdrücken, wie übereilt ge-
wöhnlich die deutsche Kritik die gesammte italienische Musik ver-
urtheilt. Italienischer Gesang auf deutschen Brettern und aus
deutscher Kehle ist allerdings ein trauriger Genuss, aber die ultra-
montanen Meister schrieben auch nicht für die Musiker jenseits
des 47. Breitegrades. In Itahen belehrt uns schon ein Opernhaus
48o
Ferienreisen.
zweiten Ranges, was italienische Künstler aus italienischer Musik
herauszusingen verstehen, und, dass sie vielleicht mehr enthält als
sich die musikalische Schulweisheit der deutschen Kritiker träumt.
Man eifere also nicht gegen die Oper der Italiener, sondern
gegen die Nachäfferei unserer Musikanten und ihrer Präfecten 1
IV. Der Corner See.
(Ausland 1865. Nr. 30. 29. Juli.)
Seltener wird der Corner See von Deutschen im Frühjahr be-
rührt. Die Monate September und October sind vielmehr die
wahre Erntezeit für die zahlreichen Gasthöfe und Pensionen, die
in wenigen Wochen die Börsen der Naturpilger sanft erleichtern
müssen, damit sie sich für die übrigen zehn Feiermonate des Jahres
entschädigen können. Im Mai und Juni dagegen wird der See
meistens nur von Engländern heimgesucht, denen es in Neapel
zu heiss geworden und in Interlaken oder am Vierwaldstättersee
noch zu kühl ist. Der Corner See ist indessen viel reizender im
Frühjahr als im Herbst, Der Herbst pfle* auch bei uns bestän-
diges Wetter zu bringen , was man dem Mai und Juni in der
Regel nicht nachrühmen darf. Unbesorgt um die Gesundheit kann
man im Frühjahr die Abende im Freien an den italienischen Seen
zubringen bis i o und 1 1 Uhr , um den Aufgang des Mondes ab-
zuwarten. Im Herbst fehlt ferner ein grosser Reiz des Corner
Sees gänzlich , das ist der Gesang der Vögel. Amseln und Nach-
tigallen wetteifern, wo immer Laubkronen ihnen ein willkommenes
Versteck bieten. Den Finken ist es dagegen schon zu heiss unten
am See oder sie finden dort nicht die Nahrung, die sie lieben.
Aber schon wenn man 1200 — 1500 Fuss höher steigt, hört man
ihren munteren Schlag, so dass also auch an den Vogelstimmen
die senkrechte Abstufung der Klimate erkannt zu werden vermag.
Die Nachtigallen singen überall gleich schön, sie sind nicht minder
melodienreich, wenn sie, eingesperrt in einen Käfig, über einem
engen Canal an einem verwitterten Gebäude Venedigs hängen,
oder wenn sie hoch im gewaltigen Wipfelrund einer westlichen
Platane am Comer See in heiterer Morgenluft schlagen. Aber
Der Corner See. 481
die Stimme eines eingesperrten Sängers scheint immer einen kla-
genden, fast möchte man sagen anklagenden Ton zu besitzen,
während man sie in der Freiheit und im Schoosse einer üppigen
Pflanzenwelt über die „süsse Gewohnheit des Daseins" frohlocken
hört. So schön der Comer See auch ist zur Zeit, wo die Trauben
schwarz werden, sein Feiertagsgewand trägt er doch nur, wenn
über die Gemäuer am See Gesträuche — was sage ich, Ge-
sträuche? — ganze Gebüsche der edelsten Rosenarten, der präch-
tigen faustgrossen Theerosen bis zu dem grünen Wasserspiegel sich
herabneigen. Dann kann der beneidenswerthe Wanderer in dem
Schatten der kühlen Villa Pliniana^) noch verspätete Kamellien,
Azaleen und Rhododendren in einen Strauss vereinigen mit unsern
Edelrosen^), und wenn er hinüber setzt an das sonnige Westufer,
findet er die ersten Kelche der MagnoHa grandiflora erschlossen.
Er lässt sich wohl verführen, ein solches Kleinod mit nach Haus
und in sein Zimmer zu nehmen, aber vorsichtig stellt er die
schneeweisse bechergrosse Tulpe des Nachts ins Freie, denn ihr
Geruch , der an Jasmin und Citronenduft erinnert , wirkt so be-
täubend, dass er mit Kopfweh bezahlt werden müsste.
Der Comer See bietet drei landschaftlich verschiedene Ab-
schnitte. Sein nördlicher Arm, der Lago di Colico, eröffnet
Einblicke in Alpenthäler, die mit Schneegebirgen schhessen, und
er gleicht, wenn man die Augen vor den veränderten Uferstaffagen
schliesst, vollständig einem Schweizersee. Die klassische Stelle
des Comer See's befindet sich dagegen in der Mitte, da wo sich
der Arm von Lecco mit dem Arm von Como vereinigt, getrennt
durch die Felsenzunge von Bellagio mit den Gärten der gegen-
wärtig verkäuflichen Villa Serbelloni. Längst schon hat der Tou-
risteninstinct Bellagio selbst, und noch besser die am Westufer
liegenden drei Ortschaften Tremezzo, Cadenabbia und Majolica^)
1) Sie führt ihren Namen bekanntlich nur desswegen , weil Plinius die
dortige dreimal täglich intermittirende Quelle , die übrigens ein ansehnlicher
Bach ist, beschrieben hat.
2) Blumenfreunden diene zur Nachricht, dass die schönsten Rosen am
Comer See dieselben sind, die auch bei uns gebaut werden, nämlich von Thee-
rosen: Louv. de Malmaison, Gloire de Dijon und Solfataire, von Bourbon-
rosen la Reine und von dunklen Rosen General Jacqueminot. Uebrigens sind
die Rosen am Genfer See noch vollkommener, weil sie besser behandelt werden.
3) Majolica [hiess ursprünglich eine Porzellanfabrik, die an jenem Orte
mercantil zu Grunde ging. Majolica nennt man auch schlechtweg das dort
Pcschel, Abhandlungen. II. 3I
482
Ferienreisen.
als die Glanzpunkte des Corner Sees herausgewittert. Dort hat
man keine Schweizer Natur vor sich, sondern einen italienischen
See, reich durch eine Anzahl prächtig geschwungener Linien
zackiger Felsen, unter denen bewachsene Abhänge sanfter vor-
überziehen und in prächtiges sammetnes Grün gekleidet erscheinen.
Es ist merkwürdig und geologisch nicht gleichgültig, dass die
schönsten Landschaftsbilder sich im Mittelpunkt der Seen ent-
wickeln. So entfaltet auch der Lago Maggiore bei den borromä-
ischen Inseln seine besten malerischen Aussichten, und ganz ähn-
lich sind auf der andern Seite der Alpen bei Ragaz die höchsten
Naturreize vereinigt, denn, dass das Rheinthal dort ehemals mit dem
Wallenstätter See vereinigt einen See bildete, der nur eine nördliche
Wiederholung des Corner Sees war, hat erst kürzlich wieder Desor
ausgesprochen, und wurde auch schon vorher mehrfach von an-
deren behauptet. Es ist daher, wenn man will, eine geologische
Nothwendigkeit, dass sich gerade im Vereinigungspunkt der beiden
Spalten des Comer Beckens die prächtigsten Landsitze an den
Ufern zusammendrängen, denn die bevorzugten Erdenwinkel wer-
den gewiss immer solchen Besitzern zufallen, welche die Mittel be-
sitzen, solche lachende Uferstellen in Paradiese umzuwandeln. Bei
Bellagio liegt die gepriesene Villa des Duca Melzi, und gegenüber
zwischen Cadenabbia und Tremezzo die berühmte Villa Carlotta,
dem Herzog von Meiningen gehörig. In ihren beiden Muster-
gärten kann man sich satt sehen an den Cedern des Libanon und
des Himalaya (C. Deodara), untermischt mit allen halbtropischen
Ziergewächsen, und mit Genugthuung erfährt man, dass deutsche
Künstler in beiden den Gartenbau leiten, denn sicherlich darf man
den Gartenbau eine Kunst nennen, da er Geschmack erfordert.
Touristen, die nur einen Tag am Comer See verweilen
dürfen, wird also unbedingt Cadenabbia oder Majolica als Rast-
platz zu empfehlen sein; wem es aber vergönnt ist, längeie Zeit
dort still zu liegen, den machen wir aufmerksam auf den eigent-
Hchen Lago di Como, wie die Anwohner denjenigen Arm des
Sees nennen, der sich von Bellagio nach Como selbst er-
streckt'). Dort wird der See so eng, dass man in stillen Näch-
liegende Hotel de Milan, eine beliebte Pension, die von Ludwig Häusser, einem
Kenner der Naturschönheiten , als der günstigste Ruhepunkt für Touristen
empfohlen wird.
l) Sie unterscheiden bekanntlich den Lago di Colico, den Lago di Lecco
Der Corner See. 483
ten deutlich Gesang und Musik von den gegenüber liegenden
Villen oder Ortschaften herüber hören kann. Die Abhänge der
Bergspalten sinken von mittleren zu sanften Höhen nach Como
herab, welches sie völlig einschliessen, und gegen Westen öffnet
sich eine sonnige Lücke, die nach der Schweizergränze und dem
See von Varese hinüberführt. Man befindet sich also dort an der
zahmsten Stelle des Sees, der an Grossartigkeit hinter seinen
nördlicheren Theilen zurückbleibt. Wenn man nicht die nähere
Umgebung schärfer betrachtet, und wenn nicht gegenüber an den
Abhängen einige civihsirte Ortschaften lägen, ganz unähnlich un-
seren sich im Grünen ausbreitenden Dörfern, städtisch gebaut,
Haus an Haus, Dach über Dach zusammengerückt, mit dem nir-
gends vermissten Campanile, so könnte man sich ebenso gut an
einen stillen See des baierischen Gebirges versetzt glauben. Und
dennoch giebt es für denjenigen, der aus Italien zurückkehrt, viel-
leicht keinen günstigeren Ruhepunkt als die dort gelegene Villa
d'Este, dem Baron Ciani in Mailand gehörig, der zwei hart am
See gelegene Häuser, theilweis in den Felsen hineingebaut, und
Schlössern ähnlich, wie wir sie auf Operndecorationen zu sehen
gewohnt sind, als Gasthof verpachtet hat '), Für denjenigen, der
sich von den Kunstermüdungen Italiens, vom Eselgeschrei und
dem Strassenlärm der grossen südlichen Städte, vom Gerassel der
Eisenbahnen und dem Stampfen der Dampf boote erholen, der zur
Förderung seiner Gesundheit ein tendentiöses Nichtsthun sich auf-
und den Lago di Como. Bellagio ist der Trennungspunkt, und jede Karte
erklärt und rechtfertigt diese Bezeichnungen.
i) In der neuesten Ausgabe (Hildburghausen 1857) des Schweizer Reise-
handbuches von Berlepsch heisst es: ,,In einem Theil des zur Villa d'Este ge-
hörenden Gartens ist das Hotel della Regina d'Inghilterra, das schönste, aber
auch das theuerste Gasthaus des ganzen Sees ; es sieht von ferne aus wie ein
Theaterschloss und ist ein absolut zauberischer Aufenthalt. Hier wächst Agave
americana fast verwildert." Wir müssen dazu bemerken, dass Berlepsch dem
Wirth, einem italienischen Schweizer, Unrecht zufügt, wenn er sein Haus als
das theuerste bezeichnet. Man bezahlt dort für ein zweimaliges Frühstück,
eine table d'hote ersten Ranges, abendlichen Thee und sehr hohe Zimmer
mit der besten Lage und vollkommener Ausstattung 8 Frcs. , und man würde
am Genfer See, wo man in der ganzen Schweiz am wohlfeilsten lebt, für eine
Pension im gleichen Styl mindestens 7 Frcs. bezahlen. Jedermann weiss aber,
dass, wenn man die Alpen übersteigt, die Wirthshauszechen stets um 25, wenn
nicht 30 Proc. gegen die Schweizer Tarife wachsen. Es ist übrigens in Ca-
denabbia und Bellagio nach eingezogenen Erkundigungen nicht wohlfeiler,
31*
4,84 Ferienreisen.
erlegen will, ist in Cadenabbia und Bellagio viel zu viel Kom-
men und Gehen von Booten und Barken, viel zu viel Glocken-
lauten, viel zu viel Damenputz und Unruhe; es fehlt die Einsam-
keit und die Gelegenheit dauernde Bekanntschaften zu schliessen,
denn gewiss gehört es zu den nicht unwichtigen Vorzügen und
Genüssen des Pensionslebens mit Menschen zu verkehren, die uns
mit neuen Lebensanschauungen und einer fremden gesellschaft-
lichen Atmosphäre bekannt machen. Die Wahl wird meistens nur
auf Engländer fallen können. Diess ist freilich für Deutsche nicht
sehr erwünscht. Doch muss anerkannt werden, dass sich seit
etwa 15 Jahren, nämlich seit der ersten grossen Industrie- Ausstel-
lung in London, die Lebensarten der reisenden Engländer verän-
dert und zwar verbessert haben. Schon äusserhch sieht man,
dass vieles anders geworden ist. Noch vor 15 Jahren ist es dem
Verfasser in Brigthon begegnet, dass die Strassen] ugend — auch
anderwärts keine harmlose Bevölkerungsciasse, in England selbst
aber truly frightful — seinem deutschen Begleiter, welcher die
Vegetation über Lippen und Kinn ungeschmälert sich hatte ent-
wickeln lassen, in Spott und Jubel nachzog. Jetzt trägt fast jeder
Engländer einen Bart, und als ob sich die Nation für den langen
Zwang entschädigen wollte, lassen sie der Natur alle Zügel
schiessen, und man sieht Juden- und Rauschebärte, in denen der
Wind sein Spielwerk lustig treiben kann. Der Bart war ehedem
verpönt, weil man in Albion, wo die schärfsten Rasirmesser und
die besten Streichriemen wachsen, ein glattes Kinn für reinlicher
hielt. Noch anstössiger als der Bart galt aber das Tabakrauchen ;
es war sogar eine sociale Todsünde, wie es eine religiöse Tod-
sünde bei den Wahabiten noch jetzt ist. Gegenwärtig rauchen
aber auch die Engländer wie die thätigen Vulkane, sie verschmä-
hen sogar nicht die italienischen sogenannten Cavourcigarren, bei de-
ren blossem Anblick schon ein nicotinischer Schauder uns kalt über-
läuft. Durch Bart und Tabakrauchen haben sich ihre Sitten nur verän-
dert^ verbessert aber haben sie sich darin, dass sie jetzt, sowie
sie merken, dass ein Fremder englisch spricht, ihn zuerst anreden
ohne vorausgehende Vorstellungsceremonie , die gewöhnlich erst
beim Abschied mit einem Austausch der Visitenkarten nachgeholt
wird '). Gehören die Bekanntschaften den gebildeten Classen an.
i) Die Engländer bedienen sich längst nicht mehr der glasirten Visitenkarten,
sie sind sogar in der guten Gesellschaft verpönt. Englische Zeitungen hatten
Der Corner See. 485
SO entspinnt sich leicht ein recht herzhcher und inniger Verkehr,
und man fragt sich erstaunt, warum die Nation uns so unerträg-
Hch ist, wenn der Einzelne so gewinnend und liebenswürdig sein
kann?
Vielleicht spricht mancher Leser im stillen: du sagst uns,
dass der Lago di Como nahezu einem deutschen Gebirgssee
gleiche, warum soll ich dann erst über den St. Gotthard oder den
Splügen steigen, wenn ich in der Heimath unter deutschen Ge-
sichtern, bei deutschen Gesprächen und deutschen Wirthshaus-
preisen das gleiche geniessen kann?
Wenn man den italienischen Himmel über den Tegern-See
oder den Traun-See ausspannen könnte, würde man Recht be-
halten. Um jedoch nicht missverstanden zu werden, müssen wir
gleich hinzusetzen, dass wir unter dem italienischen Himmel nicht
eine besondere Färbung der Luft verstehen. Es ist möglich, dass
im südhchen Italien, welches der Verfasser nicht kennt, das at-
mosphärische Blau ein anderes Blau ist, als wie an der Nordsee
oder auf den süddeutschen Hochebenen. In Oberitahen aber bis
lat. 44° ist weder im Frühjahr noch im Sommer, noch im Herbst
der Himmel anders angestrichen als bei uns'), so dass man sich
des Verdachtes nicht erwehren kann, der sogenannte italienische
Himmel sei nur in der Einbildung von Naturfanatikern vorhanden.
Wenn man aber unter italienischem Himmel die lebensweckende
Kraft versteht, welche südliche Früchte zeitigt, immergrüne Laub-
gewächse im Winter behütet, die Nächte geniessbar und (im an-
dern Sinne wie Philine meint), sie zur schöneren Hälfte des Le-
bens umwandelt, die uns in der guten Jahreszeit fast jeder Sorge
nämlich aufmerksam gemacht, dass die Glasur der Karten von Bleiweiss her-
rühre und dass der Ueberzug von Mädchen aufgestrichen werde, die, wie ärzt-
lich sich nachweisen Hess, der Vergiftung unterlagen. Etliche Todesfälle waren
bereits constatirt worden. Kaum war dieser Umstand bekannt, so gab es wie
auf Verabredung keine glasirten Visitenkarten mehr in England. Die Sache
verdient in Deutschland Nachahmung.
1) In der Villa Melzi begegnete dem Verfasser ein Engländer, der frisch
über den Splügen gekommen war und der ihn fragte: Teil me, Sir, is this an
Italian sky? Auch er hatte also an das Himmelsblau über dem Comer See die
Frage gerichtet: bist du ein italienischer Himmel oder bist du's nicht? Als er
beruhigt wurde, dass er sich geographisch ohne Zweifel unter dem Gold-
orangenhimmel befinde, bemerkte er enttäuscht : dass er mit dem aufrichtigsten
Willen keinen Unterschied mit andern Himmeln zu erkennen vermöge.
486
Ferienreisen.
um das Wetter enthebt; wenn man unter dem Ausdruck italieni-
scher Himmel die Milde und Lieblichkeit des Klimas und alle
Milde und Liebhchkeit der klimatischen Producte zusammenfasst,
dann fühlt man auch die Nothwendigkeit über die Alpen zu stei-
gen, dann hört man gern die melodische Sprache Italiens, und
zahlt mit Gold, was in der That unbezahlbar bei uns wäre. Man
findet am Comer See nirgends zum Ruhen einen schöneren Gar-
ten, als in der Villa d'Este, und nur jenseits der Alpen ist ein
solcher Garten überhaupt denkbar. Bei uns sind die Gärten ent-
weder sonnig heiss, oder schwül und dumpfig, wo sie Schatten
geben. Diess kommt daher, weil die Ast- und Laubbildung un-
serer Bäume am Boden beginnt, so dass nur unsere Buchenwälder
hin und wieder an begünstigten Stellen eine Ausnahme gewähren.
Im Garten der Villa d'Este bilden Bignonien, ächte Akazien und
vor allen abendländische Platanen von Patriarchengrösse, bei de-
nen die Astbildung gewöhnlich erst 30 Fuss oder höher über dem
Boden beginnt, einen schattigen Dom, durch dessen Pfeiler die
kühlende Seeluft ungehindert sich verbreitet.
Dort kann man manche goldene Morgen- und Mittagstunde
im sündlichen Nichtsthun verträumen oder verplaudern und den
Fahrzeugen nachschauen, die mit dem Erwachen der Breva, eines
Thalwindes, der um Mittag von Süd nach Nord streicht, gesellig
mit geschwelltem Barkensegel von Como nach Colico ziehen.
Der Comer See, obgleich er nur 650 Fuss absolute Höhe be-
sitzt und nur 1^/2° tiördlicher als die nächste Küste des Mittel-
meeres, sonst aber weit geschützter liegt als die lombardische
Ebene, zeigt doch schon merkliche klimatische Unterschiede gegen
die Ufer des genuesischen Golfes. Sehr viele Gewächse, die im
Freien dort überwintern, können am Comer See nur in Kübeln
gezogen werden und müssen im Winter ein Obdach suchen. In
der dritten Maiwoche wurden an der Riviera schon die köstlichen
Naspole oder Naspi di Giapone öfifentlicht verkauft, saftige Früchte
von Pflaumengrösse, deren Reifen am Comer See erst Mitte Juni
erwartet wurde, und wenn es nicht allzu gewagt wäre, aus diesem
einzelnen Falle eine Regel zu bilden, so würde der Pflanzenwuchs
am Comer See etwa vier Wochen hinter dem der nördlichen
Mittelmeergestade zurückstehen.
Berge werden selten auf der italienischen Seite der Alpen
bestiegen. Unsere Reisehandbücher und die Keller'schen Karten
Der Corner See. ^gy
rühmen den Monte Salvatore am Luganer See, der jedoch nach
den Angaben der ersteren keinen BUck auf den Montblanc ge-
währt. Unmittelbar hinter Cemobbio erhebt sich der Monte Bis-
bino (sprich: - ^ - ), den man vom Dampfschiff auf der
Fahrt nach Como leicht an der Capelle und den ehemaligen Klo-
stergebäuden erkennen wird, die seinen Gipfel krönen. Zufolge
einer italienischen Karte vom Comer See, der eine österreichische
Generalstabskarte zu Grunde lag, ist er 4144 Fuss^ hoch, und
Hegt daher 3500 Fuss über dem Comer See, oder 750 Fuss nie-
driger als der Rigi über dem Vierwaldstätter See. Eine gepfla-
sterte Strasse, nur an wenigen Stellen etwas rauh und steil, führt
rüstige Bergsteiger in weniger als 2 ^/g Stunden bis auf den Kamm
des Berges, wo noch eine kurze Strecke über Matten bis zum
Kloster zurückzulegen ist. Obgleich wir vor 8 Uhr die Höhe er-
reichten, war die westliche Aussicht doch schon von Nebeln um-
lagert und der Montblanc wurde bald gänzlich eingehüllt. Länger
blieb der Monte Rosa frei, und ganz klar erhielt sich im Nord-
westen die Kette der Berner Alpen, Wildstrubel, Schildhorn, Jung-
frau, Mönch, Eiger sowie die Klippe des Finsterarhorns. Gegen
Norden verdecken Vorberge die Aussicht auf Schneeketten, gegen
Nordosten aber erhebt sich über den Spaltenrändern des Comer
Sees die zackige Schneelinie der Bergamasker Alpen, die bisher
von Alpen Wanderern noch viel zu sehr vernachlässigt worden
sind. Nach Süden sinken die Höhen oder Bergränder des Comer
Sees sanft in die Ebene, und verleiten zu der Vermuthung, dass
auch der Lago di Como ehemals wie der Lago di Lecco einen
Abfluss besessen haben möchte, wenn dieser Anschauung nicht
die vorhandenen Messungen entschieden widersprächen. Man be-
hauptet, dass vom Gipfel des Bisbino sieben Seen sichtbar seien.
Uns war es nicht möglich, ausser dem Comer See mehr zu ent-
decken, als den Lago di Varese und einen Streifen des Maggiore.
Obgleich wir uns reichlich belohnt hielten für ein so kurzes Stei-
gen, mussten wir uns doch gestehen, dass die Alpen, von der Süd-
seite gesehen, trotz ihres jäheren und tieferen Abfalles viel zahmer,
also viel weniger überwältigend erscheinen wie von der deutschen
Seite. Ganz besonders gilt diess von den Berner Alpen, wie man
i) Jedenfalls ist die absolute Erhebung gemeint, ob aber unter der Maass-
einheit pieds zu verstehen sind, Hess sich nicht ermitteln.
488 Ferienreisen.
diess übrigens schon im Wallis, z. B. vom Col de Balme und
beim Uebergang über den Simplon wahrnehmen kann. Wahr-
scheinlich beruht dieser Eindruck darauf, dass die SchneeHnie auf
der sonnigen Seite der Alpen viel höher steigt als auf der schat-
tigen Seite, doch möchten wir jedem Wanderer, dem die Sache
noch neu wäre, dringend rathen, sich die Alpen auch von der
italienischen Seite und zwar vom Bisbino, nicht bloss vom Mai-
länder Dom anzuschauen, schon um des belehrenden Gegensatzes
willen.
Man klagt oft darüber, dass durch die Geschwindigkeiten un-
serer Verkehrsmittel die Reisebeochtungen flüchtiger werden. Wir
theilen diese Besorgniss nicht. Es steht ja jedem frei auszustei-
gen wo, und an einem Orte zu verweilen wie lange ihm beliebt.
Dagegen giebt es eine Menge anregungsloser Räume , die man
gewiss mit Zeitgewinn und ohne irgend einen Verlust an Erfah-
rungen durchfliegt. Die Geschwindigkeit der Ortsveränderung hat
dagegen den Nutzen, dass uns die Gegensätze von Landstrichen
weit fühlbarer werden, weil wir die allmählichen Uebergänge über-
springen. Verlässt man Genua mit der nördlichen Bahn , so ge-
langt man durch einen langen Tunnel von dem Mittelmeergestade
plötzlich in die Thäler der Küstengebirge, wo die Gewässer schon
wieder nach dem adriatischen Meer abfliessen, und man fühlt sich
wie durch Zauber aus einer fremden in eine bekannte Welt zu-
rückversetzt, aus Itahen nach der hausbackenen Heimath. Die
lombardische Ebene zwischen Alessandria und Mailand erscheint
uns fast nordeuropäisch, und wenn die Reisfelder nicht wären,
deren Modergeruch selbst in den vorübereilenden Eisenbahnzug
eindringt, so könnte man sich einbilden in Belgien zu reisen. Die
Maisonne in Mailand mit ihrer Fegefeuergluth straft uns freilich
sehr rasch für solche vorwitzige Vergleiche , und lässt uns erken-
nen, dass wir noch immer auf ultramontanen Erdstrichen ver-
weilen. Am Corner See fühlt man sich zwar immer noch in Ita-
lien, aber doch schon merklich der Heimath näher gerückt, viel
näher als unter dem lichterfüllten Schatten in den Olivenhainen
der genuesischen Riviera. Kommt man schliessHch durch eine
nächtliche Fahrt über den Splügen , das Bild des italienischen
Chiavenna noch lebendig und ergreifbar vor Augen , so merkt
man erst, dass man der sonnigen Seite Europa's gänzlich den
Rücken gedreht hat. Die wohlbekannten Abhänge des geräumigen
Eine Ferienreise über den Apennin. 480
Rheinthaies erscheinen uns zum erstenmal wieder fremd, und fast
erschrickt man vor dem Eindruck, dass die Pflanzenwelt, die dort
und am Bodensee doch schon viel entwickelter ist als auf den
süddeutschen Hochebenen, neben der Fülle, dem stattUchen Wuchs,
der Mannigfaltigkeit und vor allem der Anmuth der italienischen
Gewächse, so prosaisch und so unzierlich sich ausnimmt. Aber
dieser Eindruck wird rasch verwischt, ein Spazierweg in die rau-
schende Taminaschlucht mit ihrem jugendHchen Grün , oder eine
Fahrt nach dem stillen, so wenig besuchten und doch so unend-
lichen malerischen Wallenstädter See genügt vollkommen, die alte
Begeisterung für diese Wanderziele aus der Asche wieder zu heller
Gluth anzufachen, und man gesteht sich, halb beschämt über die
eigenen Zweifel, dass die Schweiz auch Schönheiten besitzt, die
vollständig aufwiegen, was die Sonne jenseits der Berge bescheint.
Was drüben uns durch Farbe, Glanz und Anmuth fesselte , das
ersetzt uns diesseits die Natur durch ihre Hoheit, und alle heitern
und lachenden Bilder der Mittelmeergestade werden vergessen,
wenn wir uns die Schauspiele zurückrufen, die der Vierwaldstätter
See zu bieten vermag oder der Thuner See, wenn die Schnee-
massen der BIümhs-Alp nebelfrei unter der Beleuchtung einer
kräftigen Morgensonne glänzen.
Eine Ferienreise über den Apennin.
I.
(Ausland 1869. Nr. 24. 12. Juni.)
Im Jahr 1869 über ItaUen in einer Wochenschrift etwas zu
veröffentlichen, ist ein bedenkliches Unternehmen, denn die ge-
feierte Halbinsel ist schon längst der Bädeker- und Förster-Litera-
tur unterthänig geworden. Auch hört man auf dem Marcusplatze
Venedigs, im Vatican, in florentinischen und römischen Kaffee-
häusern, sowie auf classischen Aussichtspunkten um Neapel mehr
deutsch und zwar deutsch in allen Mundarten reden als englisch,
von der Landessprache selbst ganz abgesehen. Wer also noch
schreibt, wird neues wenigen sagen, sondern höchstens über be-
kanntes seine Eindrücke zum Vergleiche mittheilen können. Selbst
490
Ferienreisen.
solche, die nie ihren Fuss über die Alpen setzten, kennen Italiens
beste Schätze bereits durch die darstellenden Künste, zu denen
sich in neuester Zeit die darstellenden Gewerbe gesellt haben.
Keines der gepriesenen Kunstwerke ist uns völlig neu, besonders
nicht diejenigen, die in Marmor oder Bronze ausgedrückt werden.
Es sind uns davon irgendwo oder irgendwann Lichtbilder zum
einfachen oder doppelten Sehen, künstlerische Wiederholungen oder
Stückarbeiten in Gyps schon vorgelegen. Die einzelnen Pracht-
bauten, die Plätze und die Strassen grüssen uns als alte Bekannte
dieser oder jener Aquarellensammlung, und die Landschaften sahen
wir schon als Oelgemälde, wenn nicht grau in grau auf Photo-
graphien. Ferner sorgen die reisenden Schriftsteller dafür, uns
mit den Städtebevölkerungen und dem öffentlichen Treiben in
nähere Berührung zu bringen. Wem es an deutschen Darstel-
lungen nicht genügen sollte, der kann sich hinterdrein an engli-
schen und französischen sättigen. In unseren Tagen ist es sogar
schwierig, sich in Bezug auf Italien einen Stand der Unschuld vor
Erkenntniss des Guten und des Bösen zu bewahren, um auf der
Brennerbahn von einer Ueberraschung zur andern fortgerissen zu
werden. Und dennoch ist selbst ein wohlvorbereiteter Wanderer,
so oft er neue ihm unbekannte Räume Italiens betritt, weder ge-
schützt vor Enttäuschungen, noch der Aussicht beraubt, durch un-
erwartete Genüsse beglückt zu werden. Von solchen Enttäuschun-
gen und solchen Ueberraschungen soll daher vorzugsweise in den
folgenden Bruchstücken gesprochen werden.
Zunächst sind es Wärme und Wetter, worüber noch immer
falsche Begriffe herrschen, denn gewöhnlich gelten der März und
der April in der ersten Hälfte des Jahres als die Monate, in de-
nen man reisen solle. Selbst für Süditalien ist dem Mai unbe-
dingt ein Vorzug einzuräumen, ja der Verfasser würde, wenn er
zwischen April und Juni wählen müsste, bis zur Polhöhe von Ne-
apel den Juni unbedingt dem April vorziehen. Daheim stellt man
sich vor, dass von den drei Hauptstädten, Florenz, Rom und
Neapel , sicherlich das letztere es sein müsse , wo man von der
Tageshitze am meisten belästigt werde, und doch ist wenigstens
in der zweiten Hälfte des Mai unter jenen drei Plätzen Florenz
unbedingt am meisten zu fürchten. Reisende, die den letzten
Winter in Palermo verlebt hatten, versicherten dem Verfasser, dass
sie am Beginn des heurigen April in grosser Versuchung geschwebt
Eine Ferienreise über den Apennin. 4^1
hätten, ihre Zimmer zu heizen. Gewiss ist, dass am 6. Mai
Abends die Mehrzahl der neapolitanischen Damen bei ihrer Cor-
sofahrt noch Pelzwerk trug, allerdings wohl zum Theil nur des
Pelzwerks wegen, und weil die Mode es erlaubte, nur bei bedeck-
tem Himmel an schwülen Sciroccotagen wird man im Mai in
Neapel von der Wärme belästigt werden. Mit Befremden bemerkt
der Neuling, dass an den Morgenstunden oft die Sonne des hei-
ligen Januarius ihre glühendsten Pfeile abdrückt. Es ist jetzt neun
Uhr, sagt er sich im stillen, wie soll es erst um 2 oder 3 Uhr
Nachmittags werden? Kurz nachher aber hat sich schon eine Brise
von der See her erhoben, und um 2 oder 3 Uhr fühlt er sich
ganz behaglich in der Stadt selbst oder im Freien, Dazu
kommt, dass in dem fraglichen Monate die Nächte stets erquickend
frisch, um nicht zu sagen kalt bleiben. In und um Rom nament-
lich kühlt sich die Luft schon vor Sonnenuntergang sehr rasch ab,
und die Rathschläge Ernst Förster's in Bezug auf Schutz gegen
Erkältung sind für alle, die in einer empfindlichen Haut stecken,
gewiss nicht zu verschmähen. Einstimmig erklärten die Reise-
genossen des Verfassers, zwei Damen und ein Herr, beim Ab-
schied, dass der italienische Mai nichts redenswerthes an Hitze sie
habe erdulden lassen. Noch war es zum Glück Frühjahr in Wäl-
dern und in Gärten, ja auf den Abhängen des Apennin zwischen
Bologna und Florenz waren die laubwerfenden Bäume sogar noch
kahl, und begannen erst ihre Knospen zu entfalten. Selbst bei
Sorrent sah man um die Mitte des Monats wenigstens eine leider
nicht näher zu bestimmende Baumart noch nicht im Blätter-
schmuck. Wem für landschaftlichen Genuss blättergefüllte Wipfel
und Schatten in den Hainen unentbehrlich sind, wird jedenfalls
im April noch viel vermissen. Das erste südeuropäische Vegeta-
tionswunder, welches der nordische Barbar schon in Wälschtirol
zu kosten bekommt, ist die sogenannte „Vermählung" des Wein-
stocks mit irgend einem Laubwerfer, mit der Weide, der Pappel,
der Ulme, dem Nussbaum. In den Po-Ebenen kann er daran sein
Genüge finden, denn dort vollstrecken sich die ,, Vermählungen"
in Reih und Glied, im Carre geordnet, auf viele Bahnmeilen. So
lange er nur das ItaUen zwischen Alpen und Apennin kennt, miss-
fällt ihm schliesslich dieses schöne Wort für eine sehr unmalerische
gewerbliche Absicht. Wird bei dieser „Vermählung" die Rebe als
weiblich gedacht, so ist der Ehemann ofienbar nichts anders als
^q2 Ferienreisen.
der Pfahl zur Unterstützung, denn der Landwirth umgeht damit
die Kosten eines Rebsteckens. Da ferner alte Bäume zu viel
Schatten verursachen würden, so sieht man nur schmächtige Jüng-
linge, und wie die englischen Jockeys immer unter schweren
Decken schlafen müssen, um sich durch Schwitzen ihre orthogra-
phische Magerkeit zu erhalten, so werden die Kronen der stützen-
den Bäume beständig durch die Säge wieder abgeworfen. Man
denke sich nun diese verstümmelten Schäfte im Frühjahr, umklet-
tert von den Strängen des blätterlosen Rebstocks, und man wird
wohl einsehen, dass im zeitigen April unmöglich günstige Ein-
drücke von einer solchen Staffage zu holen sind. ,,Die Vermäh-
lung" ist trotzdem ein hübscher Gegenstand zum Zeichnen in das
Album eines Dilettanten. Weiter im Süden Italiens lässt man
nämlich die Laubbäume zu höherem Alter gelangen, die Sägen-
schnitte verbirgt rasch das junge Laub, die Rebe wird nicht mehr
so regelmässig gespannt, sie läuft gewöhnlich schräg nach der
nächsten Stütze empor, und man lässt ihr wohl gar die Luft sich
im Wipfel auszubreiten und von den Aesten ihre Ausläufer nieder-
schweben zu lassen. In jenen südHchen Gefilden ist daher auch
der dichterische Ausdruck für das beständig wiederkehrende Bild
der Rebzucht ein angemessener.
Wer nicht mit bessern Kenntnissen vorher gerüstet war, wird
auch in Beziehung auf Pflanzenverbreitung beim ersten Ueber-
schreiten der Alpen einer bittern Enttäuschung entgegengehen.
Aus den Studentenjahren des Verfassers, als die jungen Götter
Heidelbergs es noch nicht verschmähten ihre fahrende Habe im
Ranzen sich tragen zu lassen, und am Ende der Reise, wo die
Gasse ein Ende mit Schrecken nahm, selbst zu tragen, erinnert er
sich noch lebhaft, dass ihn beim ersten Betreten Italiens jenseits
des Simplon das Gefühl einer Mystification beschlich. Wo war
vor allem der verheissene Himmel von unsäglichem Blau? Wo
waren die Orangenwälder, die Lorbeerhaine und die stillen Myr-
ten? Nun fehlt es allerdings nicht weder in der italienischen
Schweiz noch in Wälschtirol an Lorbeeren, an Kamellien und der-
gleichen. Selbst Citronen und sogar Orangen sind sichtbar, aber
doch nur in Brutkästen und gleichsam als Menageriegewächse. Zur
guten Zeit stehen sie im Freien, im Winter aber hinter Glas und
Mauern. So etwas bringt aber der blonde Barbar auch daheim zu
Eine Ferienreise über den Apennin. 40»
Wege, und wenn er nach Italien reist, verlangt er unter freiem
Himmel Orangen bis zur Uebersättigung zu sehen.
Der Unterrichtete verlangt es freilich nicht, er weiss im Voraus,
dass die Citrusarten in Rom noch unter Bedeckung überwintert
werden müssen, dass er sie wohl findet an dem bevorzugten Ge-
stade des genuesischen Golfes von Nizza angefangen bis Genua,
dass er aber in dem peninsularen Italien seine Polhöhe beträcht-
lich vermindern muss, ehe sich für ihn die Anfangsstrophen von
Mignons Sehnsuchtslied, die er auf den Lippen trägt, erfüllen
sollen. Bewegt man sich auf der Eisenbahn von Padua über
Florenz und Rom südwärts, so gewahrt man erst im Golfe von
Neapel die ersten Citrusbäume. Noch aber sind es nur Citronen,
die sichtbar werden, nicht einmal bei Pozzuoh oder am Golfe von
Bajä werden Orangen gebaut oder sie verstecken sich wenigstens
hinter schützende Mauern. Eine kurze Eisenbahnfahrt versetzt uns
jedoch rasch von Neapel nach dem geschäftigen Hafenort Castel-
lamare und mit dem Vetturin weiter eilend nach Sorrent, leuchten
endlich nach einer halben Stunde bei dem malerisch gelegenen
Vico Equense die Hesperidenäpfel aus dem dunklen Laube.
Wälder wie auf Sicilien sind indessen es noch immer nicht, son-
dern vorläufig nur Gärten von geringer Tiefe, hinter deren Mauer-
fronten die Orangenbäume, beladen mit abendgluthfarbigen Aepfeln,
die lüsternen Blicke fesseln. Vico Equense hegt am Nordrande
der gebirgigen Halbinsel, die, nach Capri sich verlängernd, den
Golf von Neapel gegen Süden abschhesst, auf dem andern Ab-
hänge aber öftnet sich die sonnige Bucht von Salerno. Auch dort
giebt es eine Riviera, an malerischen Reizen ebenso reich be-
schenkt, wie die berühmte Küstenstrasse westlich von Genua.
Wer nach Neapel reist, um in den Schönheiten der Natur zu
schwelgen, sollte nicht versäumen, wenigstens einen Tag für den
Golf von Salerno aufzusparen. Die Bahnzüge setzen ihn nach
zwei Stunden bei dem kleinen Hafenort Vietri ab, malerisch an
einem steilen Abhang hinaufgebaut, mit einer Rhede, vor der et-
liche Zweimaster ankern. Dort dingt er einen Vetturin, der ihn
sogleich über eine hoch gesprengte Brücke an die andere Thalseite
auf einer Musterstrasse westwärts dem Gestade des Golfes von
Salerno enüang führt. Wohl vermissen wir etliche Zierden, die
dem Busen von Neapel zu seinem gerechten Preise verholfen ha-
ben. Das Meer beherrscht nicht nur die grössere Hälfte des Ge-
494
Ferienreisen.
sichtskreises, sondern es fehlen vor allem die beiden Kleinode des
hinter uns liegenden Golfes, seine Inseln, das sanft ansteigende
Ischia mit seinem geschärften Gipfel und das sehnsuchtweckende
Capri in träumerisches Blau gekleidet. Wir entbehren auch den
Vesuv, der zwischen den Festlandshörnern des Golfes sich im
Hintergrund die rechte Mitte ausgesucht hat, dort als Herrscher
aus der Campagna Feiice aufsteigt, und am Ufer als schimmern-
den Saum die Häuserfronten der Orte Portici, Resina, Torre del
Greco und Torre del Annunziata trägt, die uns immer und immer
wieder in die willkommene Täuschung versetzen, als verlängere
sich Neapel selbst sichelförmig vom Posilip bis nach den Trüm-
mern Pompei's. Frische vulkanische Erhebungen, wenn sie kegel-
förmig mit abgestumpfter Spitze aufgeschüttet werden, sind viel
zu regelmässig, um durch ihre Umrisse das Auge zu befriedigen.
Erweitert sich aber nach längerer Ruhe durch Einstürzen der
Krater, beginnt die Verwitterung seinen Rand auszuzacken, werfen
spätere Erdstösse einen Theil des Ringwalles nieder, dass durch
die Bresche hindurch das Innere des vulkanischen Gerüstes, die
Trümmer des ehemals feurigen Rundtheaters sichtbar werden, und
erhebt sich auf der erschütterten vulkanischen Ruine im zweiten
Acte ein neuer Feuerberg, vom alten halb zerstörten Kraterrand
wie von einem Mantel umgeben, dann entstehen Linien und Um-
risse von eigenthümlicher Anmuth. Und was wir soeben erzähl-
ten, ist ja nichts anders als die Lebensgeschichte der Vesuvgruppe,
nur dass der ehemalige Vulkan der Vorzeit oder vielmehr die
Reste seines Trichters Jetzt die Somma genannt werden.
Dem Golfe von Salerno fehlen also die Inseln Ischia und
Capri sowie der Vesuv. Er bietet uns dafür am P'estlandgestade
übereinander eine Reihe von Bergzügen, abgestumpft von mildem
kräftigen Blau bis zur Luftfarbe, die vordersten Stufen sind nicht
hoch, allein die malerische Wirkung ist von absoluter Höhe un-
abhängig, wenn nur die Linien klar sich abheben und anmuthig
bewegt erscheinen, wie diess gerade vor uns der Fall ist, wo sie
sich bald heben, bald senken, bald zuspitzen, bald besänftigen.
Wir zählen vier, fünf, ja sechs solche Kämme hintereinander, und
ganz in äusserster Ferne wird auf duftig blauen Gipfeln noch eine
Schneebedeckung sichtbar. Wo es auf Erden wirklich schön ist,
da erwacht in uns die Sehnsucht des Weiterstrebens. Dort über
jene blauen Kämme hinüber würde uns die Strasse nach Sicilien
Eine Ferienreise über den Apennin. 4^5
führen, wenn nicht Geschäftspflichten uns am Zipfel hielten. Dort
gegen Südwesten unter der Kugelkrümmung der Meeresfläche lie-
gen die liparischen Inseln, liegt unter ihnen wieder der Stromboli,
der rührigste Vulkan der alten Welt, der beständig seine Schlacken-
garben ausstösst und des Nachts den Schiff"ern als Leuchtthurm
dient! Das ist der Zauber des Mittelmeeres, dass es uns unwill-
kürlich entführt hinaus über die silbernen Ränder seines blitzen-
den Schildes. An der Riviera di Ponente, wo man hart am Meer
die Palmen in Wäldchen stehen sieht, und zugleich schroffe Thäler
abschliessen mit den schneebedeckten Hörnern der Seealpen, sucht
das unersättliche Auge südwärts nach den Schattenumrissen Cor-
sica's, hier am Salemer Gestade späht es nach Sicilien, auf Sici-
lien würde es Malta suchen oder Pantellaria, und auf Pantellaria
nach dem Strande von Carthago.
Mittlerweile ist während unserer Fahrt hinter dem kleinen
Vietri das statthche Salerno hellfarbig hervorgetreten, aus der Ferne
wie alle südlichen Städte lockend anzusehen. Die Strasse wird
nun einsam. Sie biegt, vielfach in den Felsen eingesprengt, be-
ständig in Hufeisenform um die Einbuchtungen des hochaufstre-
benden Uferrandes und gewinnt allmählich etwa 500 Fuss an un-
bedingter Erhebung. Unten zu unsern Füssen bäumt sich das
Meer gegen die Klippen oder überfluthet die Köpfe abgestürzter
Felsmassen, um in schäumenden Bächen wieder abzufliessen. Wo
man es auch sieht, immer ist Meer oder Ocean lebendig und fes-
selnd. Das Mittelmeer aber, die Thalassa ist fesselnd und schön.
Wir gedenken nicht einmal, dass es die jugendliche Menschheit zur
Sitte und zum Anstand erzogen, dass dort unsere Muster und
Meister zu „politischen Bestien" erwuchsen, um Aristotelisch zu
sprechen. Wir kümmern uns nicht um die Zeiten vor und nach
den punischen Kriegen , vor und nach den Kaisern , wir
denken nicht einmal an den lauernden Tiber, obgleich wir
doch bei der nächsten Biegung ein Stück der Ostküste
von Capri gewahr werden, wohin sich der glatte Sünder
vor der Lästerchronik der Römer zu verbergen pflegte. Malerisch
tritt die Insel ins Meer, etliche KUppen wie Pfähle in das Wasser
vorschiebend. Wir denken nicht daran, dass wir Amalfi zustreben,
Amalfi, welches vor Zeiten die ersten Pilger nach den heiligen
Landen beförderte, nicht aus Barmherzigkeit, sondern um ein
schönes Stück Geld zu verdienen ; Amalfi , das im Wappen den
4g6 Ferienreisen.
Compassstern führt, weil 1302 dort ein geschichtlich nicht auffind-
barer Ehrenmann die Nordweisung der Magnetnadel entdeckt ha-
ben soll, die hundert und etliche Jahre zuvor ein Milchbruder des
löwenherzigen Richard bereits genau beschrieben hat. Und bevor
wir noch Amalfi erreichen, wird der Vetturin mit der Geissei auf
eine Höhe über Atrani deuten, wo der Geburtsort von Tommasso
Aniello steht. Was gilt uns aber in diesem sonnigen Augenblicke
Masaniello oder Flavio Gioja? Was Grossgriechen oder Altitaler,
was die mittelalterlichen Italiener? Die physische Gegenwart wollen
wir geniessen, das was uns dieser Tag gebracht hat, der nicht
mehr zurückkehrt. Und eben hält der Wagen vor einem frisch
getünchten Zollhause, zur Vertheidigung wohl gerüstet und mit
einer Zugbrücke versehen, die emporgezogen worden ist, denn die
Herrschaft scheint nicht zu Hause. In jenem festungsartigen Schilder-
hause, so erzählt der Vetturin, hausten jüngst zwei verdienstvolle
Carabinieri (im Zweifelsfalle wahrscheinlich Piemontesen), die nach
und nach 23 Briganten einfingen, welche zwischen Sorrent und
Amalfi ihr Unwesen getrieben hatten. Drei von ihnen litten die
Todesstrafe, und die abschreckende Wirkung erwies sich so kräftig,
dass seit Jahresfrist kein Verbrechen mehr verübt worden war.
Das Zollhaus liegt am Gap Tumolo, etlichen prachtvoll zerspalte-
nen Klippen, zwischen denen herumkletternd wir vergeblich den
äussersten Vorsprung zu erreichen suchen. Auf den niederen
Felsenzungen hart am Meere folgen jezt in kurzen Zwischenräu-
men die Ruinen von alten Thürmen, sogenannte Saracenenburgen,
sei es nun, dass sie von Saracenen oder, was äusserlich wahr-
scheinlicher, zum Schutz gegen saracenische Seeräuber erbaut wurden.
Von Cap Tumolo senkt sich die Strasse abwärts, stets den
Einschnitten in die felsige Küste folgend , immer zur Linken das
bewegte Meer. Die Zerklüftung der Felswände ist so malerisch,
wie an den classischen Punkten der ligurischen Riviera. Die Far-
ben des Gesteins theils braunroth, theil von zartem Grau ; nur wo
die Brandung wäscht, umsäumt es ein sepienfarbiger Streifen.
Wenn wir aber um die nächste Felsennase gebogen sein werden,
erwartet uns ein heiteres Gemälde. Dort folgt nicht ein Einschnitt,
sondern es eröffnet sich ein geräumiges Thal, dessen Sohle als
flacher Strand vorrückt, damit das Mittelmeer dort seinen weissen
Schaum als Gürtel absetzt. Auf den trockenen Kieseln des Strandes
liegen die Fischerboote und grösseren Barken, während weit draussen im
Eine Ferienreise über den Apennin.
497
Meer in langen Gassen die Netze für die Thunfische sich erstrecken.
Drüber hinaus in grösserer Wasserferne zählen wir mehr als 20
Barken mit aufgespannten Segeln, geflügelten Insecten nicht un-
ähnlich , die uns am Abend auf hohem Meer nach Vietri noch
zurückbegleiten sollen. Das Marinebild ruft uns lebendig ins Ge-
dächtniss die kleinen Ortschaften der genuesischen Riviera zurück,
nur vermisst man ungern die schönen ligurischen Trachten der Män-
ner, ihre makellos weissen Hemden und die brennendrothen Wol-
lenmützen. Als Entschädigung begegnet uns auf der Strasse nach
Amalfi, und in Amalfi selbst die Tracht oder vielmehr ein Man-
gel an Tracht bei den Frauen. Das Haupt mit langen Bündeln
Holz belastet, schürzen sie, wahrscheinlich um besser das Gestrüpp
zertheilen zu können, den Rock auf, dass das nackte Bein bis
zum oder über das Knie sichtbar wird. Die drei kleinen Fischer-
örter Majuri, Minuri und Atrani sind voller Leben und Geschäftig-
keit. Bevor man sie erreicht hat, bemerkt man längs der Strasse
von Culturgewächsen nur den Oelbaum mit graugrüner und den
Johannisbrodbaum mit schwarzgrüner Belaubung, während an
Felsen und über Gartenmauern regungslos amerikanische Agaven
(Aloes) ihre fleischigen Blattschwerter krümmen, oder Feigencactus
(Opuntien) ihre tellerförmigen Gliederstücke hölzern an einander-
reihen. Jetzt aber erheben sich an Abhängen des Gestades ge-
mauerte Stufen über gemauerte Stufen , und jede von ihnen be-
schattet ein Schirm von Citruslaub, in dessen Dunkel die Citronen
so dicht herabhängen, dass selbst auf weitem. Abstand ihre gelbe
Farbe wirksam bleibt. Aber weit länger fesseln uns die Orangen-
terrassen wegen des warmen Grünes ihres dunkeln Laubes, eine
Lust für das Auge, der unwillküriich ein Ausbruch des Ent-
zückens folgt. Vergnügt gestehen sich die Theilnehmer des Aus-
fluges, dass selbst nach allen Zaubern des Golfes von Neapel die
Fahrt nach Amalfi zu den glanzvollsten Tagen der W^anderung
zählen müsse. Vor Amalfi angekommen, der weiland glänzenden
Meeresbeherrscherin, jetzt zusammengeschrumpft zu einer Klein-
stadt, lässt uns unser gedruckter Reisevormund (Bädekers Süd-
itahen in englischer Ausgabe)^) die Wahl zwischen zwei Wirths-
häusern, dem Albergo dei Capuccini und della Luna. Obgleich
das letztere höherer Preise verdächtigt wird, wählen wir es den-
i) Die deutsche war nämlich vergriffen.
Peschel, Abhandlungen. II. 3^
498
Ferienreisen.
noch, weil der König Friedrich Wilhelm IV. dort eine Nacht verweilte,
denn mit Recht galt der vorige Monarch Preussens als ein feiner
Kenner der Naturschönheiten, und wirklich erwies sich auch der
hochgelegene Bau gegenüber den Ruinen eines alten Castells als
günstiger Punkt zum Niederblick auf den Marinestrand, und die
kleine Stadt, die sich hineinzwängt in eine enge Schlucht, in das
Valle de' Molini, das seinen Namen einem oder zwei Dutzend
Papiermühlen verdankt, mit denen es beginnt, um schliesslich in
einer Papiermühle für alle diejenigen zu endigen , die nicht die
Thalwand emporklettern wollen. Der Hof des Wirthshauses zum
Monde ist obendrein ein hübsches Denkmal der Baukunst, denn
es läuft um ihn herum ein Säulengang, ganz ähnlich dem im
Klosterhof neben der römischen Basilica S. Paolo fuori le mura,
nur dass bei diesem letztern Rundbogen, hier aber Hufeisenbogen
auf doppelten Säulchen ruhen und uns ein klein wenig an die
Alhambra gemahnen, so weit wir sie aus Aquarellen oder Stereo-
skopien kennen. Wir lesen oft, dass Amalfi's Handelsgrösse ge-
sunken sei, weil sein Hafen versandete. Von einem Hafen ist
aber nichts zu sehen, sondern nur von einer offenen Rhede, auch
kann vormals aus geologischen Gründen irgend ein geschütztes
Becken nicht vorhanden gewesen sein, denn die Front der heu-
tigen ,, Marine" bilden alterthümliche Gebäude. Amalfi's Glanz
erlosch während der Kreuzzüge, wahrscheinlich, weil man damals
Schiffe von grösserem Tonnenregister und mächtigerem Tiefgang
zu bauen begann, die aber nur in geschützten Häfen vor Anker
gehen konnten, wie wir in unsern Tagen genug ähnliche Vorgänge
erleben, da selbst Amsterdam nicht den Schiffen höchsten Tief-
gangs mehr erreichbar ist. In der frühern günstigen Beschaffen-
heit der Häfen liegt wohl die physische Ursache der einstmaligen
Grösse Pisa's, Genua's und Venedig's.
Aber was gehören diese alten Geschichten zu dem , was wir
aussprechen wollten? Es lag uns nur daran, die Gränze zu be-
stimmen, wo unter freiem Himmel die ersten Orangen sichtbar
werden, und mit Beschämung bemerken wir, dass touristische Ge-
schwätzigkeit uns verführt hat, die Eindrücke einer Spazierfahrt
zu erzählen. Aber freilich italienische Eindrücke — nicht alle,
aber manche — sind so scharf und mächtig, dass die Nennung
eines Namens wie Salerno oder Amalfi genügt, uns plötzlich wie-
Eine Ferienreise über den Apennin. 4QQ
der frisch an die Gestade des heitern Mittelmeeres zurückzuver-
setzen 1
Erinnern M-ir uns recht, so sprachen wir von der Täuschung
eines NeuHngs, der jenseits der Alpen nicht alsbald eine faust-
grobe Veränderung der Landschaft wahrnimmt. Schroffe Wechsel
gehören aber zu den höchsten Seltenheiten, denn wo die Natur
sie vermeiden kann, scheut sie alle Sprünge und dennoch beginnt
schon bei Botzen für denjenigen, der schärfer sucht, eine neue
Welt. So oft man das offene Thal erreicht, wo der Eisack mit der
Etsch sich vereinigt, kann man sich an der Wahrheit eines Goe-
the'schen Wortes aufs neue ergötzen. ,,Eine milde sanfte Luft
füllte die Gegend," bemerkt er bei seiner Annäherung in Botzen.
Der geheime Sinn dieser Worte liegt offenbar darin, dass er das
Thal mit Luft sich angefüllt denkt. Vielleicht halten wir zu-
gleich damit den Schlüssel zum Verständniss dessen, was man
italienischen Himmel nennt. Der Verfasser hat viermal Itahen,
theils im Herbst, theils im Mai und Juni besucht, aber mit dem
besten Willen konnte er niemals eine andere tiefere Färbung der
Luft entdecken. In Neapel freiHch behauptete ein Eingewanderter
mit grosser Gelassenheit, dass erst im JuU und August das Blau
des Himmels auch für Ungläubige sich mächtig dunkle. Etwas
nicht gesehenes soll als etwas unglaubwürdiges hier nicht darge-
stellt werden. Entdecken wir doch auf jedenfalls guten Bildern,
dass die Beleuchtung der Abendluft über Venedig im December
ganz ungewöhnliche Töne hervorruft, und das farbenkundige Auge
des Malers unterscheidet wohl genauer als der ungeübte Bhck des
Laien die verschiedenen Brechungen des Lichtes. Doch bleibt es
immerhin möglich, dass das, was man unter „itaUenischem Him-
mel" versteht, nichts anderes sei als die Farbentonarten der be-
leuchteten Landschaft. Die höhere Erwärmung bringt es mit sich,
dass jenseits der Alpen nicht nur mehr Wasser verdunstet, son-
dern auch mehr verdunstetes Wasser schwebend in der Luft sich
zu erhalten vermag, ohne zu Nebel oder zu Wolken sich zu ver-
dichten, und dass eine solche mit durchsichtigem Dampf gesättigte
Luft die Thäler „anzufüllen" scheint, wie Goethe ahnungsvoll es
aussprach zu einer Zeit, wo das Verhalten unseres Dunstkreises
zum Wasser noch unergründet war. Jenem Umstände der höhe-
ren Sättigung der Luft mit Wasser verdanken Maler und Natur-
freunde das sonnige Blau der Fernen, sowie ihre vielen Abstu-
32*
cqo rerienreisen.
fungen ohne Verlust an Schärfe der Umrisse. Der höhere Glanz
der Farben dagegen rührt sicherlich von der verminderten Pol-
höhe, also den steileren Einfallswinkeln der Sonnenstrahlen, oder
mit andern Worten, von der gesteigerten Lichtfülle her, und diese
Lichtfülle ist es wiederum, welche in den Blättern der Gewächse
eine grössere Menge von Chlorophyll oder Blattgrün abscheidet.
Ein so warmes Grün wie das eines Orangenhaines , oder ein so
schwärzliches wie das der Johannisbrodbäume , oder ein so bräun-
liches wie das der immergrünen E-ichen setzt daher immer
wieder südliche Wärme und südliche Beleuchtung voraus. Da nun
aber bekanntlich die physiologische Empfindung der Farbe nichts
absolutes ist, sondern die Farbe von der Farbe beherrscht wird,
ein weisser Punkt z. B. im grünlichen Feld immer röthlich, im
röthlichen Feld immer grünlich erscheinen wird, so kann es auch
geschehen, dass die höher erwärmten Farben des Vordergrundes
zurückwirken auf die Empfindungen der Lufttöne, und dass man
dem Himmel selbst zugeschrieben hat, w^as nur durch einen ver-
schärften Gegensatz der irdischen Gegenstände erzeugt wurde.
Die höhere Erwärmung und die grössere Lichtfülle verursachen
ferner die Milderung und Besänftigung alles Fernen, und so ent-
stehen jene zarten Farbentöne, welche uns an südliche Landschaf-
ten zum Nimmersattwerden fesseln. In diesem Sinne aber beginnt
Italien wirkHch dort, wo die Etsch zur Adige wird. Freilich än-
dern sich noch wenig die Culturgewächse, denn Mais wird ja auch
in Deutschland gebaut, edle Castanien wachsen am Rhein, und der
Maulbeerbaum erfordert selbst auf der süddeutschen Hochebene
keine besondere Pflege. Was daher in Bezug auf Verbreitung der
Pflanzen uns zwingt, Oberitalien zu Südeuropa zu zählen, ist das
Auftreten der ersten immergrünen Laubhölzer, der Lorbeeren,
Camelien und Magnolien, welche letztere selbst den harten Winter
Mailands noch überstehen. Den Blicken des Neulings entzieht
sich freilich, was zur Zierde nur an geschützten Orten gebaut wird.
Mit der Gränze der immergrünen Belaubung halten jedoch glei-
chen Schritt zwei weithin kenntliche Coniferen , nämlich die Cy-
presse und die Pinie. Die Cypressen Norditaliens sind hässliche,
steife dünne Gestalten , so regelmässig zugespitzt als kämen sie
von der Drehbank oder ständen sie unter der Scheere eines fran-
zösischen Gärtners aus der Rococozeit , aber jenseits des Apen
nin wie jenseits der Seealpen in Ligurien gewinnt inan sie lieb,
zumal wenn sie aus dem mattgrünen Baumschlag der Olivenwipfel
Eine Ferienreise über den Apennin.
501
schwärzlich emporsteigen und wenn sie ihre Aeste ebener von
sich strecken, so dass die Obeliskengestalt' mehr und mehr ver-
drängt wird und in eine Nadelholzpyramide übergeht. Vielleicht
werden südlicher andere Unterarten gezogen, deren die Botaniker
für Cupressus sempervirens nicht mehr als vier geschaffen haben.
Pinien sieht man seltener als Ziergewächse in Oberitalien. Der
nördlichste Punkt östlich vom Apennin, wo dieser edle Baum
als Wald auftritt, liegt in dem Delta der Etsch, und kann als
Ziel eines Tagesausfluges von Venedig benutzt werden, denn mit
einer Barke erreicht man bei günstigem Winde durch die Lagunen
in wenigen Stunden Chioggia, und von dort mit einem Vetturin
den nahen Pinienwald. Die Pinie ist in der Jugend keine sonder-
lich anziehende Pflanzengestalt, aber sie wird es in höherem Alter.
Kein Maler und kein Photograph, der vom Posihp aus Neapel
aufnehmen will, lässt es sich entgehen, zur Belebung des Vorder-
grundes links oder rechts eine der dortigen Pinien zu wählen. Je
südlicher sie angetroffen wird, desto schirmartiger breitet sie sich
aus, aber nirgends erscheint sie günstiger als bei einer Heimkehr
von den Albanerbergen nach Rom , wenn neben altem Gemäuer
durch das Astwerk einer einsamen Pinie der Abendhimmel glüht,
und warme Lichter durch die Lücken ihres ernsten Nadeldaches
fallen, oder wenn, wie in dem Parke der Villa Doria Pamfili bei
Rom über dunkeln Laubmassen, auf dem Lufthintergrund erst die
Schäfte eines Pinienwaldes aufsteigen, oben sich die Aeste theilen,
und an den Aesten die Zweige fast wagrecht sich ausbreiten, dar-
über aber der dunkle Schirm der Nadelpolster sich ausspannt.
Wenn w'ir fast ausschliesslich von den Gewächsen Italiens
sprechen, so geschieht es, weil ja nächst den Luft- und Licht-
wirkungen von ihnen allein die landschaftlichen Veränderungen
abhängen, denn jedermann hat als Wahrheit anerkannt, was A. v.
Humboldt zuerst aussprach, dass nämlich alle Felsarten überall
unter allen Breiten oder Längen sich finden oder wenigstens fin-
den können, und die nämlichen Felsarten allenthalben auch die-
selben Berggestalten wiederholen, so dass also die Fremdartigkeit
irgend eines Naturraumes vorwiegend nur von seinem Pflanzen-
kleide herrührt. Wer sich daher seiner Eindrücke durch Zerglie-
denmg bewusst werden will, der muss den Pflanzengestalten ein
scharfes Auge widmen. In diesem Sinne trennt ein auffallender
Gegensatz OberitaUen und MitteUtaHen, oder die Po-Gebiete von
1-02 Ferienreisen.
dem südlichen Abhang des Apennin oder der Seealpen. Wer
Genua in der Richtung nach Alessandria verlässt, folgt nur eine
kurze Strecke dem Meeresgestade, plötzlich schwenkt der Zug
nach rechts ab, und ein endloser Tunnel nimmt ihn auf, der rasch
nach oben führt. Gelangen wir wieder ans Tageslicht, so hat
sich alles verändert, der Glanz des Mittelmeeres ist uns entrückt,
wir werden eingeschlossen von Bergen, und eilen durch eine
Landschaft, die weit eher an die frostige Heimath uns erinnert,
als an Italien. Der Torhang fiel gleichsam, und als er sich wie-
der hob, lag eine veränderte Bühne vor uns. Etwas ähnliches
widerfährt dem Reisenden auf dem Wege nach Florenz. Zwischen
Venedig und Bologna bleibt der Boden völlig flach, nur dass die
Bahn hinter Padua an der und streck :;nweis zwischen der euga-
neischen Gruppe hindurchführt, bekannthch eine Zusammenscha-
rung vulkanischer Kegel von längst erloschener Thätigkeit , die
höheren bis zu den Gipfeln bewaldet, die niederen mit Ortschaften,
Schlössern oder Burgruinen gekrönt. Liegt aber diese anmuthige
Berggruppe hinter uns, dann umfängt uns wohlbebautes Land in
tödtlicher Einförmigkeit, nur unterbrochen durch das Stillhalten
vor den grösseren Städten wie Rovigo und Ferrara, zwischen
denen der Zug den schlammfarbigen wohlangefüllten Po in behut-
samem Schritt auf einer Brücke mit hölzernem Oberbau über-
schreitet. Vom Einerlei ermüdet, begrüsst der Reisende daher mit
lebhafter Erregung die ersten Anhöhen hinter Bologna, durch die
sich der Apennin ihm ankündigt. Die Bahn , welche jetzt dem
Erosionsthale des Reno aufwärts folgt, versetzt ihn mitten in die
Berge, an deren Abhängen parkartig der schöne Baumschlag Ita-
liens uns mit einem Gefühl der Erlösung beseligt, dass wir end-
lich nach lauter Fruchtbarkeit und Menschenfleiss wieder in der
Natur uns bewegen. Noch standen wie daheim um die nämliche
Jahreszeit die Apfelbäume in Blüthe, und zugleich sprossten zwi-
schen den Gesteinen in hohen Sträuchern hübsche weisse Ericen,
mit denen sich leicht ein Preis auf einer heimathlichen Blumen-
musterung hätte gewinnen lassen. Je weiter wir uns erheben,
desto schluchtenreicher wird das Thal. Blaue Gebirgskämme wer-
den überragt von blauen Gebirgskämmen. Der Frühling, in den
Ebenen schon völHg hervorgebrochen , lauscht dort noch in den
Blattknospen der kahlen Wipfel. Hinter Pracchi beginnt der
Uebergang über die Höhenscheide durch fortgesetzte Tunnelbauten.
Eine Ferienreise über den Apennin. eo3
Endlich ist der Kamm erreicht, und der BHck fällt abwärts in die
lustigen Gefilde Toscana's. Unter uns liegt altersgrau Pistoja,
aber weiter abwärts ist die grüne Thalsohle des Arno, oder viel-
mehr des Ombrone, durchschwärmt von zahllosen hellen Punkten,
den weit nach allen Richtungen in schimmerndes Grün hinaus-
gestreuten Landhäusern, Das verlockende Gemälde ist aber viel
kürzer sichtbar, als der Leser an Zeit gebrauchte, um unsere
Zeilen zu durchfliegen. Wieder folgt ein langer Tunnel, wieder
ein kurzer Blick, und auf ihn — man möchte vor Aerger bersten
— ein neuer Tunnel. So geht es geraume Zeit weiter, dass man
sich fast auf neun Zehnteln der Strecke zwischen Bergdurchstichen
und nur auf einem Zehntel im Freien befindet. Dafür empfängt
uns aber jenseits ein neues verwandeltes Italien, nicht mehr das
adriatische, sondern das transapenninische. Sogleich auf der
nächsten Station, zu der sich die Bahn in Windungen hinab-
gesenkt hat, wird die Veränderung der Natur durch ein wichtiges
Culturgewächs angekündigt, nämlich durch den Oelbaum , denn
keine Olive wird sichtbar von dem Brenner angefangen bis Pitec-
cio, dem letzten Rastplatze vor Pistoja. Der Oelbaum bezeichnet
die klimatische Gränze zwischen Ober- und Mittelitalien , wie die
im Freien gedeihende Orange als das Wahrzeichen von Unter-
italien uns gelten darf, so dass also seltsamerweise die ligurische
Riviera wegen ihrer Erzeugnisse um beinahe drei geographische
Grade zu nördlich liegt, wenn das Klima gehorsam mit der Pol-
höhe sich ändern würde.
Um zum Schluss noch einer Enttäuschung zu gedenken, sei
erwähnt, dass der Reisende beim Abschied, so oft ihm wohlwol-
woUende Freunde gutes Wetter wünschten, zuversichtHch behaup-
tete, eines heitern Himmels sicher zu sein , denn nie erinnerte er
sich, von früheren Besuchen her je eines Tropfen Regens oder
nur eines trüben Tages in Italien, mit Ausnahme der Alpenseen
oder bei der Annäherung an das Gebirge. Wie sollte es sich auch
anders zutragen? Die Halbinsel fällt in den Gürtel der Winter-
regen, und ist einmal der März und April überstanden, dann ver-
heissen ja die Lehrbücher den ewig lächelnden Himmel des Sü-
dens. In der That fiel auch im vergangenen Monat Mai der
erste Regen nicht früher als bei der Rückkehr nach Verona, ab-
gesehen von einem heftigen Guss in Rom, der zehn Minuten an-
hielt, und etlicher zählbarer Tropfen, die auf dem Römerpflaster
coA Ferienreisen.
von Pompeji rasch verdunsteten. Sollte den Verfasser aber noch
einmal sein Weg nach Italien führen, wäre selbst Sicilien sein Ziel
und der August der erwählte Jahresabschnitt, er würde freundliche
Wünsche dankbar entgegennehmen. Trüber Tage erinnert er sich
zwar nur zwei, beide fielen jedoch in den Aufenthalt von Neapel.
Wenn die Sonne aber nicht scheint, oder wenn sie nur geschwächt
durch die Dünste bricht, ist auch der Golf von Neapel ein Ge-
mälde, dem das beste fehlt. Das leuchtende Blau der Fernen er-
lischt, die Farbe des Meeres wird finster, Villen, Castelle und
Häusermeer erscheinen unbehaglich, und das gesammte Bild er-
hält einen Anstrich des gemeinen und werktäglichen, der sehr er-
nüchternd wirkt. Wir fügen diess hinzu als Trost für solche, die
vielleicht Neapel bei trübem Wetter erreichen, und dann bestürzt
sich fragen sollten : ob nicht alles, was sie zuvor gesehen, gehört
und gelesen, auf Uebertreibung beruht habe? Alle Verklärung des
Physischen stammt vom Licht, und wenn sich die südliche Sonne
verbirgt, erscheint auch der Süden kalt und freudelos.
II.
(Ausland 1869. Nr. 26. 26. Juni.)
Hatten wir uns in dem früheren Abschnitt hauptsächlich an
die Gewächse Itahens gehalten, um die Eindrücke der landschaft-
lichen Verschiedenheiten zu zergliedern , so sollen jetzt ein paar
Worte folgen über das, was kreuchet und was fleuget. Freilich
ändert sich für denjenigen, der nicht gerade sucht und sammelt,
jenseits der Alpen oder des Apennin beinahe gar nichts. Nur der
Esel, bei uns eine rara avis, wird im Süden mehr und mehr zu
Pflichten für die menschliche Gesellschaft herangezogen, womit er
den Klagelauten oder Klageliedern zufolge, die er häufig genug
ausstösst, nicht immer ganz einverstanden zu sein vorgiebt. Zu
kurzen Ausflügen in die Berge eignet er sich viel vorzüglicher als
die Rosse, wegen seiner sanften Bewegungen, und ein Galopp auf
Eseln in lustiger Gesellschaft, befördert nicht wenig eine heitere
Stimmung. Einem Vordergrund als Verzierung zu dienen, darauf
erstrecken sich die Ansp-üche des vielverkannten biblischen Thiers
Eine Ferienreise über den Apennin. toc
derzeit noch nicht, wohl aber können als ein lebendiger Schmuck
der Landschaft die Rinder Mittel- und Süditaliens verwendet wer-
den, die an der römischen Gränze bei Narni zuerst unsere Be-
wunderung auf sich zogen. Ueber den Ursprung dieser Race
wollen wir uns nicht weiter ,, verbreiten", wie man im Professoren-
Deutsch zu sagen pflegt, da ja ohnehin die Leser des Auslandes
das classische Werk des Basler Anatomen Rütimeyer über die
Fauna der Pfahlbauten bis zum Auswendigwissen sich schon an-
geeignet haben werden. Durch die urweltliche Grösse ihrer Hör-
ner setzen uns die Thiere bei jedem neuen Begegnen in freudiges
Erstaunen. Wegen ihrer ebenmässigen Biegung und Stellung,
mehr Schmuck als Waffe, fordern diese Hörner unwillkürlich her-
aus, dass man sie — vorläufig nur in Gedanken — unterhalb der
Spitzen mit einer Querleiste verbinde, um daran Seiten für eine
Leier zu bespannen, wie diess Kaulbach schon in seinen Reinecke-
Jahren bildlich dargestellt hat. Von der Schreckens - Fauna der
Halbinsel sind Schlangen noch am zahlreichsten, doch gehört im-
merhin Glück dazu, auf irgend ein Muster zu stossen. Ein sehr
stattliches Exemplar, einer hastigen Schätzung zufolge etwa sechs
Schuh lang, sah der Verfasser vor Jahren vom Fahrweg hastig
nach den Reisfeldern in der Nähe der Etschmündung entschlüpfen.
Eine kleine Schlange sonnte sich zu unentgeltlicher Betrachtung
diessmal zwischen den Schlacken am Abhang des Monte nuovo.
Scorpione, die doch schon in Südtirol vorkommen, sind dagegen
zur Befriedigung seiner Neugier dem Erzähler noch nicht begeg-
net. Dessgleichen sind von der menschenblutsaugenden Thierwelt
im Frühjahr die Zinzari, gegen die man sich mit Moscitovorhängen
vertheidigt, nicht vorhanden. Von jenem Ungeziefer, welches in
Zimmern und Betten nistet, und welches dem Alterthum wie dem.
Mittelalter noch unbekannt war, von dem der Europäer überhaupt
erst seit zwei Jahrhunderten geplagt wird, hat der Reisende dieses-
mal keine Angriffe erlitten. In neuen Häusern und Hotels bessern
Ranges wird überhaupt darüber nicht geklagt. Um so geschäf-
tiger erwies sich die durstige Zunft des Ungeziefers, welches um-
gekehrt der Europäer in der neuen Welt und in Australien ver-
breitet hat. Wenn selbst die besten Wirthshäuser von dieser Plage
nicht frei sind, so darf diess kaum anders erwartet werden, da die
Reisenden selbst sie hineinschleppen. In Florenz und in Neapel
(ausser bei Theaterbesuchen) hält sich das Uebel in billigen Grän-
eo6 Ferienreisen.
zen , in Rom aber tritt es bedenklicher auf, wahrscheinlich weil
der Fremde genöthigt ist, so viele vorgeschriebene Kirchen zu be-
suchen, in denen jenes Ungeziefer am zahlreichsten sich aufhält.
Vor anderen ekelhaften Schmarotzern ist man in Neapel nicht
völlig sicher, denn da jedermann die Fiaker sowie die Droschken
benutzt, die dortigen Wagenlenker aber fast ohne Ausnahme mehr
oder weniger zerlumpt und mehr oder weniger schmutzig sind,
so kann eine solche Nachbarschaft die widerwärtigsten Folgen ha-
ben. Die Geschöpfe des Meeres endlich bewundert oder beschau-
dert der Reisende am besten auf den Fischmärkten und in Ve-
nedig, wenn er neugierig ist, locken ihn ausserdem als rares Ge-
richt die Tintefische, welche ungestüme Verehrer unter den Ein-
gebornen zählen sollen. Das Aufspringen eines Delphin auf einer
Rückkehr von Capri nach Sorrent war schliesslich der beste
Leckerbissen zoologischer Staffage, die dem Verfasser zu Theil
geworden.
Was dagegen unter der Fauna Italiens die Zweihänder be-
trifft, so warnen wir alle, die das Land nur aus Gemälden oder
Büchern kennen, von überspannten Erwartungen. Vor allem miss-
traue man den Bildern, nicht etwa, dass die Maler Gesichter und
Gestalten auf die Leinwand faselten, die nicht vorhanden wären,
sondern weil sie auch in Italien unter Tausenden dasjenige her-
ausmustern, was zu ihrem Zweck taugt. Römer und Römerinnen
gelten vor allem und mit Recht als abbildungswürdige Gegen-
stände. In unserer Unschuld erwarten wir daher, dass jedes dritte
oder doch wenigstens jedes dreissigste Frauengesicht diesseits oder
jenseits des Tiber sich zur Judith idealisiren Hesse, jeder zehnte
Pflastertreter entweder ein bonapartisches Profil oder ein Locken-
haupt uns bieten sollte, auf welches letztere wir nur eine rothe
Mütze zu stülpen brauchten, damit der Masaniello fertig sei. Das
was uns, ohne es genau bezeichnen zu können, vor den Sinnen
als italienischer Typus schwebt, kommt vergleichsweise so selten
vor, wie die vierblättrigen Kleeblätter. In den Wartesälen der
Bahnhöfe und in den Theatern haben wir einen ganzen Katalog
von Physiognomien vor uns, und wenn wir unter einer Schar
Harrrender oder Schauender bei jeder einzelnen Nummer uns fra-
gen, ob wir sie mitten unter andern Nummern in der Heimath
sogleich als ein Kind Italiens herausgreifen würden, in wie selte-
nen Fällen werden wir zu bejahen haben? Diese Seltenheiten sind
Eine Ferienreise über den Apennin. 507
dann meistens solche bedeutende Köpfe, nach denen der Künstler
lechzt, und nach denen wir wiederum das Typische uns zusam-
mensetzen. Das Typische ist desshalb durchaus nicht der Mittel-
schlag, sondern gewöhnlich nur das Ergebniss einer sorgfältigen
Auswahl. Dazu kommt in neuester Zeit noch das Verschwinden
der Ortstrachten. Wem das Glück hold ist, der kann in Ve-
rona noch Damen mit dem schwarzen Spitzentuch als Kopfbe-
deckung, in Genua sie mit bräutlich wallenden weissen Schleiern
sehen. Die weissen Tücher um den Kopf mit einem nach der
Stirn vorfallenden Wulst sind nicht selten bei den Orangenver-
käuferinnen zwischen Rom und Neapel. Die echte Albanertracht
dagegen ist, wie es bereits die Reisebücher aussprechen, in Albano
selbst an gewöhnlichen Tagen nicht, und an hohen Festtagen nur
selten zu sehen. Wir selbst fuhren in Albano durch officielle Be-
willkommnungsbogen, als unter Musik und Böllerschüssen Se. Hei-
ligkeit empfangen wurde , ohne durch irgendeine Aenderung der
Tracht gestört zu werden. Die malerischen Bekleidungen der
Halbinsel sind daher nur anzutreffen auf der spanischen Treppe
in Rom, wo sich die unbeschäftigt gebliebenen Modelle für Trach-
ten feil bieten. Mit solchen gewerbsmässigen Nationalpuppen ist
aber dem Fremden nicht gedient, denn in grösserer Fülle geniesst
er ja dasselbe, wenn er sich daheim für die Stumme von Portici
einen ihm zusagenden Theaterplatz erwirbt. Was dagegen die
Quantität an fremdartiger bewegHcher Staffage betrifft, so wird
Neapel wohl die feurigsten Ansprüche befriedigen. Als colorirte
Photographien verkauft man an den dortigen Läden eine Samm-
lung von Darstellungen unter dem Titel ,, Neapolitanische Trach-
ten" (Costumi di Napoli). Der Begriff Tracht ist dabei in einem
ungewöhnlich weiten Sinn gefasst, denn es gehört zu jener beleh-
renden Reihenfolge auch eine strenge Mutter, die ihrem Buben auf
dem Schoosse eine auch bei uns nicht völlig ungebräuchliche Züch-
tigung auf entblösste Körperräume ertheilt, die fast die Mitte des
Gemäldes einnehmen, aber gerade der Gegensatz dessen sind,
was der gemeine Mann sonst unter „Tracht" oder „Costüm" ver-
steht. Ein jeder von uns und eine jede der unsrigen könnte sich
übrigens gänzlich kostenfrei und nur durch Geduld in solche nea-
politanische Vorbilder umwandeln, es gehört dazu nur, dass man
sich zunächst das Waschen abgewöhnt, etwa entstehende Risse in
Kleidern und Unterkleidern, sowie andere Erosionseffecte des tag-
co8 Ferienreisen.
liehen Lebens beharrlich unbeachtet lässt. In grösseren Zeitpau-
sen könnte man dem anmuthigeren Geschlechte ein Kämmen des
Haares nachsehen, doch müsste in solchen gutbegründeten Fällen
der Stuhl auf die Strasse hinausgeriickt, das Geschäft auch nicht
selbst, sondern durch die Hand einer Freundin , mit der man in
Cartellverträgen steht, verrichtet werden. Auch andere Reinigun-
gen des Haupthaares, die, nach berühmten Gemälden von Murillo
zu schliessen, in Spanien gleichfalls üblich zu sein scheinen, haben
die Costumi di Napoli als ,, Charakterköpfe" in ihre Auswahl auf-
genommen. Eine andere volksthümliche Sehenswürdigkeit, näm-
lich den Maccarönischlürfer, darf der Fremdling aufzusuchen nicht
versäumen. Es war am vorletzten Abend und dem achten Tage
eines mit grossen Anstrengungen ausgenützten Aufenthaltes, dass
uns einfiel, in Neapel noch nicht das Verzehren von Maccaroni
gesehen zu haben. Beiläufig wollen wir bemerken, dass die Rohr-
nudelerzeugung in ein ehrwürdiges Alterthum hinaufreicht, denn
der arabische Geograph Edrisi, der am Hofe des Normannenkönigs
Roger II. von Sicilien lebte, preist schon die Maccaroni, die in
Palermo verfertigt wurden. Gegen neun Uhr Abends traten wir
also auf der Strada di Porto hinter einem off'enen Laubengang in
eine Nudelküche. Es kostete uns wenig Mühe, auf der Strasse
zwei dienstfertige Landeskinder aufzugreifen, die bereit waren, die
Nudeln zu verzehren, die wir bezahlen wollten. Der Koch ergriß
sogleich einen Teller, schöpfte Nudeln aus dem brodelnden Kessel,
griß" mit der Hand in einen Vorrath zerriebenen Käses, womit das
Gericht überstreut wurde, und würzte es ausserdem mit einem
Löffel voll goldbraunen geschmalzenen Mehles; wenigsten hielten
wir diese Zugabe für nichts anderes. Wind und Sonne blieb zwi-
schen den beiden Zweikämpfern ritterlich getheilt. Mit ihren
Greifwerkzeugen, die man bei den gewaschenen Menschenracen
Hände zu nennen pflegt, rafften sie gierig eine Nudelmasse auf,
in der sie durch eine gelungene rasche Bewegung eine Drehung
der Faden bewirkten, und die sie hierauf von der dicken Mitte
gleichzeitig nach beiden Enden hinunterzuwürgen begannen. Mit
anerkennenswerther Geschwindigkeit wurde der Teller geleert und
vom Koche abermals gefüllt. Nachdem das Schauspiel noch ein-
mal sich wiederholt hatte, entfernten wir uns jedoch, völlig des
Schauens satt, ohne abzuwarten, bis das bewilligte Budget, nämlich
Eine Ferienreise über den Apennin. eog
zwei Franken, der Betrag einer verlorenen Wette, sich erschöpft
haben würde.
Ergötzliche Bilder liefert der Equus ■ asinus des Linnd. Sehr
häufig trägt der arme Dulder über seinem Rücken eine Strohdecke,
die zu beiden Seiten fast bis auf den Boden reicht. Nun denke
man sich, dass links und rechts die Zipfel der Decke zu einem
Dreieck zusammengelegt und festgenäht worden sind, so dass sie
zwei geräumige Düten bilden, die mit Zwiebeln, Salat, Artischocken
und anderen Gemüsen vollgestopft werden. Auf den Rücken des
Esels und auf die strotzenden Taschen wird eine weitere grüne
Last aufgethürmt, und schliesslich setzt sich der Eigenthümer noch
hinter dem Gemüse auf. Selbst unbelastete Esel werden so be-
bestiegen, dass der Reiter seinen Sitz auf den Hintervierteln nimmt,
ein Anblick, der am meisten durch das Ungewohnte uns befrem-
det hat. Da die Leute auch gern zu zweit sitzen, so gewöhnen
sie sich durch Uebung an den Platz hinter dem Sattel. Sehens-
werth sind ferner die zweirädrigen Karren, bespannt mit einem
einzigen kräftigen Rösslein , auf denen inwendig , sowie vor und
hinter den Rädern, ja bis auf die Deichsel hinaus, eine Bevölke-
rung jeden Alters und Geschlechts , man kann anständigerweise
nicht sagen Platz, wohl aber irgend einen Schooss oder eine Leiste
gefunden hat, um zu sitzen oder sich schwebend zu erhalten.
Wir zählten bei einem Beispiele dieser Art fünfzehn Köpfe oder
Seelen, wie die Statistiker sagen, den Gaul nicht mitgerechnet.
Doch äusserte sich unser Vetturin, dessen Gaul damals nur drei
„Seelen" zu befördern hatte, selbst missbilligend über jenen Ueber-
fluss. Zur Erklärung muss hinzugefügt werden , dass sich solche
einspännige Personenbeförderungen meist auf den Strassen der
Vesuvstädte zutragen, die mit grossen Bruchsteinen belegt, um
nicht zu sagen getäfelt, sind, und beinahe eben fortlaufen. Die
kleinen neapolitanischen Rosse sind übrigens durch ihre Ausdauer
bewunderungswürdig, und so flink, dass die Kutscher im Trab die
schiefen Strecken der Strassen hinanfahren. Nähert man sich
vollends einer Ortschaft, dann wird aufgeklatscht, bis die Funken
unter den Hufen sprühen.
Ein anderes nationales Genrebild, nämlich die Tarantella,
wurde uns zweimal aufgetischt, einmal auf Verlangen mit nach-
folgender freiwilliger Belohnung in einer Osteria bei Pompeji, ein
andermal völlig unentgeltlich auf dem Pflaster einer Seitengasse in
510
Ferienreisen.
Resina. Es sind immer drei Mädchen dazu erforderlich, nämUch
eins zum Schlagen des Tambourins und zwei mit Castagnetten,
die, ohne sich zu berühren, auf einem sehr engen Raum hin- und
herhüpfen und mitunter die Plätze wechseln. Die Bewegungen
der Tambourinschlägerin fanden wir in dem ersten Fall sehr ge-
fällig, und die Anmuth war zugleich eine freie Gabe der Natur,
nichts erworbenes. Mit dem Umherhüpfen sind zugleich Biegun-
gen des Oberkörpers in den Hüften und Bewegungen der Arme
verbunden, die bei einem gewissen Vorrath von gutem Willen
plastisch genannt werden könnten, wenn die Tänzerinnen selbst
nur schon das plastische Alter erreicht gehabt hätten, so aber
traten nur reifende oder eben nur reif gewordene Mädchen bei den
tarentinischen Leibesbewegungen auf, und es verlangte die Wirk-
lichkeit zur Würze immer noch eine Nachhülfe der Phantasie.
Die Tarantella gleicht übrigens einer Schraube ohne Ende, denn
wenn eine Tänzerin ermüden sollte, lauert schon eine frische in
dem dichten Zuschauerkreise, die zum Ersatz hineinspringt. So kann
dieses Hüpfen stundenlang fortgesetzt werden, während der Be-
schauer schon nach den ersten zehn Minuten an dem Einerlei
völlig Genüge hat.
In Bezug auf ein gewisses Capitel öffentlicher Reinlichkeit hat
übrigens Auge und Geruch des Fremden in Neapel sehr selten
und viel weniger als in Venedig zu leiden. Es ist überall gesorgt,
dass ein jeder findet was er sucht, und das da per tutto, welches
noch zu Goethe's Zeit ländlich sittlich war, scheint mehr und
mehr vermieden zu werden. Doch ist niemand sicher, Zeuge der
gröbsten Unsauberkeiten zu werden. Was wir selbst zu erleben
hatten, soll als warnendes Beispiel schonend erwähnt, ausserdem
aber leicht verletzliche Gemüther eingeladen werden bis zum näch-
sten Absätze alles zu überspringen. Wenn man Oberitalien ver-
lässt, ist es nicht rathsam, anders zu reisen als in Eisenbahnwagen
erster Classe, worüber wir sogleich bei dem ersten Versuche be-
lehrt wurden, als wir von Padua aus noch die zweite Classe zu
benutzen gedachten. Da man jedoch genöthigt wird, von Neapel
dieselben Strecken vier- oder fünfmal hin und her zu fahren,
immer jedoch nur auf geringe Entfernungen, so schien uns auch
die zweite Classe zu genügen. So geschah es denn, dass
wir auf der Fahrt nach Salerno mit einem Herrn reisten, der ein
kleines Mädchen von etwa drei Jahren bei sich hatte. Es war
Eine Ferienreise über den Apennin. 511
hübsch angeputzt in einem halbseidenen Kleidchen, mit breiter
hellblauseidener Schärpe und trug ein zierliches Hütchen. In
Deutschland würde man dem äussern Anstrich zufolge eine solche
Gesellschaft zu den „gebildeten" Classen gezählt haben, ob und
wann aber sich diese Qualification oder in welchem Sinne sie für
Neapolitaner anwendbar ist, darüber soll kein Urtheil hier gewagt
werden. Der Zug hielt und es gab ein paar Minuten Aufenthalt.
Das Kind fühlte in dieser Zeit ein Bedürfniss und der Vater
wandte sich an einen gegenübersitzenden Landsmann mit der
Frage, ob er etwas dagegen habe, wenn das Dringende vor seinen
Füssen erledigt werde. Der Gefragte antwortete mit wohlwollen-
der Duldsamkeit: non fa niente! und die Verunreinigung fand
statt — sie fand statt, wie ausdrücklich bemerkt werden muss,
während der Zug still hielt, so dass der zärtliche Vater nur neben
sich die Wagenthüre hätte zu öffnen gebraucht, um das Kind
herauszuheben.
Wer sich tröstet, dass man gegen den Anblick von Schmutz
und Verwahrlosung abgestumpft werde, täuscht sich. Neapel bleibt
immer und immer nichs anderes, als ein grosses Ghetto. Sein
blendendes Häusermeer, seine Castelle, die theils am, theils im
Meere liegen oder die Höhen des Posilip beherrschen, mögen aus
der Ferne uns entzücken, gerade so wie in der Nähe das Getüm-
mel am Hafen mit seinen ausserordentUch belebten Gruppen höchst
malerisch sich darstellt, die Wirklichkeit selbst bleibt aufs höchste
abstossend. Gesäuberte Strassen finden sich nur längs dem Meere
vom Garten Villa Reale angefangen, am königlichen Palast vorü-
ber bis zur Toledo-Strasse, dann die Toledo-Strasse abwärts bis
zum vormals bourbonischen Museum und von da über die Piazza
della Pigne die Strada S. Carlo alF Arena abwärts. So oft man
sich dagegen zwingt, in Seitenstrassen einzubiegen, bereut man es
immer wieder von neuem. Es ist nicht sowohl Armuth, der man
begegnet als Verwahrlosung. Alle Häuser haben einen höchst
unwohnlichen Anstrich, denn sie werden nicht ausgebessert, son-
dern man lässt sie herunterkommen. Durch die geöffneten Thüren
sieht man in das Innere der Erdgeschosse, wo ein einziger Raum
eine Familie beherbergt. Kein Fenster ist vorhanden, denn Licht
und Luft kommt nur durch die Thüre. Drinnen steht ein grosses
Bett, gemeinsam für zwei, vielleicht drei Generationen. Wie die
Familie es am Morgen verliess, so wird es am Abend bestiegen.
e I 2 Ferienreisen.
Aller sonstige Raum ist angefüllt mit zerbrochenem Geräth, lah-
men Tischen und Stühlen und einem Composthaufen abgedienter
Lumpen und Geschirre. Heinrich Heine, der nicht weiter als bis
Mittelitalien vordrang, brach bei seiner Rückkehr nach Deutsch-
land in den bekannten Lästerreim aus :
Schöner Süden, wie verehr' ich
Deine Menschen, Deine Götter,
Seit ich diesen Menschenkehrich'
Wieders^i' und dieses Wetter.
Wenn aber den europäischen Bevölkerungen der Name Men-
schenkehricht nach Prioritätsgrundsätzen ertheilt werden sollte,
gewiss stehen die NeapoHtaner dann am vordersten Ende der
Queue. Frisch ist dem Verfasser noch in der Erinnerung der be-
hagliche, fast möchte er sagen erquickende Eindruck, als er rasch
von Neapel nach Rom, von den Neapolitanern wieder unter Men-
schen versetzt wurde. In der ewigen Stadt sieht man eben so
selten einen zerlumpten wie in Neapel einen geflickten und ge-
bürsteten Rock. Physischer Schmutz geht nicht immer, aber doch
häufig mit moralischem Hand in Hand , und der Fremde muss
daher stets auf der Hut vor Betrügereien sein. Unerträglich ist
es, jedes Geldstück nachzählen, jedes Werthzeichen prüfen zu
müssen , ob nicht ein ,,LTthum" zu unserm Nachtheil sich ein-
geschlichen hat. Fast jede Fahrt in einer Droschke oder einem
Fiaker endigt mit einem Wortwechsel, da immer der Versuch
stattfindet, den Tarif zu überschreiten. An Frechheit überbietet
dabei der Neapolitaner jedes Mass. So fuhren wir einst den To-
ledo hinab um beim Museum in die Strada dell' Infrascata einzu-
biegen und dort an einer Stelle auszusteigen, wo das Museum
noch nicht hinter der ersten Biegung der Häuser verschwunden
war. Dem Rathe Bädekers gehorsam , der unbedingt der beste
ist, hatten wir den vorgeschriebenen Fahrpreis in der Hand, nicht
einen Centime darüber. Es schien dem Fiaker nicht genug, denn
der Tarif gelte nur ,,für die innere Stadt." Wir wiesen auf das
nahe Museum, aber der Unverschämte behauptete, indem er das
Geldstück auf den Boden warf, eben beim Museum endige der
Bereich der Fahrtaxen! Natürlich überliessen wir es ihm, das Geld-
stück selbst aufzulesen.
Ein anderer guter Rath Bädekers sollte nie ausser Acht ge-
lassen werden, nämlich beim Ausdingen irgend einer Leistung
Eine Ferienreise über den Apennin. cj^
immer ein tutto compreso hinzuzufügen. Zur Belehrung, welchen
Anforderungen der Reisende dadurch entgeht, mag hier eine Gast-
hausepisode folgen. Wir waren fünf Stunden in einer offenen
Barke unterwegs gewesen, anfangs bei rauher See zwischen Sorrent
und der Insel Capri. Unsern beiden Damen hatte die Thalassa
übel mitgespielt, die eine rechts die andere links hatte, über Bord
gebeugt, mehr als einmal dem Mittelmeer tief ins Angesicht
schauen müssen. Endlich war für sie die Pein überstanden, denn
die Barke hielt wieder an dem Felsenafesturz unter Sorrent. Wir
hatten gehofft, das Uebel werde endigen, sobald sie das euro-
päische Festland wieder unter ihren Füssen fühlen würden, und
wirklich geschah es auch so, abgesehen von einem heftigen Finale
unmittelbar nach dem Aussteigen. Eine Treppe in den Felsen
führte uns hinauf nach der ,, Sirene", die wir gewählt hatten wegen
ihres schicklichen Wirthshausnamens in der Sirenenstadt. Es war
fünf Uhr Nachmittags, und da die Essstunde des Hotels erst zwei
Stunden später schlug, wir aber mit dem Vetturin noch nach
Neapel zurückkehren wollten, wozu mindestens 4V2 Stunden er-
forderlich waren, bestellten wir nach dem Vorschlag des Kellners
ein Gabelfrühstück zu drei Franken die Person. Da wir für dieses
Geld nur drei Schüsseln und ein Dessert erhalten sollten, verlangten
wir obendrein noch Suppe, wodurch sich der ausbedungene Preis
auf 3V2 Franken steigerte. Die Suppe kam, es folgte ein Teller
mit theilweise ungeniessbaren Fischen, ein Gericht Fleisch, und
nach diesem wurde plötzlich das Dessert aufgetragen. Auf die
Frage, wo die dritte Schüssel bleibe, wurde uns erwidert, dass
wir mit der Suppe ja schon drei Gerichte erhalten hätten. Erst
als wir scharf erinnerten, dass die Suppe besonders bezahlt werde,
und streng auf Erfüllung des Ausbedungenen drangen, erschien
nach längerer Pause noch ein Eierkuchen. War der Versuch fehl-
geschlagen, die dritte Schüssel zu überspringen, so erschien dafür
auf der Rechnung für die Bedienung von vier Personen eine For-
derung von zwei Franken. Wir erklärten jedoch dem Kellner
gelassen, dass wir für das Auftragen eines Frühstücks uns nichts
vorschreiben Hessen, strichen kaltblütig die zwei Franken, bezahl-
ten den Rest und wurden trotzdem unter Bücklingen und Reise-
glückwünschen von dem Hotelpersonal an den Wagen geleitet.
Diess war das einzigemal, wo wir uns gegen überspannte Forder-
ungen zu wehren hatten, im Gegentheil waren wir sonst überall
Pesc/iel, Abhandlungen. II. 33
514
Eine Ferienreise.
zufrieden, und nur ein einzigesmal durch ungerechtfertigte An-
sprüche überrascht worden, jedoch nicht in ItaUen, sondern in
Innsbruck').
Wir haben von so viel Widerwärtigkeiten, Enttäuschungen,
und Verbitterungen gesprochen, dass vielleicht mancher Leser, der
eine Reise nach Neapel im Schilde führt, einige Abkühlung em-
pfinden möchte. Das Inventar der Unannehmlichkeiten ver-
schwindet jedoch im Vergleich zu dem, was man dafür an werth-
voUen Eindrücken gewinn*, im Vergleich vor allem zu der schönen
Natur, die man begierig in sich aufsaugen möchte. Jedem Tag in
Neapel seufzt man nach, dass er allzu rasch an uns vorüberglitt,
und bang erwartet man den letzten, an dem man sich losreissen
soll. So mag denn auch versucht werden, dem Leser einen Be-
griff zu geben von dem Glanzpunkt der ganzen Wanderung. Nach
einem anstrengenden Tage im weiland bourbonischen Museum
hatten wir uns zur Belohnung das Beste aufgespart. Kunstenthu-
siasten denken vielleicht, dass das Museum selbst der höchste
Genuss sei. Dort steht in Marmor der farnesische Herkules, die
unvergessliche Psyche von Capua, die berühmte Venus , die ihr
Hemd aufliebt, um einen Blick über ihre Schulter zu werfen, ne-
ben unzähligen Gewandstatuen und Marmorbildern mit und ohne
Sternen im Katalog. Dort sind die prächtigen Broncegestalten
aus Herculanum und Pompeji , der betrunkene Faun , der sich auf
Weinschläuchen wälzt, mit der einen Hand schnalzt, sonst aber
im Lustgefühl alles andere von sich streckt, daneben die beiden
Discuswerfer, im Hintergrund der sogenannte Läufer. Es folgen
l) In den Hotels ersten Ranges, wie Hotel de la Ville in Florenz, Hotel
de Russie in Neapel und Stadt Rom in Rom zahlten wir für Zimmer, letztere
freilich ohne Aussicht mit zwei Betten 6 Frcs., unser Begleiter für je ein Zim-
mer und ein Bett 3 Frcs. Der Mittags- (d. h. Abend-)Tisch wurde mit 4*;^
Frcs., in Rom mit 5 Frcs. berechnet, doch speisten wir so oft wir es für gut
fanden bei Restaurants, aber nur um sehr weniges wohlfeiler. Im österreichi-
schen Hof in Innsbruck dagegen, wo wir um 11 Uhr Abends ankamen, und
den wir um 7 Uhr Morgens verliessen, hatten wir zu zahlen: Zimmer im dritten
Stock mit 2 Betten 2 Fl. 50 kr. ; Bedienung (sehr mangelhaft) : 90 kr. ; Ker-
zen 80 kr. ; Frühstück (zwei Tassen dünnen Kaffees mit zwei trockenen Broden)
I Fl. 40 kr. ; Omnibus von und nach der Bahn (der aber im letzteren Falle
vor uns abfuhr) l Fl. 60 kr., zusammen 7 Fl. 20 kr. Vier Wochen zuvor
hatten wir beim Elephanten in Brixen für die nämliche Bewirthung und ein-
schliesslich eines Abendessens zwei Gulden und etliche Kreuzer gezahlt!
Eine Ferienreise über den Apennin. e j e
dann — immer noch im Erdgeschoss — die Mosaiken und die
abgelösten Wandgemälde aus Pompeji, die mit Recht so fleissig
copirt werden, eine Sammlung, die allein einen Vormittag ausfüllen
könnte. Noch sind wir weder in die Keller hinabgestiegen ins
ägyptische und etruskische Alterthum, noch hinaufgestiegen zur
Bibliothek, den Pretiosen, den Geschirren, den alten Geräthen und
der Bildergallerie mit ihren Kleinoden von der Hand Rafael's,
Correggio's, Titians and anderer Meister ersten Ranges. Wer
lange in Neapel verweilen, nicht zwei- und dreimal, sondern
zwei- und dreidutzendmal das Museum besuchen könnte, aber
jedesmal nur auf höchstens eine Stunde, dem wird es unerschöpf-
lichen Genuss bieten. Wer aber rasch und aufmerksam sehen
will, für den ist es nur anfangs Genuss , dann Anstrengung und
zuletzt eine Qual. Kunstgegenstände höchsten Ranges hinterlassen
einen mächtigen Eindruck, und das Mass solcher Erschütterungen,
die wir in uns aufzunehmen vermögen, ist ein viel begränzteres,
als wir gewöhnlich voraussetzen, denn jedes Bild und jede Statue
nöthigt uns zu innerlichen Erklärungen und Beobachtungen , die
unsere Denkkräfte mächtig spannen und rasch erschöpfen. Nach
drei oder vier Stunden stellt sich dann eine solche Ermüdung der
Augennerven ein, dass man halb taumelnd und zugleich reizbar
ärgerlich das Pantheon der Kunstschätze verlässt. Diess geschieht
jedenfalls vor drei Uhr, wo das Museum geschlossen wird, und es
bleibt uns noch eine Zwischenpause für einen Teller mit Austern,
ehe wir zur „Krönung" des Tages, nämUch zu einem Besuche des
Carthäuserklosters, dem nächsten 'Höhenpunkte bei Neapel, 141 6
Fuss (feet?) über dem Meere schreiten. Bädeker sagt, der Aus-
flung erfordere vom Museum aus hin und zurück 3V2 Stunden,
wenn Esel zum Reiten benutzt werden, zu Fuss etwas mehr. Er
hat auch recht, nur hätte noch hinzugesetzt werden sollen , dass
ein sehr reichlicher Aufenthalt bei obigem Zeitansatze mit inbe-
griffen sei.
Wer sich einen Luxus vergönnen will, besteigt einen Esel in
der Strada dell' Infrascata, die ihn hinaufführt auf die Anhöhen
hinter Castell S. Elmo. Liegt die Stadt und die Finanzmauer
hinter uns, so führt ein höchst unterhaltender Pfad meist durch
niedern Laubwald, oft als Hohlweg zunächst eben weiter, später
ansteigend auf einen höheren weiter binnenwärts gelegenen Rücken
hinauf. Zwischen 4 und 5 Uhr ist die Sonne nicht mehr lästig,
33*
e 1 6 Ferienreisen.
auch bewegt man sich zwischen dem Grünen meist im Schatten,
die Luft weht erquickend und in verborgenen Büschen schlagen
Nachtigallen oder in Wipfeln jubiliren die Amseln. Der Pfad ver-
schweigt uns vollständig, dass wir uns einem Naturgemälde zum
Nimmermehrvergessen nähern, der schönsten Aussicht, die sich
bisher in Italien oder irgend anderswo uns erschlossen hat. Nur
ein einzigesmal öffnet sich eine Schlucht gegen Süden und zeigt
uns den Golf, die Sorrentiner Halbinsel und Capri. Zuletzt wird
der Abhang wieder frei von Laubholz und wir gelangen an eine
Klostermauer, vor der wir absitzen. Ehemals Öffnete sich die
Pforte nur für Männer, seit der piemontesischen Herrschaft sind
jedoch nicht bloss die Brüder in ihrer Zahl bis auf sieben herabge-
mindert, sondern zugleich auch ihr Asyl gegen die früheren Or-
densregeln dem anderen Geschlechte zugänglich geworden. Einer
der Brüder erweist den Gästen die Ehren, erquickt die Dürstenden
mit Wein, sowie mit trockenen Früchten und Backwerk. Natür-
lich wird alles unentgeltlich gereicht, doch steht es dem Reisenden
frei , für das Kloster irgend etwas verstohlen auf dem Tisch zu-
rückzulassen. Der Höhenrücken Camaldoli's gewährt eine völlige
Rundsicht nicht, sondern man muss sich an zwei verschiedene
Punkte begeben, um den einen Blick mit dem andern zu ergänzen.
Nach Nordwesten und Norden ist die Landschaft minder be-
deutend. Zunächst breitet sich vom Fuss des Höhenrückens eine
bebaute und bewachsene Ebene aus, die links durch das Meer
und in weiter Ferne durch die Berge von Gaeta begränzt wird.
Von Norden herab bis Osten ^iert den Hintergrund mit scharf
gezeichnetem Kamme der neapolitanische Apennin, von dem uns
wieder ein grünes Flachland trennt, schimmernd mit ausgestreuten
Städten. Dann erhebt sich etwas rechts vom Ostpunkt im Mittel-
grund der Vesuv, von der Somma als Mantel oder Ringwall zur
Hälfte umgeben. Aus seinem Krater quillt weisser Dampf, leider
nicht wie bei Aschenauswürfen als ,, Pinie" aufsteigend mit Schaft
und Schirm, sondern unmittelbar vom Kraterrande seitwärts ge-
bogen und rasch ins Blaue zerfliessend, von einer Nebelwolke
durch nichts anders als durch sein träges Verharren zu unter-
scheiden. Das Observatorium des Vesuv ist deutlich wahrnehm-
bar, auch lassen sich die einzelnen Lavaströme aus jüngerer Zeit
wenigstens von demjenigen, der sie zuvor in der Nähe gesehen
hat, noch unterscheiden, sonst verschwimmt Grünendes und Graues,
Eine Ferienreise über den Apennin. 517
Weinberge und Schlacken, Lebendiges und Starres in der blauen
Lasur der Ferne. Wie selbstleuchtende Lichtpünktchen glänzen
ausgestreut am untern Abhang des Feuerberges unzählige Häuser,
die nahe dem Meere sich zusammenschliessen zu einem lücken-
losen Städtegürtel, den Golf auf zwei deutsche Meilen Erstreckung
mit einem hellen Saum umgebend. Neapel selbst wird uns
grossentheils verdeckt durch den Höhenzug des Posilip, der das
Fort St. Elmo ebenso beherrscht wie wir wiederum das Fort von
unserm hohem Standort. Ueber dem Posilip ist das Meer sicht-
bar, massig belebt von Segeln. Hier aber gewahren wir, wie Pli-
nius sich ausdrückt, dass das Land zur Golfbildung zwei Arme
vorstreckt. Gegen Süden erhebt sich nämlich als der eine Arm
die Gebirgskette von Sorrent beinahe senkrecht gegen den Apen-
nin streichend. Dort suchen wir alle Plätze auf, an die sich be-
reits beglückende Erinnerungen knüpfen : das lebendige Castella-
mare, das malerische Vico Equense, endlich Meta und Sorrent,
beide auf einer jäh abstürzenden Höhenstufe , hinter der sich ein
Kranz höherer Berge herumschhngt. Zuletzt endigt die Sirenen-
halbinsel noch mit einem aufsteigenden Gipfel und einem scharf
gezeichneten Vorgebirge. Dann folgt eine Meerenge und zuletzt
Capri, von der Abendsonne getroffen, dass die Häuser des Haupt-
ortes auf halber Höhe, wie die am Landungsplatz oder an der
Marine, hell aufleuchten. Die Insel selbst ist fast gänzlich in
wonniges Blau getaucht, und nur wo das Licht die Abhänge gün-
stig trifft, schimmert noch ein zartes Grün hindurch. Die anmuth-
vollen Formen dieser Insel, die nichts anderes ist , als die Fort-
setzung der Sorrenter Kette, ihr schroffes Aufsteigen aus dem
Meere ohne Zungen oder sichtbaren Strand, die unvergleichlichen
Linien und Umrisse des kleinen Hochlandes, mit einer aufgesetz-
ten Bergkette nach dem weiten Meere herabfallend, verleihen Capri
einen eigenthümlichen Zauber, denn es fehlt ihm nichts von den
gepriesenen Reizen der atlantischen Inseln an der Westküste von
Schottland, nur dass diese gar zu oft in ossianische Regenschleier
eingehüllt sind, während auf Capri feurige Trauben von den
Gluthen einer südlichen Sonne gezeitigt werden. Während wir
verloren an dem Anblick haften, nähert sich der Insel auf hoher
See ein Dampfer. So meinten wir nämlich, denn bald nachher
hatte er sie zur Linken gelassen, um einem uns unerreichbaren
Ziel, nämlich Palermo, zuzustreben.
5i8
Ferienreisen.
Wenn wir das so eben Geschilderte uns eingeprägt und dann
uns heimbegeben hätten, so wären wir nicht bloss belohnt gewe-
sen für den Weg auf einen so geringen Höhenpunkt von 1400
Fuss, sondern selbst eine weite Reise wäre würdig beschlossen
worden. Aber noch sind gar nicht alle Herrlichkeiten von Ca-
maldoli aufgezählt. Wir stellen uns vielmehr jetzt so , dass wir
dem Vesuv beinahe den Rücken kehren, dann bleibt uns Capri
hnks, und auf dieses folgt das freie Mittelmeer, vor und unter uns
aber liegt als zweiter Arm des Golfes eine vulkanische Landschaft, die
berühmten phlegräischen Gefilde, die nicht bloss als Merkwürdigkeit,
sondern durch neue Reize uns fesseln. Der Garten der Carthäuser
selbst ist nur der höchste Punkt am Rande eines schon stark ver-
wischten, auf der Karte besser als in der Landschaft sichtbaren
Kraters. Es folgen dann noch in massiger Entfernung nach und
neben einander der Astroni, der Monte Barbaro, die Solfatara und
der jüngste von allen, der Monte Nuovo, sämmtlich an ihren
Becheröffnungen als Vulkane kenntlich. Ferner liegt ein alter, aber
seiner kreisförmigen Gestalt schon beraubter Kratersee, nämlich
der von Agnano, unter uns in der Nähe der Küste. Hinter dieser
Gruppe setzt sich das Gestade in ungewöhnlicher Gliederung fort.
Gegen Westen zu liegt hinter dem blitzenden Strand eine Kette
von Seen oder Lagunen, darunter der Lago dell Fusaro. Links
schliessen sich aber an sie die Umrisse des Golfes von Bajä oder
von Pozzuoli, wie ihn einige Karten nennen. Die Küste krümmt
sich hier fast sichelförmig, und theilt sich an der Spitze wiederum
in zwei Finger, auch bestehen diese Gliederungen keineswegs aus
flachen Landzungen, sondern sind selbst wieder mit selbstständig
aufsteigenden Höhen besetzt, wie diejenigen mit dem Castell von
Bajä und wie das Vorgebirge Miseno, ein einsamer Felsen , nur
durch eine ganz dünne Sandenge ans Land befestigt. Vor dem
andern Hörn des Golfes von Bajä, da, wo der Abhang des Posilip
sich zum Meere senkt, liegt die kleine halbmondförmige Insel Ni-
sita, wahrscheinhch ein beschädigtes altes Kratergerüste, jetzt mit
einer malerischen Veste besetzt. Ausserhalb des Golfes über Gap
Miseno hinaus folgen die Schwesterinseln Procida und dahinter
Ischia. Von Camaldoli aus war bei der Abendbeleuchtung nicht
deutlich wahrnehmbar, dass Procida und Ischia zwei getrennte
Körper seien, denn Procida mit seinen Anhöhen verdeckt die
Wasserenge, die es von Ischia absondert. Ischia selbst besitzt
Eine Ferienreise über den Apennin. 5 I Q
nicht ganz so schöne Kammlinien wie Capri, immerhin sind aber
seine Umrisse höchst gefällig, doch würde sein höchster Gipfel,
der Epomeo, zu dem es sich zuspitzt, obgleich er noch im Jahre
1302 thätig gewesen war, gewiss nicht an seiner Gestalt allein als
unzweifelhaft vulkanisch erkannt werden. Rechts von Ischia, also
gegen Westen und am Meereshorizont verloren, tauchen noch
duftig die ponzischen Inseln auf, von denen zwei deutlicher, eine
dritte nur schwierig zu erkennen war. Hinter ihnen hätte die
Sonne sinken und sie als dunkle scharfe Gestalten auf der Abend-
glorie erscheinen lassen sollen. Am westlichen Horizont lagerte
aber eine spinnenwebfarbige Dunstbank, und als die Sonne hinter
diesen Schleier trat, ermattete auch der lebhafte Glanz der Land-
schaft. Hatten wir aber auch jenes namenlos holde Stück Erd-
boden nicht in seiner höchsten Verklärung , erwärmt durch das
scheidende Licht, gesehen, so hatten wir doch hinreichend befrie-
digendes genossen, um von der freundlichen Abgeschiedenheit des
Klostergartens heiter erregt, fast ausgelassen, den Rückweg an-
zutreten.
Ueber solche Bilder und Schönheiten vergisst man völlig alle
sonstigen Widerwärtigkeiten, man gesteht sich etwas schöneres
nicht gesehen zu haben, man fragt sich sogar, ob es noch über-
boten werden könne. Ganz ähnlich wirkt ein zweiter Aussichts-
punkt in der Nähe von Neapel, an dem aber die meisten Tou-
risten vorübereilen. Beim Besuch der Grotten von Curaä, der
Grotte der Sibylle am Averno See, sowie der sogenannten Bäder
des Nero und Bajas, bringen die Führer oder die Vetturini ihre
Miethherren bis zu der abgesperrten Seefläche des Mar Morto,
zeigen ihnen die Felsen des Vorgebirges Miseno und kehren dann
mit ihnen um. Reichlich lohnt es sich aber, möchte selbst die
Mittagssonne vielleicht lästig zu werden drohen, auf das Vor-
gebirge selbst hinaufzusteigen, das in drei Viertelstunden sich er-
reichen läs.st. Dort oben steil über der See am äussersten Hörn
des Golfes von Bajä, ist die Rundsicht unbeschränkt. Neapel
entzieht sich zwar hinter dem Posilip dem Beschauer gänzlich,
nicht einmal Portici ist sichtbar, wohl aber die andern Vesuv-
stääte: Resina, Torre del Greco und Torre del Annunziata,
ausserdem aber befindet man sich Pozzuoli gegenüber und hat
Bajä mit seinen römischen Tempelruinen gerade unter sich. Vor
Camaldoli besitzt das Cap den Vorzug, dass man sich auf ihm
520
Ferienreisen.
den beiden Inseln Procida und Ischia am meisten zu nähern ver-
mag, und nun deutlich wahrnimmt, dass beide durch einen Mee-
resarm von einander abgesondert werden.
III.
(Ausland 1869. Nr. 27. 3. Juli.)
Vielleicht erinnert sich ein günstig gesinnter Leser dieser
Wochenschrift, dass der Verfasser im Jahr 1865 eine Ferienreise
nach dem Mittelmeer geschildert hat. Damals lag ihm daran,
die beiden in Südeuropa verbreiteten Palmenarten im Freien
wachsen zu sehen. Diessmal betrachtete er es als höchste Auf-
gabe über vulkanischen Boden zu wandeln. Den Vesuv zu be-
steigen, in die Krater des Albanergebirges zu schauen, vom
Montenuovo sowie von der Solfatara ein lebendiges Bild heimzu-
bringen, endlich womöglich den Finger in die Bohrlöcher der
Miessmuscheln an den Säulen des Serapistempels zu legen, waren
für ihn Dinge, die gewissenhaft erledigt werden mussten, und zur
Bestürzung von Kunst- und Alterthumsschwärmern hatte er im
Scherz geäussert, Rom werde er nur als eine Eisenbahnstation auf
der Reise nach Neapel betrachten. Aus dem Scherze wurde aber
Ernst, denn als er von Florenz aus mit dem Nachtzuge die ewige
Stadt um neun Uhr Morgens just an einem der drei grossen Tage
erreichte, an denen der Papst dem versammelten Volke seinen
Segen spendet, obgleich von der Bahn aus sichtbar war, dass
vom Lateran eine Fahne bedeutungsvoll wehte, ja dass schon ein
Segeltuch über der Loggia ausgespannt war, von der aus die feier-
liche Spende zu erfolgen pflegt, sollte Rom vorläufig doch nur
eine Raststelle zum Frühstücken bleiben. Sehr viele ziehen es
vor, fremde Städte an Tagen ungewöhnlicher Aufregung zu be-
treten. Ob sie klug handeln, lässt sich bestreiten, und wir möch-
ten nur hinzufügen, dass ein hochgeschätzter, in Rom seit 20
Jahren weilender deutscher Künstler uns ermahnte , wir möchten
allen Landsleuten dringend abrathen, die ewige Stadt gerade um
die Osterfeste zu besuchen, eben wegen des jährlich unerträglicher
werdenden Zusammenströmens von Fremden, welche zu jener Zeit
völlig die ruhige und wahre Physiognomie der Stadt verändern.
Eine Ferienreise über den Apennin. ^21
Unsere Besteigung des Vesuvs wurde von Resina aus um
7 Uhr Morgens begonnen. Der oft geschilderte Weg führt zuerst
aufwärts zwischen Weinbergen , hinter deren Mauern die Reben
mit den Christusthränen wachsen, endlich ins Freie über den Lava-
strom des Jahres 1858, dessen Breite und Mächtigkeit alle Er-
wartungen überstieg. Aeltere wie jüngere Ströme und Bäche, die
nördlicher aus dem Atrio del cavallo herabflossen, haben sich mit
dem obigen Erguss später vereinigt, so dass zwischen ihnen ein-
geschlossen als grünende Insel nur ein schmaler noch ^ erschonter
Höhenrücken aufragt, dessen Tage aber gezählt sind, wenn sich
der Vesuv nicht wieder eines bessern besinnt, wie in den Jahr-
hunderten seiner Erstarrung vor dem Jahr 79 unserer Zeitrechnung.
Auf jener bedrohten Oase mitten zwischen den Laven Hegt
das Observatorium, dessen gefälUger Hüter die Beobachtungsjour-
nale führt, und den einsprechenden Besuchern eine völlig fass-
liche Beschreibung der aufgestellten Instrumente gewährt. Er
führt uns zunächst in einen untern Raum , um uns zu zeigen,
dass der scheinbar beruhigte Berg noch immer leise aufathmet.
Diese Bewegung wird auf dreierlei Wegen zur Wahrnehmung ge-
bracht. An einem Tisch in der Mitte des Zimmers befinden sich
drei Fernrohre, die nach drei entfernten Instrumenten speichen-
artig gerichtet sind. Das erste ist ein wagrecht schwebender
Magnet oder eine Compassnadel , wenn diess deutlicher klingen
sollte. Das zweite ist eine Magnetnadel, die sich in senkrechter
Ebene bewegt (Inclinationsnadel) , das dritte ist eine frei schwe-
bende Stahlnadel, die durch zwei Magnete von gleich abgewogenen
Kräften in einer beabsichtigten Richtung festgehalten werden soll.
Durch Spiegel wird das Bild der Nadelspitzen, die sich vor einer
Scala von sehr feinen Theilstrichen befinden, in die Fernrohre ge-
worfen, und durch diese gewahren wir, dass jene Spitzen bestän-
dig, jedoch gleichmässig , etwa mit der Geschwindigkeit eines Se-
cundenpendels oder noch ruhiger um einen mittleren Theilstrich
hin- und herschwanken. Wird ihre Bewegung heftiger und tritt
namentUch eine starke Ablenkung der nicht magnetischen Nadel
ein, so telegraphirt der Hüter nach Neapel an Prof. Palmieri —
denselben Palmieri, der die Bulletins über das Betragen des Vesuvs
zu verfassen pflegt — und dieser eilt herbei in der sichern Er-
wartung grösserer Dinge. Vom Erdgeschoss besteigen wir den
Thurm, in dessen höchstem Zimmer die Erdbebenbeschreiber auf-
522
Ferienreisen.
gestellt sind'). Die äusserst einfachen und eben desswegen sinn-
reichen, oder, wie man auch zu sagen pflegt, eleganten Werkzeuge
sind eine italienische Erfindung. Als sinnliche Wesen sind wir
Menschen für strenge Beobachtungen sehr untaugliche Geschöpfe.
Wir sehen, hören und fühlen nicht scharf genug, ja was noch viel
schlimmer ist, wir täuschen uns nur zu gern über unsere Wahr-
nehmungen. So ständen wir höheren Aufgaben hoffnungslos
gegenüber, wenn wir uns nicht von Vorrichtungen vertreten lassen
könnten , die wir selbst erdacht und zusammengesetzt haben , die
also unsere eigenen Geschöpfe sind. Mit Hülfe unserer Instru-
mente nöthigen wir bildlich , ja bisweilen buchstäblich der Natur
einen Griffel auf, um ihr Thun und Treiben eigenhändig aufzu-
zeichnen. So soll uns ein Erdstoss zunächst angeben, zu welcher
Zeit er einen Ort erreichte, dann aus welcher Richtung er kam»
und wie oft, sowie in welchen Zwischenräumen er sich wiederholte.
Ein Chronometer im Thurm des Observatoriums ist daher mit
einem elektrischen Apparat derartig verbunden worden , dass jede
merkliche Erschütterung des Gebäudes die elektrische Strömung
in Thätigkeit setzt, von der wieder im nämhchen Moment die
Uhr zum Stehen gebracht wird. Eine andere elektrische Vor-
richtung erstreckt ihre Herrschaft auf eine Bleifeder, und nöthigt
sie, so oft ein Stoss erfolgt, auf einem vor ihr abrollenden
Papierstreifen einen Punkt zu hinterlassen. Die Geschwindigkeit
des Abrollens wird durch ein Uhrwerk in genauem Gang erhalten,
so dass die Abstände der Punkte auf dem Papierstreifen die Zeit-
zwischenräume von einem Stoss zum nächsten berechnen lassen.
Ferner wird die Richtung, von welcher der Stoss gekommen war,
von zwei andern unparteiischen Beobachtern aufgezeichnet. Man
denke sich eine tellerförmige Vertiefung und am Rande des Tellers
wieder nach sechszehn Himmelsrichtungen sechszehn kleine Näpf-
chen ausgehöhlt. Füllen wir nun den Teller bis zum Rande mit
Quecksilber, so jedoch, dass die Näpfchen gerade noch leer bleiben,
so wird jede noch so leichte seithche Erschütterung das Queck-
silber zum Ueberfliessen in das oder in diejenigen Näpfchen
zwingen , die in der Richtung angebracht sind , von welcher der
Stoss kam. War er also ein wagerechter, so vermögen wir aus
i) Vergl. dazu die Beschreibung des Seismographen in Algier. Ausland
'867. S. 355-
Eine Ferienreise über den Apennin. 523
der Füllung der Näpfchen genau zu sagen, er kam aus dieser oder
jener Himmelsgegend. Die Erdstösse erfolgen aber nicht immer
wagrecht, sondern sie kommen bisweilen auch senkrecht aus der
Tiefe. Für solche Aeusserungen ist wieder ein anderer Beobachter
aufgestellt. Wir haben einen kleinen Galgen aus Messing vor uns.
Vom Galgen hängt ein Metalldraht herab , der , nach unten zu
federartig in elastische Spiralen gewunden , einen kleinen magne-
tischen Bolzen trägt, unter dem ein Näpfchen mit Eisenstaub steht.
Der geringste Stoss von unten her hat ein Nachgeben der Draht-
feder zur Folge. Der Bolzen wird in das Näpfchen tauchen , die
Eisenspäne bei seiner Annäherung an sich ziehen und diese so
lange festhalten, bis der herzueilende Hüter sie wieder abwischt.
Sammler wollen wir noch benachrichtigen, dass sie im Observa-
torium die meisten der geschätzten Mineralien der Somma käuflich
erwerben können. An der Somma befinden sich ^;^ Mineralspecies,
am Vesuv nur vier. Es kann auch nicht wohl anders sein, denn
die Somma ist die Mutter, aus deren Schooss der heutige Vesuv
erwachsen ist. Der Vesuv, erst 1790 Jahre alt, ist aber noch viel
zu jung, als dass sich schon durch Umbildungen aus seinen Bau-
stoffen mannigfaltige Gesteinsarten hätten ausscheiden können.
Vom Observatorium tragen uns die Rosse in zehn Minuten
fast auf ebenem Saumpfade in das Atrio del Cavallo. So heisst
bekanntlich das Thal, welches zwischen dem heutigen Vesuv und
dem Kamm des ehemaligen Somma- Kraters sich erstreckt, und
durch welches alle Lavaströme abfliessen müssen , die aus dem
nördlichen oder dem östlichen Quadranten des thätigen Vulkans
hervorbrechen. Die Wände jenes alten Feuerschlundes stürzen
jäh vor uns ab, und ihre schroffen Vorsprünge wie die Zacken im
Walle gewähren prachtvolle Umrisse. An dem Punkte , wo wir
absitzen, harren Träger mit einer Bahre für schwache Bergsteiger,
aber heute harren sie vergeblich, denn eine Dame und ein Herr,
die mit uns von Resina abgeritten waren, kehren abgeschreckt
um, ohne die Besteigung zu versuchen, wir aber vertrauten unsem
eigenen Kräften. Die Pferde haben uns bis zu einer Höhe von
etwa 2200 Fuss gebracht und der Rand des Vesuvkraters liegt
noch mehr als 1500 Fuss über uns. Ohne Biegung führt der
Pfad stracks aufwärts über Schlacken , die ein sicheres Auftreten
meist verstatten. Nur an seltenen Stellen artet das Steigen in ein
Klettern aus oder rutscht der Fuss an abgelösten Brocken zurück.
524
Ferienreisen.
Ausser dem Führer und einem Verkäufer von Lebensmitteln folgen
uns anfangs zwei, später nur ein freiwilliger Begleiter. Sie erbieten
sich an Schlingen, in die wir die Hand legen sollen, uns den
Abhang hinauf zu ziehen. Der Führer ermahnt uns, ihre Dienste
nicht zu verschmähen. Wenigstens für die Signora, so predigt er
unaufhörlich, sollte ein solcher Mann gemiethet werden, zumal er
nur drei Franken verlange. ,,Herr", setzte er hinzu, „die Dame
könnte krank werden, sie könnte ihrer Gesundheit schaden und
Sie möchten es für das ganze Leben bereuen." Der Ermahnte
kannte jedoch die Signora etwas genauer, er war mit ihr schon
ein Dutzendmal in den Alpen gewandert bis zum und über den
Firn, und zwar bisweilen zehn Stunden im Tag, so dass die heu-
tige Aufgabe fast ruhmlos erschien. Als die Bettelei immer lästiger
wurde, bemerkt er dem Führer: ,,Noch ein Wort und es ist um
die Bottiglia (Trinkgeld) geschehen." Schwieg der Bedrohte seit-
dem standhaft, so begann jetzt der übrig gebliebene Helfer das-
selbe Lied. Endlich, als zwei Drittel des Abhanges unter uns
lagen, gab ihm der Verfasser zu bedenken, dass er besser thäte,
seine Schuhe zu schonen, da er das Fruchtlose seiner Bemühungen
jetzt doch einsehen müsse. Wirklich nahm er auch Abschied und
wünschte uns treuherzig eine glückUche Reise. Nach Ablauf von
etwas mehr als einer Stunde hatten wir das erreicht., was wir von
unten für den Rand des Kegelschlundes hielten, um einmal einen
trefflichen Ausdruck Goethe's statt des herkömmlichen Fremd-
wortes zu gebrauchen. Der Krater selbst iwar indessen noch
keineswegs erstiegen, sondern nur ein Stufenabsatz, auf dem sich
erst der Aschenkegel erhob. Zum Schutze gegen den Wind beim
Niedersitzen stehen dort drei niedere Mauern aufgerichtet und die
Führer versuchen fast stets, zur Abkürzung ihrer Anstrengungen,
den Fremden vorzuspiegeln, dass die Besteigung des Aschenkegels
mit Gefahren verbunden sei, zumal man dort die Dampfwolken,
welche der Krater ausstösst, dicht über sich hat. Der Träger der
Lebensmittel hätte gern das gewissenlose Kunstmittel angewendet,
doch war der Führer verständig genug, mit den Worten: Non
hanno paura (die lassen sich nicht abschrecken) unnützen Erör-
terungen vorzubeugen. Die Besteigung des Aschenkegels ermüdet
sehr stark, weil man in dem losen Schutt immer- bis über die
Knöchel einsinkt. Wie rasch man hinaufkommt, hängt hauptsäch-
lich von dem eigenen Körpergewicht ab, und wenn hinzugesetzt
Eine Ferienreise über den Apennin. 525
wird, dass der Verfasser in zehn Minuten oben war, so darf be-
ruhigt daraus geschlossen werden , dass er für Besteigung von
Aschenkegeln von der Natur sehr begünstigt worden sei.
Hart am Rande des Kraters, der nach innen zu, soweit er
uns sichtbar wurde, schroff hinunter fiel, setzten wir uns in die
weiche Asche nieder, die so warm war, dass durch handbreites
Einscharren Eier nach zwei Minuten schon bis zum Gerinnen
ihres Weissen gebracht werden konnten. Das Reiten und Steigen
hatte die Esslust geschärft, und noch jetzt erinnert sich der Er-
zähler mit Nachgenuss, wie treffhch ihm jenes einfache Frühstück
sammt dem süssen goldenen Vesuvwein, den der Verkäufer für
Christusthränen ausgab, geschmeckt habe. Hart hinter unserm
Rücken wirbelten die weissen Dämpfe auf, und da es ziemlich
kalt war, hätten wir ihre Wärme gern willkommen geheissen, wenn
nicht zugleich ein scharfer Geruch von Chlorgas und der widerliche
von Schwefelverbindungen uns dabei lästig gewesen wäre. Der
Krater selbst blieb uns verhüllt, denn der aufwirbelnde Dampf
war so dicht, dass er schon auf fünf Schritt alles verbarg. Nur
hin und wieder wurden vor uns die Abhänge gelüftet und waren
dann bis auf 40 Fuss Tiefe entblösst, jäh sich senkend, tief aus-
gefurcht, und dabei citron- bis Chromgelb gefärbt von angeblühtem
Schwefel. Auf dieses Schauspiel hätte der Verfasser aber gern
verzichtet, wenn dafür der Krater sichtbar gewesen wäre, denn
viel leichter stellt man sich einen leeren Krater mit Dampf erfüllt
vor, als einen dampferfüllten leer.
Unterrichtend war daher unsere Besteigung des Vesuvs nur
insofern, als jetzt die angeschaute Wirklichkeit an die Stelle der
Bilder trat. Uebrigens zieht weit mehr die Somma, als der Vesuv
die Blicke der Fachmänner auf sich. Die Somma ist aber von
den Gelehrten Neapels so gründlich erforscht worden, dass selbst
Sir Charles Lyell bei seinem letzten Verweilen nichts besseres
thun konnte, als sich der Führerschaft eines Guiscardi völlig zu
überlassen. Bekanntlich gehört die Somma zu den Trümmern von
Feuerbergen, die Leop, v. Buch als Erhebungskrater unterschieden
wissen wollte von den Auswurfskratern. Der Bildung vieler Feuer-
berge, so meinte er, sei zunächst eine Aufblähung der Erdschich-
ten vorausgegangen, bis zuletzt die domförmige Wölbung an ihrer
Kuppel von den Gasen aufgesprengt wurde und ein Theil der
Decke „in die hohle Achse der Erhebung" hinabstürzte. Nicht
526
Ferienreisen.
bloss auf Erden hätte sich die Entstehung auf diese Weise zuge-
tragen, sondern die Ringberge oder Bergringe an der Oberfläche
des Mondes sollten durch ihren Bau den gleichen Hergang bezeu-
gen. Schon vor mehr als dreissig Jahren widerlegte aus seinen
Beobachtungen auf den Canarien Sir Charles Lyell diese Anschau-
ung, indem er die sogenannten Erhebungskrater genau so wie die
Auswurfskrater durch abwechselndes Ueberfliessen von Lava und
Aufschütten von Schlacken und Asche entstehen hess. Sir Charles,
unter den jetzigen Geologen pontifex maximus und Begründer der
gegenwärtig herrschenden Schule , erhielt von allen Fachmännern
unter allen Himmelsstrichen die Bestätigung dieser Sätze , und nur
in Deutschland wie in Frankreich wollen sich vereinzelte wissen,
schaftliche Grössen von der alten Lehre nicht gänzlich lossagen.
Zu diesen gehört auch, oder gehörte wenigstens noch im Jahr 1858,
ein deutscher Geolog , der ein mit Recht sehr hochgeschätztes
Lehrbuch verfasst hat , worin er noch einmal versucht , die Ver-
muthung unseres Leopold v. Buch zu retten. Es Hess sich von
vornherein vermuthen, wenn es nicht der Augenschein ergäbe, dass
das Gerüst oder der Kegelschlund unter dem glühenden Herd
eines Vulkans viele Erschütterungen erleiden, und dass sich Risse
oder Klüfte in seinen Wänden bilden müssen. Solche Risse
werden bei alten vielfach erschütterten Feuerbergen sehr zahlreich
auftreten, allein die meisten von ihnen erscheinen so wenig mächtig
im Vergleich zum Krater selbst, dass sie, von weitem gesehen,
etwa sich mit den Sprüngen in einer Mauer vergleichen lassen.
Die Sprünge blieben jedoch nie unausgefüUt, sondern zwischen
ihren Wänden stiegen geschmolzene Felsarten aus dem Feuerherd
empor, bis sie am äussern Abhang irgend einen Ausweg erreichten,
um als Lavabäche ins Freie durchzubrechen. Erreichten sie einen
Ausweg nicht, so erstarrten sie zwischen den Klüften und bildeten
dann das , was die Bergleute und Geologen einen Gang nennen.
Diese Gänge verbreiten sich strahlenförmig von der Mitte des
Schlundes durch den Kratermantel und sind verglichen worden
mit den sternförmigen Sprüngen (dtoilement) einer Fensterscheibe
oder einer Eisdecke. Sowohl senkrecht von unten nach oben, als
auch vom innern Mittelpunkt nach dem Umfang des aufgehäuften
Kraters verlieren sie an Mächtigkeit und endigen wie zugeschärfte
Klingen. Wenn man sich daher diese Gangausfüllung aus der
Somma mit einem Ruck sämmtlich herausgezogen dächte , so
Eine Ferienreise über den Apennin. 527
müsste der Berg um einen gewissen Betrag einsinken und seine
aufgerichteten Schichten würden nur noch einen sanften Abhang
bilden können. Die Aufrichtung wäre demnach wesentlich nur
durch das Eintreiben jener keilförmigen Gangausfüllungen bewirkt
worden.
Ueber diese von Lyell bestrittene Ansicht hoffte nun der
Verfasser auf dem Vesuv selbst zur Klarheit zu gelangen. Scharf
und deutlich lagen ihm die inneren Abstürze des Somma-Kraters
gegenüber , ebenso liessen sich etliche der senkrecht aufsteigenden
Gänge, jedoch nur die mächtigeren darunter, erkennen, denn die
vielen dünnen mussten bei der grossen Entfernung verschwinden ^).
Die wenigen sichtbaren jedoch erweckten durchaus nicht den Ein-
druck, als käme ihnen an der Aufrichtung der Schichten irgend
ein merkliches Verdienst zu. Nicht die Somma allein, auch der
junge Vesuv zeigt schon ausgefüllte Spalten, und zwar waren
deren 1828 im Innern des Kraters sieben sichtbar, von denen
Lyell jedoch nur drei wahrnehmen konnte. Diese Gänge zu be-
trachten, war der Wunsch und die Absicht des Verfassers gewesen,
aber bei der Ausfüllung des Kraters mit Wasserdämpfen musste
dieser Zweck der Vesuvbesteigung als gänzlich verfehlt betrachtet
werden. Uebrigens bedarf es kaum des Sehens , um sich sagen
zu können , dass eine so geringe Anzahl von Gängen schwerlich
die Aufrichtung des Kegels erheblich gefördert haben könne, und
da wir vom Vesuv wissen, dass er aufgeschüttet worden sei,
warum wollen wir von der Somma annehmen, sie müsse durch
Gangausfüllungen emporgetrieben worden sein?
Was die Aussicht vom Kraterrande betrifft, so enthält sich
der Verfasser eines Urtheiles, denn die Luft war nicht rein, sondern
Wolkenmassen verhüllten bald den einen , bald den andern Theil
des Golfes , so dass nur stückweise seine Schönheiten aufgerollt
wurden. Jedenfalls wird demjenigen , der auf dem Vesuv steht,
i) Der Abstand der Somma vom heutigen Trichterrand des Vesuv beträgt
nicht ganz zwei Kilometer, aber gewiss V* deutsche Meile. Goethe's Bericht
von seiner Vesuvbesteigung ist daher ganz unverständlich, denn er verbirgt sich
unter einem vorspringenden Felsen der Somma vor einem Stein- und Schlacken-
regen und eilt dann in zehn Minuten bis an den Rand des Vesuvkraters.
Offenbar ist das , was er als Somma bezeichnet , nicht das Gebirge , welches
alle Welt jetzt darunter versteht, während zu Strabo's und Plinius' Zeiten
wiederum die heutige Somma Vesuvius hiess.
528
Ferienreisen.
dieser selbst zum Vordergrunde und fehlt also dem Fernblick.
Als Vordergrund aber bietet er nur ein Gemälde unerfreulicher
Verwüstung, daher als Aussichtspunkt der Vesuv nur denen em-
pfohlen werden sollte, welche alle besser gewählten Standorte schon
besucht haben. Nach Bädekers Reisehandbuch (engl. Ausgabe
von 1867) sollte man vom Gipfel in einem Aschenfelde wieder
nach dem Atrio hinabgelangen können , allein der jüngste Lava-
Erguss vom Jahre 1868 hat dieses Aschenfeld abgeschnitten, und
zum Atrio hinab könnte man jetzt nur gelangen, wenn man am
rauhen Schlackenkegel abwärts kletterte, was gewiss nicht rathsam
ist, weil man sich leicht eine Beschädigung am Fusse zuziehen
könnte, die grösste Widerwärtigkeit, die gerade einen Reisenden
betreffen kann. Wir gingen daher in einem andern Aschenfelde
am Hnken Ufer des Lavastromes vom Jahre 1858 abwärts. Es
geschieht diess fast so geschwind, wie im Gebirge an Schneeab-
hängen , nur sinkt man bei jedem Schritt weit über die Knöchel
in die lockere und erwärmte Asche, die in Wolken aufstiebt, durch
die Kleider eindringt und sich auf der Haut festsetzt. Mitten in
diesem Aschenfelde gelangten wir zu einem vulkanischen Trichter,
der sich wenige Monate zuvor gebildet hatte. Ein kegelförmiger
Schlund von höchstens drei Klafter Breite senkte sich jäh vor
uns, nach Versicherung des Führers 40 — 50 Fuss tief, eine An-
gabe, die wir jedoch nicht zu bestätigen vermochten, da weiter
unten der aufwirbelnde Dampf alles unsern BUcken verbarg.
Der Vesuv ist nicht die einzige vulcanische Merkwürdigkeit
in der Nähe Neapels, sondern ihm gegenüber liegt auf Ischia der
Epomeo, der zu den thätigen Feuerbergen gezählt werden muss,
da sein letzter Auswurf 1302 erfolgte. Noch auf dem Festlande
westlich vom Vesuv und nordöstlich vom Epomeo lagert ferner
eine ganze Brüderschaft kleiner Kegelschlünde auf den bekannten
phlegräischen Feldern, denn dort haben sich die Ausbrüche in
kleinen Versuchen zersplittert, anstatt etwas Grosses aufzurichten,
wie Vesuv oder Epomeo. Der Weg zu ihnen führt am südwest-
lichen Ende der Stadt Neapel durch die „Grotte" des Posilip.
Die italienische Sprache hat für alle Hohlräume in Gebirgen
künstlichen oder natürlichen Ursprungs nur das Wort grotta. Es
ist daher gedankenlos und führt jeden Leser in die Irre, wenn
wir im Deutschen nicht je nach den F^rfordernissen mit den Aus-
drücken wechseln. Unter Grotte verstehen wir eine Bergaus-
Eine Ferienreise über den Apennin, 520
höhlung, in die das Tageslicht noch bequem hereinschaut, unter
Höhle einen leeren Raum in Bergmassen , in den nur wenig oder
gar kein Licht eindringt. Wollte man selbst diesen Unterschied
nicht gelten lassen und Grotte wie Höhle als gleichbedeutend ge-
brauchen , so wird doch sicherlich ein künstlich angelegter Gang
durch Erdschichten oder Gestein , wenn er senkrecht führt , ein
Schacht, wenn er wagrecht verläuft, ein Stollen bei den Bergbauten,
bei Eisenbannen aber ein Tunnel genannt. Wenn also Leser von
den Grotten Cumä's, des Posilip, des Sejan und der Sibylle hören,
so hätte es statt dessen: Tunnel des Posilip, Tunnel der Sibylle,
Tunnel von Cumä u. s. w. heissen sollen. Der Tunnel des Posilip
ist ein kilometerlanger Bergdurchstich, der von Neapel nach Poz-
zuoli führt. Er wird mit Gas erleuchtet, ist so breit, dass zwei
Wagen sich bequem ausweichen können, am Eingang 80 Fuss
hoch, im Innern allmählich niedriger werdend bis zu 20 Fuss.
Ganz ähnlich verhält sich der Tunnel von Cumä und der sibyl-
linische Tunnel , welche letztere jedoch mit Fackelbeleuchtung be-
treten werden müssen, weil ihr Boden nicht mehr geebnet erhalten
wird. In früheren Zeiten muss der Tunnel des Posilip als Leistung
menschlicher Arbeit jedem Besucher Bewunderung abgerungen
haben, jetzt sind wir völlig verwöhnt von unsern grossartigen zehn-
mal längern Durchstichen, und erst wenn wir uns bewusst werden-
dass jene alterthümlichen Aushöhlungen von den Römern ohne
Anwendung von Pulver nur mit dem Meissel und nur durch Feuer
setzen zum Mürbemachen des Gesteißs ausgetrieben worden sind,
können wir wieder in Staunen gerathen. Es müssen übrigens
damals die phlegräischen Gefilde eine dichtere Bevölkerung ernährt
haben als gegenwärtig, dass so viele Durchstiche für ihre Bedürf-
nisse erforderhch waren, denn heutigen Tages würden die Nea-
politaner gewiss den Posihp unversehrt lassen, um ihren Verkehr
mit den Bewohnern ,,vor der Grotte" oder Pozzuoli's zu erleichtern.
Auf dem Wege von dem letzteren Orte nach der Solfatara
treten wir rechts in einen geräumigen bewohnten Hof und stehen
unvermuthet auf dem Raum des berühmten Serapis - Tempels.
Sein schönstes Alterthum, nämlich die sitzende Jupiter - Serapis-
Statue, ist nach dem (weiland bourbonischen) Museum entführt
worden, sonst ist nichts weiter sichtbar als mehrere umgeworfene,
sowie drei aufrechte Marmorsäulen und sonstige andere Bautrümmer.
Ursprünglich erhob sich dort ein Heiligthum, dessen viereckiges
Peschel, Abhandlungen. II. 34
^30 Ferienreisen.
Dach von 24 Säulen aus Granit und 22 aus Marmor getragen
wurde. Eine aufgefundene Inschrift bezeugt uns , dass das Ge-
bäude schon im Jahr 105 v. Chr. stand und dem Dienste des
Serapis geweiht war. Die Sockel der Säulen sind gegenwärtig
nicht völlig in gleicher Ebene mit der Flur des Hofes, doch hat
man den Boden rings um sie her ausgegraben, wodurch jedoch
das Meerwasser durch Seitendruck an ihren Fuss gelangt ist. Als
der Tempel gegründet wurde, muss dagegen der Baugrund immer-
hin höher als der Seespiegel gelegen haben. Die Kaiser Septimius
und Alexander Severus beschenkten den Tempel mit kostbaren
Marmorarbeiten noch bis zum Jahre 235 n. Chr. Nach dieser
Zeit aber senkte sich der Boden sammt dem Tempel, und die
Säulen wurden gleichzeitig eingehüllt von Schutt und vulkanischer
Asche bis zu einem Drittel ihrer Höhe über dem Sockel, während
das nächste Stück des Schaftes noch unter den Seespiegel gerathen
war. Um jene Zeit nämhch, zwischen dem 3. und 16. Jahrhundert,
standen die Säulen 12 Fuss im Schutt, während die See diesen
Schutt noch um neun Fuss überragte , so dass , wenn man die
Höhe der Sockel einrechnet, der Boden um mehr als 23 Fuss sich
gesenkt haben musste. Die untere Einhüllung durch Schutt be-
zeugten die Ausgrabungen, die erst im vorigen Jahrhundert statt-
fanden, dass aber die Säulen von einer 9 Fuss tiefen Schicht
Seewasser umgeben gewesen waren, verkündigt ein Gürtel von
Bohrlöchern, der allen drei Säulen gemeinsam ist und der zwischen
14 und 23 Fuss über dem jetzigen Wasserstand liegt. Diese
Löcher sind von Muscheln (Mytilus lithophagus Linne) gebohrt
worden, deren Gehäuse noch jetzt vollständig vorhanden wären,
wenn nicht gewissenlose Besucher die meisten als Merkwürdigkeiten
geraubt hätten. Dass Reste ehemaliger Bauwerke unter das Meer
sinken, dass andere, die am Meer standen, gehoben werden, ge-
hört nicht zu den Seltenheiten, aber unschätzbar sind die Serapis-
säulen und ihre Spuren desswegen, weil sie uns ein Sinken und
nach dem Sinken wieder ein Steigen nachzuweisen , und zugleich
genau die Zeit anzugeben erlauben , in welcher die letztere Be-
wegung sich vollzog. Schon am Beginn des 16, Jahrhunderts,
erhellt aus alten Urkunden, gewann um Pozzuoli herum das Land
wieder der See einigen Raum ab, eine beträchtliche und ziemUch
rasche Hebung trat jedoch erst am. 29. September 1538 ein, als
in der Nähe der Monte nuovo aus der Erde aufstieg, wie Banquo's
Eine Ferienreise über den Apennin. e^l
Geist im Macbeth. In der Zeit vom October 1822 bis zum Juli
1838 will man ein abermaliges Sinken des Serapis-Tempels um
7 Millimeter im Jahre wahrgenommen haben , doch haben andere
Beobachtungen gelehrt, dass seit 1852 diese Bewegung entweder
völlig stillsteht, oder nur in unmerklicher Weise fortdauere.
Vom Serapis-Tempel führt unser Weg den Abhang eines alten
Feuerberges aufwärts, und gegen Eintrittsgeld öffnet sich oben ein
Thor zur Besichtigung der Solfatara. Wir befinden uns in einem
alten Kraterring mit steil abfallenden Wällen, über deren Ränder
freundlicher Baumwuchs herunterblickt. Der Boden des Schlundes
ist völlig eben und mit Kraut und Buschwerk zum Theil bewachsen.
Dem Eingange quer gegenüber an der Kraterwand befindet sich
die Mündung des gesuchten Gasbrunnens. Um ihn herum ist der
Boden, ein weisser Sand , aufgegraben worden , damit der Zutritt
erleichtert werde, und wir nähern uns nun einer Oeflfnung des
Kraterwalles , die dem Schürraume eines grossen Ofens gleicht.
Aus dieser Höhlung zischen wei*e schwefelhaltige Dämpfe hervor,
die uns heiss entgegenhauchen. Das Gestein an den Wänden der
Oeffnung ist gelb und orangenroth angeflogen, und aus der Tiefe
des Ofens lassen wir uns gegen Trinkgeld ein hübsches Stück
rother Schwefelkrystalle hervorscharren. Solfataren, deren es auf
vulkanischen Strichen sehr viele giebt , nennt man alle Vulkane,
aus deren Wänden Schwefeldämpfe ausbrechen, und von denen
man daher vermuthet, dass ihre Friedfertigkeit nur ein trügerisches
Ausruhen bedeute. Von einem Ausbruch der Solfatara stammen
unter andern die Tuffe her, welche eine der Einhüllungsschichten
für die Säulen des Serapis-Tempels lieferten.
Eine halbe Wegstunde vom Serapistempel führt die Strasse
dem Meer entlang am Monte nuovo vorüber. Der Berg hat nichts
einladendes, und von unten gesehen möchte ein argloser Wanderer
vorüberziehen, ohne zu ahnen, welche Merkwürdigkeit er unbe-
achtet gelassen habe. Da der Berg am höchsten Rande nur 428
Fuss aufragt, so steigen wir bequem in zehn Minuten am sanften
Abhang über Schlacken und Asche, zwischen denen magere
Kräuter spriessen, bis zum Rand empor. Selbst für den Verfasser,
der sich völlig vorbereitet hatte, war der AnbHck überraschend.
Wir blickten hinab gleichsam in das Rohr eines verschütteten
Brunnens. Unter uns scheinen die Wände fast senkrecht, allent-
halben sonst sehr schräg abzufallen. Der Krater ist beinahe kreis-
34*
e T 2 Ferienreisen .
förmig, sein Boden aber, der nur 52 Fuss über dem nahen See-
spiegel liegt, erscheint völlig geebnet, ist in Felder abgetheilt, von
Ackerfurchen durchzogen und allenthalben angebaut. Könnten
wir den Monte nuovo in die norddeutsche Tiefebene versetzen,
er würde meilenweit als Merkzeichen dienen können. Nun wissen
wir aber, dass dieser Berg innerhalb 48 Stunden von i Uhr
Nachts am Sonntag 29. September 1538 bis Montag aufgeschüttet
wurde, nachdem an den beiden vorhergehenden Tagen die Poz-
zuolaner von Erdstössen beständig geängstigt worden waren. Am
dritten Tage konnte der beherzte Pietro Giacomo di Toledo bereits
auf den ,, Neuberg" hinauf und in den Krater hinabsteigen, wo er
noch Lava in einem Kessel kochen sah. An etlichen der nächsten
Tage warf der Schlund wieder einige Schlacken aus, jedoch ohne
die frühere Heftigkeit, und dann blieb alles ruhig und kalt bis auf
den heutigen Tag.
An den Kraterwällen des Monte nuovo sind keine Klüfte
wahrnehmbar, die durch aufsteigende Lavamassen gangartig aus-
gefüllt wären , auf ihn passt also nicht die verfeinerte Lehre von
der Aufrichtung alter Vulkane zu sogenannten Erhebungskratern.
Dennoch hatte Leopold v. Buch auch den Monte nuovo zu den-
jenigen Bergen gezählt, die durch ein blatternartiges Aufschwellen
des Erdbodens und spätem Einsturz im Gipfel der Erhebung,
also nicht durch einfaches Aufschütten um einen Auswurfsschlund
entstanden sein sollten. Glücklicherweise haben wir Mittel, diesen
Irrthum zu widerlegen, denn der italienische Geolog Scacchi hat
daran erinnert, dass hart am Fusse des Monte nuovo ein Tempel
des Apoll sich befindet, dessen Mauerreste noch genau im Lothe
stehen. Wären also die Erdschichten durch die Spannung ein-
geschlossener Dämpfe blasenartig emporgetrieben worden, so hätten
gewiss die Mauern umfallen müssen, während durch Aufschüttung
eines Berges in der Nähe sie gar keine Störung zu erleiden
brauchten. Wäre endlich der Monte nuovo nichts anderes als
eine aufgesprengte Erdblatter, so müssten seine Wände sternförmig
zerrissen sein, wir selbst konnten uns aber überzeugen, und jeder,
der noch hinaufgestiegen ist, hat sich überzeugt, dass die Wälle
des Kraters fest zusammenschliessen.
Was wir hier sagen, kann übrigens ein jeder in dem neuesten
Werke von Sir Charles Lyell (Principles, I, 612. loth ed. London
1867) noch viel ausführUcher dargestellt finden. Wenn jedoch
Eine Ferienreise über den Apennin. e •? •j
dieser treffliche Lehrer an einer andern Stelle behauptet, dass
gerade während der Bildung des Monte nuovo der nahe Serapis-
Tempel sammt seinen Schlammbetten um mehr als 20 Fuss wieder
emporgelüftet worden sei und auch seine Säulen jetzt noch senk-
recht stehen, welchen Werth kann dann für uns der Umstand be-
sitzen, dass auch die Mauern des Apollo-Tempels am Fusse des
Monte nuovo nicht umsanken. Die Zeugen vom Jahre 1538 sagen
übereinstimmend, dass bis Pozzuoli die See an manchen Stellen
viele hundert Fuss „zurücktrat". Die See freilich, das wissen wir
besser als die es zu sehen meinten, tritt nie zurück, wohl aber hebt
sich das Land aus der See empor und hob mit sich den Serapis-
Tempel, aber doch so sanft und gleichmässig, dass die monolithen
Säulen und ihre Sockel so senkrecht blieben, wie zur Zeit ihrer
Aufstellung. Mithin hätte also doch eine Erhebung der angrän-
zenden Gebiete stattgefunden , wenn auch keine Aufblähung , wie
Leopold v. Buch den Hergang sich vorstellte.
IV.
(Ausland 1869. Nr. 29. 17, Juli.)
Es giebt vielleicht auf dem ganzen Erdkreise keine anspruchs-
vollere und schwerer zu befriedigende Sorte von Reisenden, als die
Bewohner Süddeutschlands, und zwar steigert sich ihre Ungenügsam-
keit , je näher sie den Gränzen der Heimath wohnen. Dazu ge-
sellt sich noch der Umstand , dass sie für ihr Gebahren eine ge-
wisse Berechtigung beanspruchen. In einem halben Tag, behaup-
ten sie, befinden wir uns mitten im bayerischen Alpengebirg, oder
in Tirol, oder schwimmen bereits über schweizerische Seen. Bei
günstigem Zustande der Luft vermögen wir von unsern Fenstern
schon eine blaue Kette mit schneeleuchtenden Gipfeln zu be-
grüssen , die unsere Kinder schon in der Jugend zu benennen
lernen. Wird der genügsame Bewohner des flachen Nordens
schon befriedigt, wenn ^ er in Sicht der ersten deutschen Höhen-
schwellen geräth, so wollen die südlichen dagegen den Ausdruck
Gebirge für alles das nicht gelten lassen, was nicht heranreicht
an die gewaltigen Kämme der mittleren Ketten, denn alles andere
Erfreuliche heisst in ihrer Sprache nur Vorberge. Grau oder
534
Ferienreisen.
lehmig, immer in verdriesslichen Farben, rinnen fast alle deutschen
Flüsse in die Nordsee. Im Süden dagegen , wenn die Schnee-
schmelzen überstanden sind, eilen die hastigen Gebirgsflüsse grün
oder blaugrün durch die Ebenen, oder durch liebliche Schluchten
im rothen Sandstein. Mit den Anpreisungen von bewegten oder
stürzenden Wassern kann man gegenüber diesen Leuten nicht
Mass genug halten, am schlimmsten aber fahren die Italiener in
dieser Beziehung. Sie stehen andächtig vor ihren kleinen, zahmen,
springenden Bächen, die durch lange Wasserleitungen irgend einer
ihrer Magnaten miglienweit zur Belebung seines Parkes herbei-
gezogen hat, und die ihm, so flüstert irgend ein Cicerone, wöchent-
lich Tausende von Franken kosten. Mit ironischem Bedauern
betrachtet dann der Wanderer aus Hochdeutschland die bezahlte
kümmerliche Gartenzierde, und seine Gedanken heben ihn im
Flug hinweg zu dem urkräftigsten Wassersturz seiner" Heimath.
Es donnern die Felsen, es dröhnt das Thal von dem niederstür-
zenden Gewicht. In milchweissen Garben springt die zerschmet-
terte Masse empört wieder von unten auf, unsäglich schön durch
den Ausdruck ihres Zürnens. Zu beiden Seiten der Schlucht
lauschen als schweigende Zeugen die geschlossenen Tannenwälder.
Im Hintergrund aber starren aus Schneefeldern die steinernen
Zacken der Tauernkette. Oben steht alles eingehüllt in den blen-
denden Winter, dessen kühler Hauch das Thal herabweht, wo die
Wiesen ihr buntes Sommerkleid tragen. Nichts ist vernehmbar,
als der Donner des Alpenwassers , nichts stört die Einsamkeit als
ein gefiederter Räuber, der in den Lüften seine Kreise zieht.
Mindestens so etwas, meint der verwöhnte Wanderer, womög-
lich etwas besseres, sollte ihm die Fremde bieten. Er weiss, dass
jene Welt, die er seine Berge nennt, nicht bloss schön ist beim
Sonnenschein, bei aufqualmenden Nebeln, bei herannickenden
Hochgewittern , beim geheimnissvollen Mondlicht, sondern dass
ihr zu allen Zeiten neben der Schönheit nie der Ausdruck des Er-
habenen mangelt. Er weiss aus eigener oder doch aus fremder Er-
fahrung, dass mit den Alpen nicht die Pyrenäen, nicht einmal Nor-
wegen, geschweige die schottischen Hochlande sich messen dürfen.
Zu jener schwer befriedigten Sorte von Wanderern zählt sich der
Verfasser, und wenn die italienischen und südfranzösischen Gestade
an Reiz und Lieblichkeit die Alpen sehr oft aufwiegen, die See
auch beständig gross und ergreifend wirkt, so ist doch keinesweges
Eine Ferienreise über den Apennin, t -^ e
alles, was man diesseits oder jenseits des Apennin uns preist, be-
friedigend oder nur sehenswürdig zu nennen. Besonders ärgerlich
aber ist uns eine Classe von touristischen Schriftstellern, die mit
der Mundfertigkeit von Handelsreisenden uns die fremden Natur-
reize aufzunöthigen suchen. Ihnen zufolge müsste unter anderm
die blaue ,, Grotte" der Insel Capri ins Feenreich gehören. Alle
Gemälde dieser Höhle , die dem Verfasser noch vorgekommen
sind, sündigen durch verwegene Uebertreibung der Räume, wie
ihrer Färbung. Vielleicht, denkt mancher im Stillen, habe es dem
Ungenügsamen an dem Wetter gefehlt. Der Himmel hätte aber
nicht wohl klarer sein, die Sonne nicht heller scheinen können, als
während seines Besuches. Oder der strenge Herr, tröstet sich ein
anderer, war nicht zur günstigen Tageszeit in der Höhle. Freilich
war es 2 Uhr Nachmittags, der Dampfer aber, der von Neapel
abgeht und die Touristen vor der Höhle absetzt, pflegt dort
Morgens nach 10 Uhr zu halten. Nun war jedoch am Morgen
des nämlichen Tages ein anderer deutscher Wanderer mit dem
Dampfer abgefahren, war zwischen 10 und 11 Uhr in der Höhle
gewesen und beklagte sich nicht minder niedergeschlagen, dass er
etwas staunenswerthes nicht gesehen habe, tröstete sich jedoch,
dass er vielleicht seine Zwecke erreicht haben möchte, wenn er
Nachmittags die Wunderhöhle besucht hätte. Als sich gegenüber
einem deutschen Halb - NeapoHtaner der Verfasser über den
„Schwindel" beschwerte, der mit der ,, blauen" Höhle getrieben
werde, betheuerte der Biedermann , dass daran nur die Jahreszeit
schuld sei. ,,Im Mai dürfe man nicht die Fahrt unternehmen,
der Himmel sei ja noch gar nicht wie er sein solle , erst im Juli
werde er völlig dunkelblau." Ueber italienische Lufttöne im hohen
Sommer will der Verfasser nicht urtheilen, da er sie nicht kennt,
dass sie aber nichts mit der Beleuchtung der Höhle zu schaffen
haben, ergiebt sich aus einfachen optischen Gründen. Der Ein"
gang zur sogenannten Grotte nämlich ist ein kurzer Tunnel von
kaum 3 Fuss lichter Höhe. Nussschalenartige Kähne, die den
Fremden erwarten, vermögen allein sich einen Durchgang zu er-
zwingen, auch muss sich der Besucher in das Boot niederlegen
während der Durchfahrt, die bei rauher See, wo die Wogen den
Zugang verschliessen , sich gar nicht ausführen lässt. Innen an-
gekommen, umfängt ihn eine kleine Kuppel, die sich bis zu etwa
40 Fuss wölbt. Da die Höhle bei einer Breite von 100 Fuss auf
536
Ferienreisen.
165 Fuss in das Gebirge sich erstreckt, so gleicht sie daher in
ihren Grössenverhältnissen einem unserer massigen öffentlichen
Tanzsäle, erscheint aber wegen der geringen Beleuchtung viel
enger, und der erste Eindruck ist daher eine verdriessliche Ent-
täuschung, denn nach den Gemälden, die man zuvor gesehen
hatte, musste man sich die Höhle weit geräumiger vorstellen. Das
Tageslicht bricht blendend weiss durch die kleine Oeffnung herein,
in deren Nähe denn auch die Felsen hell beleuchtet erscheinen.
Der Eingang reicht aber auch weit unter das Wasser hinab,
welches 8 Faden (48 Fuss) Tiefe besitzt. Duich diesen untersee-
ischen Spalt wird nun das klare Seewasser, dessen Farbe aus einem
smaltblau mit einem kleinen Schatten von Neutraltinte besteht,
ebenfalls leuchtend, und wirft nun das durchgegangene Licht gegen
die Felsen , denen sie jedoch nur in der Nähe des Eingangs bis
etwa zur Mitte der Höhle eine schwache schmutzig graublaue
Färbung verleiht. Die Gemälde also , welche die Steinwände der
Höhle ultramarinblau verklären , gehören in das Reich der Dich-
tung. Schön ist nur das flüssige Licht des Seewassers, aber wer
solche Farbenspiele liebt, der wird sich mehr Befriedigung holen,
wenn er den Giessbach bei bengahschem Feuer oder einen der
Brunnen ansieht , die mit elektrischem Lichte durch bunte Gläser
von oben beleuchtet werden. Der wahre Genuss beim Besuch
der ,, blauen" Höhle besteht also nur in der Ueberfahrt nach Capri
und in dem Anblick des Golfes von Neapel.
Ganz andere Erfahrungen erfreuten den Ferienreisenden bei
einem Ausflug in die Umgebungen Roms. Als er sie zum ersten-
mal sah, geschah es an einem hellen Morgen, aber bei wässeriger
Luft, so dass alle Umrisse dunstig und verwaschen erschienen,
und überhaupt nichts von dem Farbenzauber der römischen Steppe
oder von den ,,Tiriten der Campagna", wie man sich auszudrücken
liebt, wahrzunehmen war. Von der ewigen Stadt selbst ist übrigens
wenig von der Eisenbahn zu sehen , denn diese hält sich auf
der Steppe, welche vom Meer aus sich sanft bis zum Fusse der
nächsten Berggruppen erhebt. Der Tiber dagegen hat das lockere
Erdreich tief ausgewaschen , und die sogenannten sieben Hügel
sind nichts als die einzelnen schwach gegliederten Vorsprünge der
Hochebene , an deren Abhängen in den Thalkessel die heutige
Stadt hinabgestiegen ist , so dass sie sich grösstentheils dem Beo-
Eine Ferienreise über den Apennin. c^j
bachter entzieht, der sich nicht hinreichend nähert, um vom Ab-
sturz der Hochebene in die Thalervveiterung hinabzuschauen.
An einem tadellosen Maimorgen fuhren wir um 6 Uhr vom
Corso ab. In mehreren Strassen waren Leute geschäftig, gelben
Sand über das Pflaster auszubreiten. Diess geschieht aus Vorsicht,
damit kein Pferd stürze, so oft der Papst aufs Land sich begiebt,
und zwar hörten wir auf Befragen, dass die damalige Abfahrt auf
sieben Uhr angesetzt und Castel Gandolfo ihr Ziel sei. Wirklich
nahmen wir auch sogleich wahr, dass die neue Via Appia bis nach
Albano mit berittenen Carabinieri bevölkert war, die sich auf
Kilometerlänge in kleineren und grösseren Posten aufgestellt hatten.
Der Kirchenstaat ernährt gegenwärtig 5000 Mann Carabinieri oder
Gendarmen, so dass es im Patrimonium Petri an Ueberwachung
nirgends fehlt. An jeder noch so kleinen Eisenbahnstation sieht
man diese schützenden Engel aufgestellt , und in Rom wandeln
sie immer zu viert beim Dunkelwerden langsam die Strassen auf
und nieder. Für die Sicherheit von Leben und Eigenthum scheint
ihnen wenig Zeit übrig zu bleiben, da Strassenräuber vor nicht
geraumer Zeit sogar am Nemi-See sich zeigen durften. Die neue
Via Appia läuft in Bogenwindungen neben der alten schnurgeraden
Römerstrasse her und hebt sich merklich bei der Annäherung an
das Albanergebirge. Dieses Gebirge ist aus der Ebene wie ein
Stück Mondoberfläche herausgewachsen. Es bildet nämlich im
Grunde nur einen gewaltigen vulkanischen Ring, aus dem wieder
ein zweiter engerer Ring, der Monte Cavo, sich erhoben hat. An
dem Aussenabhang dieses alten Vulkans nach der See zu sind
zwei andere Krater eingesprengt worden, die wir jetzt den Albaner-
und den Nemi-See nennen. Je höher wir nun an den Abhängen
dieser vulkanischen Familiengruppe aufwärts gelangen, desto besser
überblicken wir rechts die Steppe und jenseits der Steppe das
Meer. Hinter Albano wird die Strasse von einer geräumigen
Schlucht mit reicher Belaubung gekreuzt. Ein Viaduct , an dem
sich ein jeder vor der Eisenbahnzeit als an einem Bauwunder
ergötzt hätte, der uns aber jetzt nicht lange zu fesseln vermag,
führt hinüber nach dem Städtchen Arriccia, welches wir durcheilen,
um von dort nach Genzano zu gelangen. Auf eine Eintrittskarte
öffnete sich uns daselbst der Garten der Familie Cesarini, welcher
sich vom Rande des Kraters am Abhang hinunter bis zum Nemi-
See erstreckt. Der Nemi-See soll wie der Albaner-See unter die
538
Ferienreisen.
sogenannten Maare gehören, denn er bildet eine regelmässige napf-
förmige Einsenkung in die vulkanischen Schichten des Monte
Cavo , und soll nach den Ansichten einer älteren geologischen
Schule wie die kreisrunden Seen der Eifel, die jedoch in geschich-
teten krystallinischen Felsarten liegen , durch |eine Explosion wie
eine Trichtermine entstanden sein. Wohin die höchst beträcht-
lichen Stoffe, die der Sprengschuss emporgeworfen haben müsste,
gekommen seien , darüber schauen wir uns vergeblich nach Be-
lehrung um. Eben so suchen wir mit Eifer, aber ohne Glück,
nach den gepriesenen Reizen des Nemi-Sees. Sein Spiegel ist
nahezu kreisrund , sein Wasser freundlich grün , die Wände des
eingesenkten Napfes sind bis zum Wasserspiegel hinab mehr oder
weniger bewachsen , uns gegenüber aber am Rande des Kraters
liegt der kleine Ort Nemi, eng zusammengerückt, einsam zwischen
Wald und Wald. Links von dem Ort erhebt sich als grüner
kahler Abhang der Krater des Monte Cavo, einförmig wie alle
vulkanischen Erhebungen und als Hintergrund der Aussicht wenig
ansprechend. Eine besondere Ueppigkeit des Pflanzenwuchses
vermochten wir beim redlichsten Willen nicht zu entdecken, viel-
leicht weil die Erinnerungen an Sorrent und Amalfi noch zu frisch
waren. Einstimmig erklärten wir daher die bayerischen Seen
zweiten und dritten Ranges für weit malerischer, als dieses einför-
mige Bild eines Kraters.
Ein abwechselnd schattiger Weg führte uns nach Albano
zurück, wo wir im Parke der Villa Torlonia die Mittagsstunden
verbrachten. Von den Gartenmauern schaut man hinüber nach
einem Hügel, wo mittelalterliche Ruinen auf der Stätte des alten
Lanuvium liegen, und weit über die Steppe hinweg nach dem
Strande, wo ein paar Gebäude als Porto d'Anzo uns genannt
werden. Links in grosser Ferne steht einsam aufgerichtet das Gap
Circe, und dahinter, noch duftiger und blauer, treten die Berge
von Gaeta an das Meer heran. Da die Küste ziemlich glatt und
ungegliedert verläuft, so ist die Aussicht ausserordentlich einförmig
und der würdigste Gegenstand ist die gewölbte blaue See, die
aber wie abgekehrt und von jedem freundlichen Segel verlassen
erscheint. Wenige Tage zuvor schwebte dort auf der Höhe ein
Geschwader mit der nationalen Tricolore vorüber, und gewiss
würden sich die 5000 Gendarmen um die weltliche Herrschaft
verdient gemacht haben , wenn sie eine lebendige Wand gebildet
Eine Ferienreise über den Apennin. e^n
hätten, damit die Römer nicht die verpönten Farben gewahr ge-
worden wären.
Herabgestimmt in unsern Erwartungen von den Schönheiten
des Albanergebirges , wendeten wir uns des Nachmittags nach
Castel Gandolfo, wo alles in den päpstHchen Farben flaggte. Der
Ort ist nicht ohne Reize, hart über dem Albaner-See gelegen.
Dieser letztere ist eine eirunde Kratersenkung, zwar kahler und
flacher als der Nemi-See, aber dbch viel anziehender und mannich-
faltiger, auch fesselt jetzt am Monte Cavo in einer Lücke des
Kraterringes auf luftiger Höhe das graue Städtchen Rocca di
Papa längere Zeit die Blicke. Von Castel Gandolfo wird der Weg
immer schattiger, und wir überschreiten eine malerische Schlucht
mit einem Gewässer und Brücke, an deren Abhang der Flecken
Marino hinaufgemauert worden ist. Endlich gelangen wir zwischen
zwei Mauern , über welche die hohen Wipfel zweier Parke ihre
Schatten werfen, nach Frascati. lieber der Stadt erhebt sich am
Abhang des Belvedere ein ehemahger Landsitz der Aldobrandini,
mit statthchem Garten, der Familie Borghese angehörig, deren
Villa bei Rom wir schon bewundert, und deren reiche Gallerie im
Stadtpalast auf der nächsten Tagesordnung stand.
Bis dahin hatte uns der Ausflug nichts sonderliches einge-
tragen , denn wenn auch dem Berichterstatter die vulkanischen
Gerüste des Albaner - Gebirges mit den beiden Krater-Seen , sowie
die Peperinschichten , zwischen denen die durchzogene Strasse
vielfach sich hindurchwindet. Neues und Sehenswürdiges genug
geboten hatten, so waren seinen Begleitern dagegen Peperin und
Explosionskrater nicht viel mehr als Hekuba dem Schauspieler im
Hamlet. Sie hatten sich landschaftliche Genüsse hohen Ranges
als Ersatz für einen verlorenen Tag in der Stadt der Christenheit
versprochen, und das bisher Genossene wäre ihnen allen gern
feil gewesen für einen Spaziergang von Heidelberg nach Neckar-
steinach. Beim Heraustreten auf die Terrasse des Belvedere war
jedoch alles vergessen. Zunächst schaut man hinab auf Frascati
selbst, und alle italienischen Orte sind fast ausnahmslos, wenn
auch nicht nach unsern Begriffen zum Bewohntwerden, doch zum
Gezeichnetwerden vorzüglich gebaut. Schon an der Etsch, eine
kleine Strecke unterhalb Botzen, ändert sich die Bauart vollständig.
Der Unterschied beruht zunächst darauf, dass bei dem einzelnen
Hause wenig Holzwerk verwendet wird. Die hohen Giebel, die
540
Ferienreisen,
aussen sichtbaren Stiegen, die Gallerien und vorspringenden Dächer,
das Niedrige und Breite der deutschen Gebäude fällt weg, und
vergeblich suchen wir nach den scharfgespitzten Kirchthürmen,
die uns hinter vorliegendem Wald- und Berggrund in der Heimath
das deutsche Dorf schon verrathen, wenn es noch nicht sichtbar
ist. Der Italiener wählt überall kahle Anhöhen , oder wohl gar
die Gipfel von Bergen, oder die Abstürze kleiner Hochlande, um
ihnen eine Mauerkrone aufzusetzen. Haus wächst neben Haus zu
zwei oder drei Stockwerken auf, und über die untere schaut eine
zweite und dritte Häuserreihe hinweg, bis zuletzt die Akropolis
fertig ist. Kein Raum geht verloren , kein Fenster versteckt sich
hinter Gärten oder hinter Gruppen kuppeltragender Laubbäume.
Der Unterschied zwischen Dorf und Stadt verschwindet daher in
Italien gänzlich , denn alle dortigen Dörfer erscheinen wie kleine
Städte. Unsere Kirchthurmspitzen werden durch weniger bemerk-
bare, gemauerte Glockenthürme ersetzt, die uns jedoch ein freund-
liches Geläute vermissen lassen, denn in Italien werden die Glocken
geschlagen, nicht gezogen, und Rom mit seinen angeblichen 365
Kirchen ist im Vergleich zu mancher glockenseligen Stadt des
lieben Vaterlandes , welche die Morgenstunde mit den ehernen
Zungen aus allen Winkeln begrüsst, eine auffallend stille Stadt.
Einen veränderten Anstrich bewirken auch die flacheren Dach-
stühle, die freiHch nicht im Winter eine schwere Schneedecke zu
tragen haben, wie die unsrigen. Erst bei Neapel stösst man auf
Häuser mit sogenannten ebenen Dächern, oder richtiger mit Ge-
bäuden ohne Dachstuhl. An diesen Anblick muss sich das Auge
längere Zeit gewöhnen, denn anfangs meinen wir immer, unwirth-
liche Brandstätten von Gebäuden vor uns zu haben. Bei dem
Zusammenrücken der Bauern und Pächter in enge Ortschaften
fehlen der Ackerflur die ausgestreuten Gehöfte , und dieser Um-
stand kann streckenweise uns in die Täuschung versetzen, als ob
das flache Land ganz unbewohnt wäre, zumal an solchen Tagen,
wo keine Arbeiten auf dem Felde verrichtet werden. Damit hängt
vielleicht zusammen, dass in Italien länger als anderwärts der
gewerbsmässige Strassenraub sich erhalten konnte, denn zwischen
Ort und Ort herrscht meist Einsamkeit , und da obendrein fast
alle Strassen zur Rechten und zur Linken Mauern haben, die bei
einem Anfall dem Wanderer jede Flucht abschneiden, so verführt
die Gelegenheit zu dem bequemen Verbrechen. Uebrigens hört
Eine Ferienreise über den Apennin. C41
man in neuester Zeit nichts mehr von Strassenraub , selbst an
verrufenen Strecken wurde von einer mögUchen Gefahr nirgends
etwas gesprochen.
Begeben wir uns wieder auf die Terrasse der Villa Aldobran-
dini zurück, so haben wir also unter uns zur Rechten das an-
ziehende Frascati, zur Linken den Park der Villa Torlonia mit
seinen dunkelnden Massen immergrünen Laubes. Drüber hinaus
aber wird von der späten Sonne die gelbgrüne Campagna warm
beleuchtet und von mächtigen Schattenflecken durchzogen, die
wir , getäuscht , für Waldgruppen hielten , während es nur die
schattenwerfenden Wände vieler Erdeinsenkungen waren. In weiter
Ferne verkünden die Bogen der verschiedenen noch vollständigen
oder lückenhaften, oder bis auf wenige Reste zerstörten Wasser-
leitungen uns das alte Rom der Kaiserpracht. Von der christ-
lichen Stadt ist dagegen wenig sichtbar, mit Ausnahme der Peters-
kuppel, deren Herrschergrösse immer mehr wächst, je weiter man
sich von ihr entfernt. Am Saume der Steppe ist noch das Meer
als dünner Streifen sichtbar, jedoch ohne einen sonderlichen Ein-
druck zu erregen. Zu dem freundlichen Grün der Steppe erhebt
sich als Hintergrund nicht etwa ein Gebirge, sondern eine Anzahl
selbstständiger Berggruppen. So sind hinter Rom die Höhen bei
Civitavecchia , sowie die Berge sichtbar , wo der Orvieto wächst
Weiter nach Norden , in gemessenem Abstand über die Niede-
rungen, ragt der Rücken des Soracte , auf den jedoch heute die
berühmte Strophe des Horaz nicht passt, denn nicht in blendenden
Schnee, sondern in sommerUches Blau gekleidet steht er vor uns.
Auf den Soracte folgt dann weiter rechts aus dem nördlichen
Hintergrunde heranziehend das Sabinergebirge , unter dessen
Kammlinien als scharf gezeichneter Gipfel der Monte Genaro immer
und immer wieder als das Kleinod des Bildes unsere Blicke an
sich zieht. Der sabinische Apennin stösst keineswegs mit dem
selbstständigen Albaner-Gebirge zusammen, sondern golfartig drängt
sich die Steppe zwischen uns und ihm nach Osten hinein.
Da, wo sich die Sabiner-Kette am meisten nähert, schimmert
vom Höhenrand eines Abhanges Tivoli hell und viel versprechend
aus der Ferne. Vergnügt gestehen wir uns, dass dieser Blick, so
völlig neu und sich nur selbst gleich, uns für alles entschädige,
was wir in Rom versäumt haben möchten. Ohne Schatten, ohne
Wälder strahlt die Steppe allen aufgesaugten Glanz zurück. Fast
542
Ferienreisen.
durchsichtig erscheint darüber das Blau der Fernen , und doch
fehlt nirgends eine klare Begränzung aller Umrisse. Vor allen
Dingen aber ist es der Reichthum an nahen und fernen abge-
sondert aufsteigenden Berggruppen, oder wie man vor zwanzig
Jahren in Berlin zu sagen pflegte, ,,die Individualisirung der senk-
rechten Gliederung", welche dem Bild eine ganz unvergleichliche
Wirkung giebt, und dankbar bekennen wir, dass die Campagna
recht wohl verdient, gefeiert zu werden von allen Herzen, die bei
landwirthschaftlichen Schönheiten sich stürmischer regen. Fügen
wir noch hinzu, dass jene Individualisirung auch entscheidend ge-
wesen ist für die geschichthche Grösse der Stadt in ihren ersten
Anfängen , denn nach und nach musste ihr wohl als der Beherr-
scherin des flachen Landes von jenen kleinen Sonderherrschaften
in den Bergen eine nach der andern anheimfallen.
Wir reissen uns übrigens von dem Bilde los, denn es ist die
höchste Zeit, nach Hause zu eilen, da die Sonne ihren Tagesbogen
bald vollendet haben wird. Je länger sie ihre Höhe vermindert,
desto mehr erhöht die römische Landschaft ihre Schönheit. Das
Albaner-Gebirge, vorher als Standort für uns nicht sichtbar, löst
sich jetzt, wo wir uns von ihm entfernen, schwärzlicher und satter
gefärbt streng von dem Hintergrund ab, an dem Sabiner-Gebirge
werden die blauen Schatten immer frischer und glänzender, vor
allem aber umleuchtet uns die Steppe in hellem Olivengrün. Sie
erscheint ganz leer und unbewohnt, und unsere Strasse bleibt ohne
belebte Staffage. Frascati mit seinen Villen rückt uns immer ferner,
aber Tivoli schimmert noch immer blendend weiss am blauen
Abhang. Rechts vom Wege, weit draussen in der Steppe, steht
oasenartig eine edle Gruppe von Pinien mit schwärzlichen Schirni-
dächern. Die Sonne sinkt immer tiefer und wir treiben zur Eile,
denn wir wollen , bevor das Licht scheidet , noch hinter eine der
Wasserleitungen gelangen. Schon an einem früheren Abend, nach
dem Besuch der Katakomben, hatten wir bei einem etwas mangel-
haften Sonnenuntergänge bemerkt, wie viel die Steppe gewinnt,
wenn man sich zum Vordergrund eine Wasserleitung wählt.
Pfeiler und Bogen sind nämlich von gelblich braunen, schmalen
Backsteinen prächtig aufgemauert, und wenn die scheidende
Sonne diese Farben noch erwärmt, dann wirken die blauen Lichter
über und unter den Bogen des Mauerwerkes mit gesteigertem
Glanz. Und wirklich geschah es auch diessmal so, wie wir es
Eine Ferienreise über den Apennin, e^^
erwartet hatten. Alles strahlte in Farbenpracht, wie wir sie daheim
vergeblich suchen würden. Alles Mauerwerk im nächsten Vorder-
grund warf schon blaue Schatten , im hellen Goldgrün lag die
Steppe ausgespannt, und dahinter prangten in namenlosem Blau
die Berge. So konnten wir denn heimkehren mit der Beruhigung,
dass wir die „Tinten der Campagna" gesehen hatten , wenn sie
auch bei herbstlichen Lichtern noch viel kräftigere Stufen zeigen
mögen.
Nachtrag.
I.
Zu der Abhandlung „Ueber den Mann im Monde" sind nach
vollendetem Druck derselben noch folgende Notizen von Peschels
eigener Hand gefunden worden. Sie mögen nachträglich hier ihre
Stelle finden :
Lubbock , Prehistoric. times 2d ed. London 1869 p. 190:
Der Hase wurde von den alten Briten und noch jetzt nicht von
den Lappen gegessen. — Nach Burton (First Footsteps p. 155)
vermeiden ihn die Somali und nach Schlegel enthielten sich seiner
die alten Chinesen. — Hassencamp, Globus 1873. Bd. XXIII.
Nr. 9. S. 139: Ein Mädchen, das bei Mondschein gesponnen
hat, wurde hinaufgezogen und spinnt jetzt die Herbstfäden (nach
deutschen Sagen). — Die Adschibwas sagen: Der Mond beisse
denen die Finger ab, die nach ihm zeigen. — Humboldt, Monu-
mens fol. 159: In der alten chinesischen x'Vstrologie wird im
Monde ein Hase auf den Hinterfüssen dargestellt, der in einem
Geschirr mit einem baton umrührt, als mache er Butter. — Dr.
R. Hassencamp, Globus Bd. XXIII. Nr. 7. 1873. Febr. S. 109:
Mondflecken seien Maria Magdalena und ihre Thränen, nach mit-
telalterlicher Sage. — Buddhisten auf Ceylon berichten, ein Hase
sei freiwillig in das Feuer gesprungen, um sich dem hungernden
Buddha als Braten zum Präsent zu machen; aus Dankbarkeit ver-
setzte ihn Buddha in den Mond. — Die Khasias sagen: Der
Mond entbrenne in Liebe zur Schwiegermutter der Sonne, die
ihm dann Asche ins Gesicht werfe, daher die Flecken. Taylor,
Anfänge I. 349. — Die Fanten, von einer Halbblutsrace in Nor-
wegen, kennen die Sage von dem kämpfenden Monde und dem
Siege desselben, behaupten aber, es seien nur Adam und Eva,
Nachtrag. t ac
deren Bilder man im Monde sehe. Globus 1874. Bd. XXVI.
S. 185. — Ansichten buddhistischer Kalmüken: Mond a globe
of crystal filled with water inhabited by luminous Tingheri (Ge-
nien) ; the Spots are de shadows of the different marine animals
in the universal ocean. — Dr. Miklucho Maclay war unter den
Papuanen der Astrolabbucht. Sie hielten ihn für den Mann im
Monde (Käram tämo) und verehrten ihn standesmässig. Nature
Vol. 9. Nr. 226. Febr. 26. 1874. p. 328.
A. d. H.
II.
In dem Artikel ,,Ueber die Aufgabe einer Geschichte der Geo-
graphie" (Bd. I. S. 250) heisst es: „Wir besitzen eine Geschichte
der Geographie von Loewenberg, die nichts gewährt, als eine
nicht einmal aus den Quellen geschöpfte Geschichte der Ent-
deckungen." — Der Herausgeber liess diese Aeusserung ohne
weitere Bemerkung, ist aber jetzt veranlasst, hier nachträglich eine
Stelle aus Peschels späterer strengen aber gerechten Besprechung
des Buches (Ausland 1867. S. 93) hervorzuheben. Sie lautet:
,, Löwenbergs Geschichte der Geographie, die zuerst 1839
und jetzt nach 27 Jahren in neuer Auflage erschienen ist, giebt
dem Begriff der Geographie seinen weitesten Umfang, d. h. sie
umfasst das ganze Gebiet der Länder- und Wasserkunde , und sie
beginnt ihren ersten Zeitraum „von Adam bis Herodot", sie ver-
spricht auch den mathematischen und physikalischen Theil zu be-
handeln , und reicht herab bis auf die neuesten Forschungen in
Afrika und Australien, sowie im amerikanischen Polarmeer. Der
Text umfasst nur 29 Bogen Kleinoctav, und der Verfasser findet
darin noch Raum zu weit gesponnenen Schilderungen der Aus-
breitung des Christenthums , des Islams und der Reformation,
Betrachtungen über Völkerwanderung , Entwickelung des Handels
und der Colonialpolitik , Entdeckung von Goldlagern mit Beigabe
statistischer Tabellen, ja sogar zu einer umfassenden Schilderung
des deutschen Touristenwesens im 17. Jahrhundert und anderen
Streifzügen auf das Gebiet der Cultur- und Sittengeschichte. Na-
türlich können dann die eigentlichen geographischen Begebenheiten
bloss flüchtig berührt oder vielmehr nur angedeutet werden. Wer
34**
546 Nachtrag.
rasch Namen und Thaten einer mehr als zweitausendjährigen Ge-
schichte der Wissenschaft vor sich wie die Bilder einer Zauber-
laterne vorüber ziehen lassen will, dem gewährt Löwenbergs Buch
«ohne allen anmasslichen Schein von Gelehrsamkeit eine leich
lesbare, lebensfrische, anschauliche Uebersicht der Entwickelung
der geographischen Disciplin», wie der Verfasser sein eigenes Werk
in der Vorrede kritisirt."
Ueber die Schilderungen von Humboldt und Ritter heisst es :
,,Weit besser ist die Darstellung Karl Ritters gelun-
gen, der dem Verfasser offenbar näher stand. Einige Belegstellen
aus den Schriften sind so glücklich gewählt, dass sie das Streben
dieses grossen Mannes vollständig vergegenwärtigen." ....
A d. H.
Pierer'sclie Hofbiiclulriickerei. Steph.in Geil)el & Co. in Alteiiburg.
4
I
D Peschel, Oscar Ferdinand
20 Abhandlunen zur Erd-
P4.7 und Völkerkunde
Bd,2
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
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